Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Israel-Palästina: Die Mauer – Recht oder Gewalt?

Von Norman Paech*

Den folgenden Teyt haben wir mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber der vor kurzem erschienenen Broschüre "Weg mit der Mauer in Palästina" entnommen.*



Auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus erklärte US-Präsident George W. Bush am 26. Mai 2005, dass die Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern über den permanenten Status bei der Waffenstillstandslinie von 1949 beginnen müssten, allgemein als die vor-67er Grenze oder „Grüne Linie“ bekannt. Er fügte ausdrücklich hinzu, dass Änderungen an dieser Grenze nur mit der Zustimmung der Palästinenser vorgenommen werden könnten. Einen Tag zuvor hatte der Europarat bereits erklärt, dass er keine Veränderung dieser Grenze anerkennen werde, die nicht zwischen den Parteien in beiderseitiger Übereinstimmung vorgenommen worden würden. Kritiker wie Henry Siegman von der International Herald Tribune verweisen darauf, dass diese Position im Grunde nicht neu sei, die Staaten aber bisher Israel nie unter Druck gesetzt hätten, seinen Verpflichtungen nachzukommen.[1] Man kann Zweifel auch für die Zukunft anmelden, wenn Bush im anschließenden Gespräch mit den Journalisten zu verstehen gab, dass die Palästinenser zunächst ihr wirtschaftliches Desaster und politisches Chaos im Gaza-Streifen in ein Modell der Demokratie, „good governance“ und Wohlstand zu verwandeln hätten, ehe er die Israelis unter Druck setzen werde damit aufzuhören, palästinensisches Land für ihre Siedlungen zu stehlen, und Gespräche über den permanenten Status zu beginnen.

Dieses ist in der Tat die Position, die die USA alle Jahre hindurch verfolgt haben und die den israelischen Regierungen bisher die Garantie gab, ihren Landraub und Siedlungsausbau ziemlich ungestört vorantreiben zu können. Mit der simplen Methode der Vertauschung von Ursache und Wirkung machten sie die verzweifelten Selbstmordanschläge, Terrorakte und den ansteigenden Hass der Palästinenser gegen die israelische Bevölkerung zur Ursache für ihre Weigerung, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen, alle Siedlungen – und nicht nur in Gaza – zu räumen und die Gespräche über einen dauerhaften Frieden zwischen den beiden Völkern zu beginnen. Sie nahmen den Terror zum Vorwand für den eigenen Terror, der systematisch alles das unterband und zerstörte, was nun als Demokratie, good governance und Wohlstand eingefordert wird. Die fast tägliche Zerstörung palästinensischen Siedlungsraumes und Infrastruktur, die periodischen Abriegelungen und Blockaden von Handel und Arbeitsplätzen in Israel, die gezielten Demütigungen und permanenten militärischen Überfälle haben die palästinensischen Lebensbedingungen bis zur Unerträglichkeit deformiert und immer wieder Selbstmordattentate und Terrorakte produziert. Die Erkenntnis, dass erst ein freies und unabhängiges Palästina ohne Besatzung und ohne Siedler die Forderungen nach „good governance“ erfüllen kann und kein Nährboden für Terror mehr wäre, gehört offensichtlich zu den verbotenen Früchten politischer Überlegungen. Stattdessen verfolgt Scharon ein Konzept, welches die Errichtung eines unabhängigen und souveränen Staates Palästina unmöglich machen soll, wozu nicht nur der Abzug der Siedlungen aus dem Gaza-Streifen bei gleichzeitigem Ausbau der Siedlungen in der Westbank sondern auch der Bau der Mauer gehört.

