Wie gefährlich ist Israels Bedrohung durch Saddam Hussein?
Von Reiner Bernstein*
Vor etwa zehn Jahren trat Israels Außenminister Peres an seinen Bonner
Amtskollegen mit der Bitte heran, die Entsendung deutscher Soldaten auf
die Golanhöhen zu prüfen. In Jerusalem standen Verhandlungen mit Syrien
auf der Tagesordnung: Ausländische Truppen sollten im Falle eines
Friedensabkommens, das sich abzuzeichnen schien, Überwachungsaufgaben
übernehmen. Jetzt liegt die Bitte um Lieferung von "Patriot"-Raketen in
Berlin vor, um eine irakische Bedrohung im Keim zu ersticken. Wie üblich
spielt zwar in solchen Debatten die besondere deutsche Verantwortung für
Israel eine Rolle. Doch tatsächlich geht es nicht um die politische
Moral, sondern um taktische Überlegungen.
Vor einigen Monaten ist in Israel ein neuer Generalstabschef ernannt
worden, der dem heutigen Verteidigungsminister Mofaz folgte. Moshe
Yaalon zog schnell die Empörung auf sich, als er in einem Interview mit
der liberalen Tageszeitung "Haaretz" ("Das Land") von den "Feinden im
eigenen Land" sprach: Gemeint waren die rund eine Million israelischen
Staatsbürger arabischer Volkszugehörigkeit. Der Vorwurf des Rassismus
machte die Runde. Doch Yaalon hatte noch eine zweite Botschaft zu
verkünden, die in unserer Öffentlichkeit überhört wurde. Auf die Frage
nach der Qualität einer irakischen Bedrohung diktierte er seinem
Gesprächspartner ins Mikrophon: Die irakische Schlagkraft ist im
Vergleich zum GoIfkrieg schwach. Sie bereitet mir keine schlaflosen
Nächte." Und weiter: Wenn die Irakis tatsächlich angreifen, "haben wir
gute Antworten parat." Warum also das heutige Ersuchen um deutsche
Waffenlieferungen? Haben sich die irakischen Militärkapazitäten seit
Ende August zu Lasten Israels gefährlich verändert?
Wenn dies nicht der Fall ist, dann stehen andere Motive im Vordergrund.
In Israel geht die Sorge um, dass George Bush junior die Drohungen gegen
Saddam Hussein mit der Nahostpolitik verbindet und damit seinem Vater
folgt, der die damalige Regierung in Jerusalem in zweifacher Weise
herausforderte: Zum einen verweigerte Bush senior den Israelis eine
10-Milliarden-Dollar-Bürgschaft, um einen Siedlungsstopp durchzusetzen,
und zum anderen zwang er das israelische Kabinett dazu, Ende Oktober
1991 an der internationalen Friedenskonferenz in Madrid teilzunehmen.
Ein fast identisches Szenario bietet sich dem Beobachter heute: Vor
einigen Tagen haben Abgesandte Sharons in Washington um eine Bürgschaft
in eben jener Höhe zuzüglich eines vier Milliarden Dollar schweren
Militärhilfepakets nachgesucht - der Türkei sollen die USA schon die
Hälfte dieser Summe zugesagt haben. Gleichzeitig hat die Administration
eine überarbeitete Fassung ihrer "Wegekarte" ("road map") vorgelegt, die
das sofortige Ende der Siedlungspolitik in allen Teilen der besetzten
Gebiete verlangt und die Etablierung eines palästinensischen Staates bis
2005 anvisiert. Diese Wegekarte soll mit den Europäern abgestimmt sein,
die jedoch einen Schritt weitergehen: Im Gegensatz zu den noch zögernden
USA verlangen sie, dass der Siedlungsstopp sofort und nicht erst nach
einer Waffenruhe einsetzen soll.
Gegen diese Zumutung versucht Sharon auf Zeit zu spielen. Er betont
seine beschränkte Handlungsfähigkeit, deren Hauptverantwortung er
bezeichnenderweise seinem Außenminister und Rivalen Netanyahu zuschiebt,
und möchte politische Fortschritte mit den Palästinensern auf die Zeit
nach den Parlamentswahlen Ende Januar 2003 vertagen. Mit anderen Worten:
Washington und Berlin werden um Wahlhilfe gegen Netanyahu gebeten, aber
auch gegen Amnon Mitzna, den neuen Kandidaten der Arbeitspartei gebeten,
der auf Verhandlungen mit der palästinensischen Führung drängt. Das
taktische Kalkül ist offensichtlich: Die deutsche Diplomatie um Joschka
Fischer soll mit Hilfe des "Patriot"-Gesuchs von ihren Bemühungen um
eine Deeskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts abgelenkt
werden.
Irakische Raketen bedeuten eine geringere Bedrohung Israels als eine
konzertierte Aktion des Westens gegen die Politik Sharons in den
palästinensischen Gebieten. Am 20. Dezember hat das "Quartett" (USA,
Europa, Russland und UN-Generalsekretariat) die "Wegekarte" auf die
Tagesordnung gesetzt. Bis dahin findet der Krieg gegen den Irak nicht
statt. Man darf gespannt sein, welche Schlussfolgerungen die Berliner
Außenpolitik zieht.
* Reiner Bernstein, München, hat zuletzt das Buch "Der verborgene Frieden. Politik und
Religion im Nahen Osten" (Berlin 2000) vorgelegt. Diverse Beiträge zum Nahen Osten auf unserer Homepage.
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