Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Das Recht der Flüchtlinge

Die ethnische Säuberung Palästinas - Ilan Pappe klagt an

Von Heinz-Dieter Winter *

Während seines Besuches dieser Tage in Israel und im palästinensischen Autonomiegebiet hat USA-Präsident Bush erklärt, die palästinensische Seite solle im Rahmen einer künftigen Friedensregelung auf das in UNO-Resolutionen verankerte Recht der palästinensischen Flüchtlinge des Krieges von 1948/49 auf Entschädigung verzichten. Der israelische Politikwissenschaftler Ilan Pappe hat dazu eine andere Meinung. In seinem kürzlich erschienen Buch macht er deutlich, wie groß das Unrecht ist, dass damit dem palästinensischen Volk angetan werde.

Wegen seiner kritischen Haltung zur Politik Israels war Ilan Pappe in seiner Heimat vielen Anfeindungen und Behinderungen ausgesetzt. Er musste seinen Lehrstuhl an der Universität Haifa aufgeben und lehrt jetzt in Großbritannien. Das was er anhand von Dokumenten aus Archiven, Augenzeugenberichten sowie von Tagebüchern, insbesondere der Aufzeichnungen von Ben Gurion, vor allem über die Ereignisse der Jahre 1947 bis 1949 enthüllt, erschüttert auch jene, die mit der Geschichte des Nahostkonflikts vertraut sind.

Wenige Tage nachdem die UNO-Vollversammlung im November 1947 die Teilung des britischen Mandatsgebietes Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat beschlossen hatte, erklärte David Ben Gurion in einer Rede vor führenden Mitgliedern der Israelischen Arbeiterpartei: »In den Gebieten, die dem jüdischen Staat zugewiesen sind, gibt es 40 Prozent Nichtjuden. Diese Zusammensetzung ist keine solide Basis für einen jüdischen Staat. Und dieser neuen Realität müssen wir uns in ihrer ganzen Härte und Klarheit stellen.« Nur ein Staat mit mindestens 80 Prozent Juden sei »ein lebensfähiger und stabiler Staat«. Als Ben Gurion dies erklärte, bereiteten jüdische Politiker und höchste Offiziere bereits Pläne vor, wie die arabische Bevölkerung aus dem zukünftige Staatsgebiet Israel (weit über das Territorium hinaus, das die UNO zugeteilt hatte) mit Gewalt und Terror zu vertreiben sei.

Bereits in den 30er Jahren hatte eine Gruppe zionistischer Führer die »Entarabisierung« Palästinas ins Auge gefasst. Pappe beschreibt mit minutiöser Genauigkeit und wissenschaftlicher Akribie die planmäßige und gewaltsam betriebene ethnische »Säuberung« Palästinas, ein Begriff aus den damaligen Befehlen des israelischen Oberkommandos. Schon vor Ende des britischen Mandats wurden von der Untergrundmiliz Hagana und dann von der israelischen Armee sowie den paramilitärischen Verbänden Irgun und Stern Massaker begangen, wurde gemordet, geplündert, vergewaltigt. Es gab Dörfer, wo die gesamte männliche Bevölkerung exekutiert wurde. 531 Dörfer und elf städtische Siedlungen wurden mit Waffengewalt geräumt, 200 Ortschaften bereits vor dem 15. Mai 1948, dem Gründungstag Israels. Vor allem die Massaker am 9. April in Deir Yassin und in Tantura am 22. Mai 1948 wurden Synonym für die Verbrechen der Israelis an den Palästinensern. Die internationale Gemeinschaft ließ die Opfer im Stich. Pappe klagt vor allem die »verantwortungslose Haltung« der britischen Mandatsmacht an und spricht vom »Verrat durch die Vereinten Nationen«. Etwa 800 000 Palästinenser wurden zur Flucht gezwungen und ihres gesamten Vermögens beraubt. Israel habe nicht nur die arabische Bevölkerung zu vertreiben, sondern auch »Geschichte und Kultur einer Nation auszulöschen« versucht.

Pappe räumt gründlich auf mit den Legenden der offiziellen israelischen Geschichtsdarstellung. Nichts bleibt übrig vom Gründungsmythos des Staates Israel, der da behauptet, die jüdischen Siedler seien in ein »Land ohne Volk« gekommen, um »die Wüste zum Blühen« zu bringen. Im Gegenteil, blühende Dörfer mit fruchtbaren Olivenhainen wurden innerhalb weniger Stunden ausgelöscht, einschließlich historischer Denkmäler und Moscheen. Es habe auch Dörfer getroffen, in denen Araber und Juden in guter Nachbarschaft lebten und in denen sich jüdische Bewohner schützend vor ihre arabischen Nachbarn gestellt haben.

Auch die immer wieder kolportierte Legende, dass 1948/49 David, die kleine israelische Armee, gegen Goliath, die übermächtigen arabischen Armeen, gekämpft habe, wird von Ilan Pappe widerlegt. Die israelische Armee war hinsichtlich ihrer zahlenmäßigen Stärke und Bewaffnung den Armeen arabischer Staaten, die zudem uneinheitlich und halbherzig operierten, weit überlegen. Ilan Pappe enthüllt die Wahrheit über die Katastrophe, die von den Palästinensern »Nakba« genannt wird. Und so lange diese von israelischer Seite geleugnet und ignoriert werde, sei ein friedliches Zusammenleben beider Völker nicht möglich.

Die Lösung des palästinensischen Flüchtlingsproblems bleibe »der Schlüssel zu jeder gerechten und dauerhaften Lösung des Palästinakonflikts«, betont Ilan Pappe. Die Resolution 194 der UNO-Vollversammlung vom 11. Dezember 1948, die das Recht der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge sowie die Zahlung einer Entschädigung für jene beschloss, die nicht zurückkehren wollten, ist bis heute unerfüllt.

Ilan Pappe: Die ethnische Säuberung Palästinas. Zweitausendeins, Frankfurt (Main) 2007. 416 S., geb., 22 EUR.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Januar 2008


Zurück zur Israel-Seite

Zur Palästina-Seite

Zurück zur Homepage