I. Landraub durch Mauer

Seit 1996 soll die israelische Regierung Pläne zur Abriegelung erwogen haben, um die Infiltration aus der nördlichen und zentralen Westbank zu unterbinden. Im Juli 2001 wurde ein erster Plan eines „Sicherheitszaunes“ von 80 km im Kabinett verabschiedet, der sich bis Oktober 2003 zu einem in drei Phasen gestaffelten Plan eines 720 km langen Bauwerkes entlang der gesamten Westbank entwickelte. Diese von den Israelis „Sicherheitszaun“ genannte Konstruktion besteht aus a) einem Zaun bzw. eine über acht Meter hohen Betonmauer mit elektronischen Sensoren, b) einem bis zu vier Meter tiefen Graben, c) einer zweispurigen asphaltierten Straße für Patrouillen, d) einem Spurenstreifen aus Sand parallel zu Mauer oder Zaun, um Fußspuren zu identifizieren und e) einem Stapel von sechs Rollen Stacheldraht, der die Umzäunung des gesamten Komplexes markiert. Er hat einen Durchmesser von 50 bis 70 m, der sich allerdings bis zu 100 m ausdehnen kann. Im Norden begonnen, schieben sich die Bauarbeiten im Osten Israels fast ausschließlich auf palästinensischem Gebiet bereits weit in den Süden bis nach Jerusalem vor. Der Grenzwall weicht im Durchschnitt 7,5 km von der Grünen Linie zu Lasten palästinensischen Gebietes ab, bezieht Siedlungen ein, durchschneidet Dörfer und schnürt selbst größere Ortschaften von ihrem Hinterland ab. Nur im Bereich Tulkarem weicht der Wall ein bis zwei Kilometer auf israelisches Gebiet aus.

Wird der Grenzwall entsprechend den vorliegenden Plänen vollendet – und Scharon hat niemals eine Unterbrechung der Arbeiten wie auch des Ausbaus der Siedlungen in Aussicht gestellt – dann werden weitere 16,6 % des Territoriums von der Westbank abgeschnitten mit 237.000 Palästinensern und 320.000 jüdischen Siedlern, das sind etwa 80 % der Siedler in der Westbank. Und nicht nur das, 160.000 Palästinenser werden dann in fast vollkommen durch die Grenzmauer eingekreisten Kommunen leben wie heute schon in Kalkilya. In dieser ca. 40.000 Einwohner zählenden Ortschaft haben seitdem etwa 600 Läden schließen müssen, und an die 8000 Menschen haben die Region verlassen. Im Oktober 2003 haben die israelischen Streitkräfte Verordnungen erlassen, die das palästinensische Gebiet zwischen der Grünen Linie und der Mauer zu einer „closed area“ erklärten. Das bedeutet, dass Palästinenser, die dort leben oder dort ihre Gärten und Felder haben, nicht mehr das Gebiet betreten dürfen, wenn sie nicht über eine von den israelischen Behörden ausgestellte Erlaubnis oder Ausweis verfügen. Diese werden aber nur für eine begrenzte Zeit ausgegeben. Israelische Bürger hingegen und solche Ausländer, die nach dem Rückkehrergesetz befugt sind, nach Israel einzuwandern, können sich ohne Erlaubnis in der „closed area“ bewegen oder dort bleiben. Sie können nunmehr auch auf dem freien Markt Olivenbäume erwerben, die von jenem durch die Mauer abgeschnittenen Land stammen, wie Haaretz jüngst berichtete. Palästinenser können ihre Wohn- und Arbeitsplätze nur durch bestimmte Tore erreichen oder verlassen, die unregelmäßig und nur für kurze Zeiten geöffnet werden.

Gleichzeitig meldet Agence France Press, dass israelische Bulldozer die Arbeiten an einem der am meisten umstrittenen Abschnitte des Grenzwalls um die Siedlung Ariel herum wieder aufgenommen haben. Diese Siedlung ist eine der größten mit etwa 20.000 jüdischen Siedler und ragt tief in die Westbank hinein. Die Arbeiten an dem Grenzwall waren im Sommer 2004 auf Grund palästinensischer Einsprüche vor israelischen Gerichten gestoppt worden. Nun sollen individuelle Zäune um Ariel und einige benachbarte Siedlungen errichtet werden, über deren Verbindung mit der übrigen Mauer später entschieden werden soll.

