"Die Soldaten kamen am Sonntagmorgen"
Durch Siedlungsbau und Zerstörungen werden Grenzen verschoben
Von Nissrine Messaoudi, Jerusalem *
Ma'al Adumim, auf einem Hügel gelegen, ist die größte illegale Kolonie
im Westjordanland. Rund 40 000 jüdische Bürger leben hier. Obwohl der
Siedlungsblock mitten in der Wüste liegt, ist es rundum grün.
Sprenganlagen bewässern die Wiesen. Es gibt Swimmingpools, Countryclubs,
es ist ruhig. Wer hierher zieht, bekommt sogar Steuervergünstigungen.
»Ein idealer Ort, um Kinder aufzuziehen«, sagt Sarah Mechlowitz von
ICAHD (The Israeli Committee Against House Demolitions). Die israelische
Regierung mache es besonders jungen Familien sehr schmackhaft, hier zu
leben. Durch weitere Siedlungen versuche Israel, nach und nach mehr Land
zu annektieren. »Wenn US-Präsident Barack Obama sagt 'Ihr habt sechs
Monate Zeit, um den Siedlungsbau zu stoppen', heißt das in der Realität:
Ihr habt sechs Monate Zeit, um weiter zu bauen.«
Über Jahre habe Israel auf diese Weise Fakten geschaffen und die
Palästinensergebiete völlig fragmentiert. Durch den Bau, durch
Vertreibungen, durch Häuserzerstörungen wurden die Grenzen von 1967
»verschoben«, eine neue Wirklichkeit wurde geschaffen.
»Die Grüne Linie von '67 sieht nur 22 Prozent des Landes für
Palästinenser vor und 78 Prozent für Israelis. Das haben die Araber
akzeptiert, doch Israel will mehr«, meint Sarah. Die junge Amerikanerin
ist zum Studieren nach Israel gekommen. Die Bedingungen, unter denen die
Palästinenser leben, haben sie sehr berührt. Seit zwei Jahren arbeitet
die Jüdin deshalb ehrenamtlich beim Komitee gegen Häuserabriss, »um
politischen Widerstand zu unterstützen«.
Wir fahren zurück nach Ost-Jerusalem, zum Jabal Al-Mukaber. Auch hier
entstehen, im arabischen Teil der Stadt, neue jüdische Siedlungen. Auf
einem Hügel sieht man ein großes Werbeplakat mit der Aufschrift »Nof
Zion«, was so viel heißt wie Zionslandschaft. Daneben ein kleiner
Schriftzug: US-Investor. Auch hier blühen Blumen, obwohl die Landschaft
sehr trocken ist. Genau wie in Ma'al Adumim kommt das Wasser aus dem
Westjordanland. Den Palästinensern wird ihr eigenes Wasser verkauft. Sie
müssen dafür doppelt so viel zahlen wie ein Siedler. »Einem
Palästinenser stehen 67 Liter pro Tag zur Verfügung. Einem Siedler
hingegen 200 Liter«, weiß Sarah. Im Gegensatz zu den Siedlungen haben
alle arabischen Häuser schwarze Wassertanks auf den Dächern, da das
Wasser nicht reicht. »67 Liter sind zwar genug, um sich zu waschen, aber
um die Landwirtschaft in Gang zu halten, ist es einfach zu wenig.«
»Frieden und Menschenrechte bedeuten in Israel nicht viel«, sagt
ICAHD-Leiter Jeff Halper. Seit 1967 wurden rund 24 000
Palästinenserhäuser dem Erdboden gleichgemacht -- angeblich aus
Sicherheitsgründen. Allein in Ost-Jerusalem stehen noch 22 000
»Zerstörungsgenehmigungen« aus. Die Familien müssen täglich damit
rechnen, ihre Häuser zu verlieren, denn eine Vorwarnung gibt es nicht.
