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Israel–Palästina: Die deutsche Verantwortung

Von Werner Ruf *

Die Voraussetzungen für eine Lösung

Es gibt kaum einen Konflikt, für dessen Lösung mehr und bessere Voraussetzungen gegeben sind als für diesen seit 60 – oder mindestens 40 – Jahren scheinbar so unlösbaren israelisch- palästinensischen. Ausgangslage ist die Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats vom Juni 1967, die den Rückzug Israels aus den im gerade vorangegangenen Krieg besetzten Gebieten fordert.

Diese Gebiete machen rd. 22% des britischen Mandatsgebiets Palästina aus, während im UN-Teilungsplan von 1947 das Gebiet etwa hälftig zwischen Israel und einem palästinensischen Staat aufgeteilt werden sollte. Die arabischen Staaten hatten diesen Teilungsplan nicht akzeptiert, marschierten in das Gebiet ein, in dem daraus resultierenden Krieg eroberte Israel zahlreiche Gebiete, die heute gemeinhin als sein Staatsgebiet anerkannt werden – auch von nahezu allen arabischen Staaten (außer Libyen) und von den palästinensischen Organisationen – einschließlich Hamas.

2003 legte die „Genfer Initiative“ einen von ranghohen israelischen und palästinensischen Politikern ausgehandelten Friedensplan vor, dessen Kernpunkt war: Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967, Abzug der Siedler, Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten und Suche nach einer Regelung für die palästinensischen Flüchtlinge von 1947/48.

Ein vom saudischen König Abdallah vorgelegter Friedensplan, der am 28. März 2002 von der Arabischen Liga beschlossen wurde, sieht vor: Den Rückzug Israels auf die Grenzen des 4. Juni 1967, einschließlich der Rückgabe der syrischen Golan-Höhen und der noch besetzten Gebieten im Süden Libanons, eine gerechte Lösung des Flüchtlingsproblems im Einklang mit der Resolution 194 der UN-Generalversammlung (vom 11. Dezember 1948), die Schaffung eines souveränen, unabhängigen palästinensischen Staates auf den palästinensischen Gebieten mit Jerusalem als Hauptstadt. Dafür bieten die Arabischen Staaten an, den arabisch-israelischen Konflikt für beendet zu erklären, einen Friedensvertrag mit Israel zu schließen und normale Beziehungen mit Israel aufzunehmen.

Statt dieser konstruktiven und zielführenden Pläne wurde unter Druck der USA im Mai 2003 die so genannte „roadmap“ oder „Straßenkarte für den Frieden“ beschlossen, die die Resolution 242 zum Verhandlungsgegenstand degradiert, und vom UN-Sicherheitsrat abgesegnet. Die „Roadmap“ ist gegliedert in drei Phasen, die im Jahre 2005 zu einem vertraglich vereinbarten Frieden zwischen einem israelischen und einem palästinensischen Staat hätten führen sollen. Die Gründung eines palästinensischen Staates steht am Ende des Prozesses, der über die erste Phase nie hinausgekommen ist: Der palästinensischen Autonomiebehörde gelang es nicht, Anschläge gegen Israel völlig zu unterbinden, Israel setzte konsequent den Ausbau der Siedlungen in den besetzten Gebieten fort.

Israel gestaltet die Zukunft

Die israelische Politik hat von Anfang an jede Kompetenzentfaltung der palästinensischen Autonomiebehörde untergraben: Polizeiposten wurden gezielt und systematisch angegriffen, die Checkpoints, die jede Bewegung und vor allem wirtschaftliche Aktivitäten in den besetzten Gebieten unterbinden, wurden ausgebaut und vermehrt, die Siedlungspolitik wurde vorangetrieben, der Bau zahlreicher Straßen, die nur von Israelis befahren werden dürfen, und der völkerrechtswidrige Bau der Mauer („protection wall“) wurden vorangetrieben. Er besiegelt weitere umfangreiche Landnahme und die Zerteilung des palästinensischen Gebiets.

Der Alltag in den besetzten Gebieten ist geprägt von den zahlreichen Straßensperren, den checkpoints, die weniger der Sicherheit Israels als der Demütigung der Palästinenser dienen: Krankentransporten wird die Durchfahrt verweigert; Menschen werden geschlagen und gedemütigt; Menschen werden willkürlich ihre Personalpapiere weg genommen, die müssen, oft gefesselt und mit verbundenen Augen stundenlang in Sonne und Regen an den checkpoints sitzen; Frauen, die zur Entbindung in eine Klinik wollen, müssen im Staub der Straße Kinder gebären, die teils tot zur Welt kommen, während Mütter verbluten. Die Siedler attackieren Palästinenser, ihre Frauen und Kinder; Obstgärten und Olivenbäume werden zerstört, Bauern bei der Olivenernte beschossen; die Mauer dient auch dazu, die Bauern von ihren Feldern fern zu halten, so dass Pflanzungen und Ernte verderben. Die Folgen dieser Politik die konsequent gegen die Genfer Konventionen verstößt sind Armut, Verelendung, Krankheit – und Wut.

