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Zwischen Mauern und Vorurteilen

Noch immer sehen sich die Siedler im Westjordanland als Pioniere - und von den palästinensischen Nachbarn bedroht

Von Martin Lejeune *

In einem Container in El Matan leben seit neun Jahren Yoel und seine Frau Rachely mit ihren fünf Kindern. Der Container ist 45 Quadratmeter groß und in zwei Räume aufgeteilt, die eine dünne Wand aus Plastik trennt. Wer so viele Jahre mit so wenig Komfort auskommt, handelt aus Überzeugung. El Matan liegt in direkter Nachbarschaft arabischer Hirten. »Mit denen muss ich mich morgens herumärgern, wenn ich meine Ziegen auf die Weide führe«, beschwert sich Yoel. »Sie kommen zu mir und schreien mich an: 'Geht weg hier, das ist nicht euer Land.' Dabei ist Samaria unser Land, das Land der Thora. Wir Juden haben nur dieses eine Land, die Moslems haben 22 Länder, in denen sie ihr Vieh hüten können.«

Yoels Eltern stammen aus der 1977 erbauten Siedlung Karnei Schomron, die in Sichtweite zu El Matan liegt. Yoel war der erste Bewohner El Matans. Nach und nach kamen weitere Menschen, die von dem Ort hörten. El Matan ist durch keine Zäune geschützt, auf keiner Karte verzeichnet, ohne gepflasterten Weg beinahe abgeschnittenen von der Außenwelt. Und doch zahlen die 16 Bewohner El Matans Wohnsteuer, die sie in regelmäßigen Abständen in der Gemeindeverwaltung von Maale Schomeron bar entrichten. Orit, eine 32-jährige Touristenführerin, die seit drei Jahren in El Matan lebt, zahlt für ihre 22 Quadratmeter pro Monat 55 Schekel (11 Euro). »Die Araber um uns herum zahlen nicht!«, regt sich Orit auf. In Maale Schomeron können El Matans Siedler auch Postfächer mieten und in einem kleinen Laden frische Brötchen zum Frühstück kaufen.

Marketing mit Siedler-Produkten

Doch Yoel, dem Avantgardisten der ersten Stunde, ist dieser Ort durch seine 16 Bewohner bereits zu überfüllt. Seit zwei Jahren baut er in Eigenregie einen Pfad, der von El Matan aus zwischen den Hügeln nach Norden Richtung Nablus führt, um mit seiner Herde, die aus 55 Ziegen besteht, weiterzuziehen. »Ich will mehr Ziegen kaufen und nur vom Verkauf des Käses leben. Zur Zeit muss ich leider noch in einer Gärtnerei in Tel-Aviv arbeiten«, klagt Yoel. Die große Stadt ist seine Sache nicht. Und so hofft er, mit mehr Vieh eine neue Siedlung fern von El Matan zu gründen.

Vor der Außenmauer von Yoels Container, auf der Höhe des Schlafzimmerbereiches, steht eine Zementmauer aus zwei dicken Blöcken als Kugelfang. Man möchte schließlich nicht während der Nacht durch die dünnen Containerwände von den Geschossen einer Gewehrsalve getroffen werden. In Maale Schomeron wurden bereits mehrere Siedler nachts erschossen. Weshalb setzt Yoel sich und seine Familie der Gefahr eines Überfalles aus? »Ich glaube an die Heilige Schrift und dass Gott uns dieses Land gegeben hat. Und hier gehören wir hin, auch wenn die Araber uns eine Menge Probleme verursachen und das Futter meiner Ziegen vergiften.«

Eine halbe Million bis 600 000 jüdische Siedler wohnen derzeit zwischen der Grünen Linie und dem Königreich Jordanien unter zweieinhalb Millionen Palästinensern. Die Zufahrten werden von israelischen Soldaten und die Einfahrten zu den größeren Siedlungen von privaten Sicherheitskräften kontrolliert. Die Straßen innerhalb der palästinensischen Gebiete, mit Ausnahme der palästinensischen Ortschaften, sind äußerlich nicht von denen innerhalb des international anerkannten Staatsgebietes Israels zu unterscheiden: die gleichen Verkehrsschilder, Bushaltestellen und Armeefahrzeuge.

Mit der Zeit haben sich einige große landwirtschaftliche Betriebe in den Tälern der Bergkette entwickelt, wie die Eierfarm Giwaot Olam bei Itamar, deren Hennen täglich um die 6500 Eier legen. Nur zwei der vier Großabnehmer deklarieren auf den Etiketten den Herkunftsort »Giwaot Olam«. Auf den anderen beiden Aufklebern findet sich außer »Israel« keine nähere Herkunftsbezeichnung. Der Grund für dieses Vorgehen liegt in unterschiedlichen Marketing-Strategien: Während eine Minderheit in Israel, aus politischen Gründen und nachhaltig animiert von Organisationen wie der Friedensbewegung Gusch Schalom, Erzeugnisse aus Siedlungen boykottiert, versuchen wiederum andere Israelis, mit dem gezielten Erwerb von Produkten aus den besetzten Gebieten die Betriebe der dortigen Siedler zu unterstützen.