»Was hat die Zerstörung von Häusern eigentlich mit der Sicherheit
Israels zu tun?«, fragt Halper und zögert nicht lange mit der Antwort:
»Nichts!«
Genauso wenig treffe das Argument auf die »Mauer« zu. Der weißbärtige
Mann zeigt uns eine Karte der Sperranlagen und der Siedlungen. Darauf
wird die Fragmentierung der Palästinensergebiete tatsächlich sehr
deutlich. »Die Gebiete bestehen aus 70 kleinen, unzusammenhängenden
Enklaven. Das sind Bantustans. Das ähnelt mehr einem Schweizer Käse als
einem Staat«, kritisiert Halper, der mit Tränen kämpfen muss. Seine
Leidenschaft ist auch nach 15 Jahren Engagement nicht verflogen. »Es
kommt vor, dass wir ein Haus vier Mal aufbauen müssen, weil die
israelische Armee mit Bulldozern unsere Arbeit zunichte macht.« Einige
Familien halten dem Druck nicht stand und verzichten auf einen
Neuaufbau. In zwölf Jahren hat ICAHD mehr als 160 Häuser aufgebaut. Doch
täglich werden in Jerusalem ein bis zwei Häuser zerstört.
Obdachlos ist auch Maher Hanoun. Vor Monaten beraubte ihn die
israelische Armee seines Hauses in Sheich Jarrah. Nun »wohnt« er mit der
ganzen Familie auf dem Bürgersteig gegenüber seinem Haus, in dem jetzt
eine jüdische Familie lebt. Hanoun und seine Kinder wurden dort geboren.
Mit der Familie seines Bruders waren sie 17 in diesem Haus. »Die
Soldaten kamen am Sonntagmorgen. Sie haben die Fenster zerbrochen und
unsere Möbel mitgenommen. Sie haben uns 20 Minuten Zeit gegeben, um sie
von der Polizeistation abzuholen, das war aber so schnell nicht
möglich«, erzählt der 53-Jährige, der den Schlüssel seines Hauses noch
in der Hosentasche trägt. Eine halbe Stunde nach der Zwangsräumung sei
schon die jüdische Familie eingezogen.
Während wir mit Hanoun reden, zeigen sich zwei Jungen, um die 16 Jahre
alt, auf dem Dach des Hauses. Sie tragen Jeans, T-Shirt und eine Kippa --
die jüdische Kopfbedeckung. »Ihnen ist es egal, dass sie uns unser
Eigentum geklaut haben. Das zeigen sie uns immer wieder, während sie von
meinem Dach auf mich herabgucken.«
* Aus: Neues Deutschland, 17. September 2009
Bewohnte Grundstücke oder Kolonien?
Nach internationalem Recht illegal, siedelt Israel jüdische Bürger im
Westjordanland an
Von Peter Schäfer, Ramallah **
Mit dem Auto ist man vom Flughafen Tel Aviv über Modi'in in nur einer
Stunde in Jerusalem. Es ist eine schöne Fahrt, vorbei an malerischen
palästinensischen Kleinstädten und Orten neuerer Bauart. Die Straße ist
zweispurig, es herrscht kaum Verkehr. Der Ignorant lässt die Seele baumeln.
Die Verkehrsarmut hat einen unbeschaulichen Grund. Nur die jüdischen
Siedlungen links und rechts der Straße verfügen über Zufahrten. An den
palästinensischen Orten ziehen sich Leitplanke und Zaun durch. Mittels
eines Tunnels unter der breiten Straße gibt es seit zwei Jahren aber
eine Verbindung zwischen den palästinensischen Orten nördlich und
südlich. Wer schon mal einen Froschzaun gebaut hat, kennt das System.
Was man nicht sieht: Wie viel Land die Siedlungen einnehmen. Denn dies
reicht weit über die bebauten Grundstücke hinaus. Insgesamt kontrolliert
Israel durch jüdische Siedlungen, Industrie-, »Natur- schutz«- und
militärische Sperrgebiete über die Hälfte des Territoriums des
Westjordanlands. Und durch die eingezäunten Verbindungsstraßen wird das
palästinensische Gebiet zusätzlich zerstückelt.