Angesichts der politischen Hilflosigkeit der palästinensischen Autonomiebehörde, die sich an den Hilfsgeldern internationaler Geberorganisationen bereichert, erreichte die Hamas-Bewegung – bei den ersten wirklich freien Wahlen im gesamten arabischen Raum – im Januar 2006 eine Mehrheit und bildete die Regierung. Nach kurzer Amtszeit und ohne Proteste des Westens verhaftete Israel Regierungsmitglieder und Abgeordnete und setzte sie in sogenannte Administrativhaft: Diese Haft kann beliebig alle drei Monate verlängert werden. Die Verhafteten (auch Kinder über 14 Jahren) erhalten weder eine Anklage noch Zugang zu einem Anwalt.


Infos zur Westbank:
  • Größe: 5.600 km2
  • Einwohner der Palästinensischen Wohngebiete: 2,4 Mio.
  • 161 Israelische Siedlungen (183 km2) mit 0,4 Mio. Einwohner
  • 96 Israelische Außenposten
  • Israelische Sperrgebiete und 27 Militärbasen (1.000 km2)
Quelle: www.ochaopt.org; (UN-)Office in the occupied Palestinian territory



Perspektivlosigkeit und Elend wie auch die seit 1993 enttäuschten Hoffnungen auf Frieden und einen palästinensischen Staat haben nicht nur zum Anwachsen der im Westen meist als Schreckgespenst dargestellten Hamas geführt, sie haben auch die palästinensische Gesellschaft atomisiert, die sich in Clans aufzulösen beginnt – weit unterhalb von Fatah und Hamas, die sich in den 80er Jahren des Wohlwollens der israelischen Regierung erfreute, hoffte diese doch, so die PLO spalten zu können. Fünfzehn Jahre nach Oslo und fünf Jahre nach der roadmap gibt es, streng genommen, kein Territorium mehr für einen palästinensischen Staat und keine politische Kraft, die das palästinensische Volk insgesamt zu repräsentieren vermöchte. Dieses von Israels Regierungen noch immer verfolgte Ziel hat das Staatsgebiet Israels erweitert und die Palästinenser geschwächt. So stellt sich denn auch Olmert in den letzten Tagen seiner Amtszeit eine Lösung vor, die am 12. August in Haaretz veröffentlicht wurde: Kein Wort über das Rückkehrrecht der Flüchtlinge, kein Wort über den Status Jerusalems, die Mauer als endgültige Grenze und Eingemeindung der größten Siedlungsgebiete. Immerhin wird den Palästinensern eine territoriale Kompensation angeboten – in der Negev- Wüste. Frieden ist daher ferner denn je. Scheitert aber die Zwei-Staaten- Lösung, dann kommt unweigerlich jene Alternative wieder auf den Tisch, die der rechte „revisionistische“ Zionismus seit den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts bekämpfte: Der von der (damaligen) zionistischen Mehrheit anvisierte Vielvölkerstaat im einstigen Palästina.

Die deutsche Verantwortung

Eine besondere deutsche Verantwortung besteht in diesem Konflikt ohne jede Frage. Ohne den industriellen Massenmord an den europäischen Juden durch die Nazis wäre wahrscheinlich Israel nicht oder zumindest nicht so schnell entstanden. Die großzügige deutsche Unterstützung für den Staat Israel bis hin zur Lieferung atomwaffenfähiger U-Boote hat jedoch mehr mit den außenpolitischen Zielen Deutschlands als mit der Kompensation der Schuld gegenüber den Opfern zu tun. Ausgeblendet bleibt die Verantwortung Deutschlands gegenüber den indirekten Opfern des Nazi-Völkermords: den Palästinensern.

Und hierbei geht es nicht nur um Moral. Wie die Autoren des „Manifests der 25“ (deutschen Friedensforscher) im November 2006 darzulegen versuchten, können diese besonderen Beziehungen und die immer wieder beschworene Freundschaft zwischen Deutschland und Israel nicht auf blinder Unterstützung israelischer Regierungspolitik basieren, Verletzungen des Völkerrechts billigen, die Unterdrückung der Palästinenser und die Verhinderung einer Staatsbildung rechtfertigen. Freundschaft bedeutet nicht Nibelungentreue, sie impliziert auch Kritik. Es ist die permanente Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte, die Gegengewalt und zunehmende Anarchie auf palästinensischer Seite produziert. Der Staat Israel wird aber erst in Sicherheit leben können, wenn auch die Sicherheit seiner Nachbarn, allen voran die der Palästinenser, gewährleistet ist.

Dies der israelischen Seite zu vermitteln, wäre die Aufgabe der deutschen Kanzlerin wie all jener Europäer, die sich so gerne als Freunde Israels feiern lassen.

* Dr. Werner Ruf, emer. Professor für international Politik an der Uni Kassel; Mitglied der Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Uni Kassel.


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 5, September 2008

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