In den landwirtschaftlichen Betrieben von Giwaot Olam arbeiten weder Araber noch ostasiatische Arbeitsimmigranten, egal wie beschwerlich oder schmutzig die Arbeit ist. »Wir halten unser Land rein«, sagt ein Bauer aus Giwaot Olam. »In unserer Gemeinschaft arbeiten Juden für Juden. Außerdem wäre es für uns viel zu gefährlich, Araber zu beschäftigen. Auch wenn sie schon zehn Jahre lang für dich gearbeitet haben, rammen sie dir eines Tages ein Messer in den Rücken«, behauptet er.

Sicherheitszäune mit Stacheldraht

Während die meisten Kibbutzim und Moschawim in Israel heute nur noch zum Schutz vor Diebstahl umzäunt sind, geschieht dies bei den jüdischen Siedlungen im Westjordanland zum »Personenschutz«. »Wenn Araber hierher kommen, dann tun sie das, um uns zu töten und nicht um uns zu bestehlen«, so der Rabbi Ariel aus Har Gidon bei Giwaot Olam. Ariel führt mich zu einem Sicherheitszaum aus Metall, der um Ittamar herum gebaut ist. Seine senkrechten Stäbe sind angespitzt, im oberen Bereich zusätzlich noch mit NATO-Stacheldraht umwickelt. Er ist auch elektronisch gesichert. Nachts patrouillieren die Bewohner in Schichten am Zaun, bewaffnet mit Sturmgewehr und immer ein Funkgerät auf dem Beifahrersitz des Geländewagens. Hier bei Har Gidon, so nah bei Nablus, gibt es keine Stellungen und israelische Soldaten zum Schutz von Zivilisten. Die Siedler sind selbst für ihre Sicherheit verantwortlich.

In der Tat gilt die Gegend von Nablus, in der Har Gidon liegt, als besonders fanatisch; und zwar auf beiden Seiten. Bereits zwei Jahre, nachdem die Ägypter Palästina besetzten, stießen sie hier Ende April 1834 auf großen Widerstand. Unter der Führung von Ahmad al-Qasim, einem Führer aus dem Jabal Nablus, brach bald in verschiedenen Teilen des Landes mit nicht gekannter Gewalt und Breitenwirkung ein Aufstand aus. Allein in der Region Nablus sollen Zehntausende gegen die ägyptischen Besatzer gekämpft haben.

Ariel und seine Frau Ruthi haben elf Kinder und leben in zwei Containern, die sie miteinander verbunden haben. Dies bedeutet, dass 13 Menschen - und ein Hund - auf nicht einmal 100 Quadratmetern zusammen leben. Hinzu kommt, dass beinahe die Hälfte eines Containers eine große Küche ist, in der Ruthi fast den ganzen Tag lang für die Thoraschüler der Jeschiwa kocht, in der Ariel lehrt. Doch nicht am Tage. Am Tage fährt Ariel in einem VW-Kleinbus mit seinen Schülern in die große Stadt Tel-Aviv, um auf Straßen und Plätzen zu musizieren. Die religiösen Lieder sollen bei den weltlichen Juden von Tel-Aviv ein Erweckungserlebnis auslösen. Die Thora und den Talmud lehrt Ariel in Har Gidon bei Nacht. »Gerade in der zweiten Hälfte der Nacht empfangen wir eine spirituelle Energie, die uns tiefere Erkenntnis ermöglicht«, erklärt Ariel.

»Mit Gottes Hilfe ein Stück Land befreien«

In Ruthis Küche hängt ein Bild von Menachem Mendel Schneerson, dem wichtigsten Rabbi der Chabad-Bewegung, einer chassidischen Gruppierung innerhalb des orthodoxen Judentums. Dabei sind Ariel und Ruthi nicht religiös erzogen worden. Sie wuchsen beide innerhalb weltlicher und bürgerlicher Familien im urbanen Raum auf. Ruthi studierte Architektur und reiste nach Armeedienst und Studium durch die Welt. In Nepal wurde sie religiös und auf der nächsten Station, in Japan, lernte sie Ariel kennen. Zurück in Israel heirateten sie und beschlossen, »mit Gottes Hilfe ein Stück Land in Samaria zu befreien«.

»Dies alles ist unser Land«, beschreibt Ariel die Täler und Berge, die er von seiner Terrasse aus überblicken kann. »Dieses Land gehört zu uns. Ohne dieses Land kann ich nicht leben. Ich brauche es, um als Jude zu existieren. Jemand, der Asthma hat, kann auch nicht auf das Atmen verzichten, auch wenn ihm das Atmen Schmerzen bereitet.« Und der bibelfeste Ariel zitiert aus der Thora Josua 1, 1: »Nachdem Mose, der Knecht des Herrn, gestorben war, sprach der Herr zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener: Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach Dich nun auf und zieh über den Jordan, Du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Kindern Israel, gegeben habe. Jede Stätte, auf die Eure Fußsohlen treten werden, habe ich Euch gegeben, wie ich Mose zugesagt habe. Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hethiter soll Euer Gebiet sein.«

»Dies alles ist unser Land«, den gleichen Wortlaut, nur in einer anderen Sprache höre ich von einer Großmutter - in Ramallah. Und beide meinen das gleiche Stück Land.

* Aus: Neues Deutschland, 25. August 2010


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