Diese Kontrolle wuchs geplant. Zuerst, ab 1967, konzentrierte sich die
Siedlungstätigkeit auf den Jordangraben, um das Grenzgebiet zu Jordanien
einzunehmen. Danach wurde der Höhenzug inmitten des Westjordanlands
besiedelt. Und seit 1991 verwischt Siedlungsbau entlang der sogenannten
Grünen Linie die palästinensische Grenze zu Israel. Dabei sind von den
immensen Landressourcen der Siedlungen nur neun Prozent bebaut und
insgesamt nur zwölf Prozent genutzt.
Die israelische Organisation »Peace Now« fand heraus, dass neun von zehn
Siedlungen lieber Land nutzen, das ihnen nicht einmal nach israelischem
Recht gehört. Und Anfang 2009 stellte ein offizieller, zunächst geheimer
Bericht auch den israelischen Mythos der legalen Siedlungen in ein
anderes Licht. So sind etwa 75 Prozent aller von Israel anerkannten
Siedlungen ohne Baugenehmigung errichtet worden, »teilweise im großen
Stil«, schrieb die israelische Zeitung »Haaretz«, die den Geheimbericht
in die Hände bekam.
Dazu kommt, so der Bericht, dass in mehr als 30 teils sehr großen
Siedlungen -- zum Beispiel in Modi'in Illit mit mehr als 35 000
Einwohnern -- auf Land gebaut wurde, das sogar nach israelischem Recht
Palästinensern gehört. Man hat sich also nicht einmal um »legale«
Enteignungen oder Zwangsverkäufe bemüht.
Die Palästinenser sprechen aus diesem Grund nicht von »Siedlungen«,
sondern von »Kolonien«. Nach internationalem Recht illegal, siedelt
Israel jüdische Bürger im Westjordanland an. Der Bevölkerungszuwachs
hier (4,5 Prozent) ist dreimal so stark wie in Israel selbst. Die
Siedler genießen günstige Kredite und werden mit niedrigen
Grundstückspreisen gelockt. Kindergärten sind frei, der Transport zur
Schule ebenfalls. Investoren erhalten Subventionen, ebenso Lehrer und
Sozialarbeiter. Darüber hinaus genossen die Siedler bis 2003 einen
vergünstigten Einkommensteuersatz.
Ende 2008 lebten 479 000 Menschen in 133 »legalen« Siedlungen und in
etwa 100 weiteren, die Israel als »illegal« betrachtet, aber trotzdem
mit Strom, Wasser und Militärschutz ausstattet. Der von der israelischen
Regierung veranlasste »Sasson Report« ermittelte 2005, dass Millionen
aus öffentlichen Mitteln in die »legalen« und »illegalen« Siedlungen
umgeleitet wurden.
Tatsächlich sind die Siedlungsorte nicht das einzige Hindernis.
Palästinenser leben in einem dichten Netz israelischer
Kontrollmaßnahmen. Ohne israelische Mitarbeit kann die Palästinensische
Autonomiebehörde nicht einmal eine Geburtsurkunde ausstellen. Im
Großteil des Gebiets darf ohne israelische Genehmigung weder Haus noch
Brunnen gebaut oder die palästinensische Polizei aktiv werden. Und
palästinensische Straßen werden von über 600 Hindernissen unbrauchbar
gemacht, während sich die jüdischen Siedler daneben oder darüber
ungehindert bewegen.
Und nun verlangen US-Präsident Obama und die Europäische Union von
Israel einen »Siedlungsstopp«. Diese theoretische Forderung ist
allerdings so alt wie die Siedlungen selbst und interessierte bisher
noch keine israelische Regierung, egal, ob Arbeitspartei oder Likud an
der Spitze standen.
** Peter Schäfer leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Palästina.
Aus: Neues Deutschland, 17. September 2009
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