II. Gutachten des IGH

Von Anfang an war der internationalen Öffentlichkeit klar, dass dieses gigantische Bauwerk nicht nur der Sicherheit vor der Infiltration von Selbstmordattentäter diente, sondern die weitere Beschneidung und Zerstückelung palästinensischen Territoriums zur Unterminierung eines separaten palästinensischen Staates zum Ziel hatte. Dies bewog die UN-Generalversammlung auf ihrer 10. Notstandssondertagung am 8. Dezember 2003 eine Resolution zu verabschieden, mit der sie den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag zur Beantwortung folgender Frage aufforderte:
„Welche Rechtsfolgen ergeben sich aus der Errichtung der Mauer, die von der Besatzungsmacht Israel in dem besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich in Ost-Jerusalem und seiner Umgebung, gebaut wird, wie in dem Bericht des Generalsekretärs beschrieben, unter Berücksichtigung der Normen und Grundsätze des Völkerrechts, einschließlich des Vierten Genfer Abkommens von 1949, und der einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrats und der Generalversammlung?“ (UNGV Res. ES-10/14)

Der IGH hat am 9. April 2004 ein 64 Seiten umfassendes Gutachten veröffentlicht, in dem er sich sehr intensiv mit den juristischen Fragen auseinander gesetzt hat. Am Ende seiner Prüfung kommt er zu dem fast einstimmigen Ergebnis, dem nur der US-amerikanische Richter Buergenthal widersprochen hat, dass der Bau der Mauer und das mit ihm eingeführte Grenzregime eine Verletzung des Völkerrechts bedeuten. Der Gerichtshof hat in dem ganzen Komplex einen schweren Verstoß gegen den Internationalen Pakt über die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte sowie die Konvention über die Rechte der Kinder gesehen.[2]

Bereits in der ersten Phase des Baus wurden nach Feststellung des Gerichtshofes etwa 10.000 Hektar fruchtbarsten Ackerlandes, Olivenhaine, Zitrusplantagen, Gewächshäuser und Brunnen konfisziert und zerstört. Der Gerichtshof hat sich auch nicht von Israels Begründung überzeugen lassen, dass der „Sicherheitszaun“ aus Sicherheitsgründen notwendig sei, da er zu diesem Zweck ohne weiteres auf israelischem Territorium ohne Verletzung der Rechte der Palästinenser hätte errichtet werden können.[3]

Der IGH konnte auch nicht das wohl schwierigste und für die kommenden Verhandlungen wichtigste Thema, die Siedlungen, umgehen. Wir erinnern uns: nachdem sich auch die PLO zu einer definitiven Trennung von Juden und Arabern und einer Zwei-Staaten-Lösung durchgerungen hatte, bot sie den jüdischen Siedlern an, dort zu bleiben, wo sie jetzt wohnen, wenn sie die palästinensische Souveränität in gleichem Maße anerkannten wie es die palästinensischen Einwohner in Israel mit der israelischen Souveränität tun. Die jüdischen Siedler hatten entrüstet abgelehnt, so dass es in den zukünftigen Verhandlungen darum gehen wird, ihre Umsiedlung nicht nur aus dem Gaza-Streifen sondern auch aus der Westbank und von den Golan-Höhen zu vereinbaren. Nun hat der Gerichtshof erneut klar gemacht, dass die Mauer und die ihn begleitenden Regelungen eine unübersehbare demographische Veränderung bewirken werden, die Art. 49 Abs. 6 der Vierten Genfer Konvention von 1949 und zahlreichen Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats widersprechen. Artikel 49 Abs. 6 der Vierten Genfer Konvention lautet: „Die Besatzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder entsenden.“

Israelische Völkerrechtler wie Ruth Lapidoth, Yoram Dinstein oder Yehuda Z. Blum haben bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder versucht, die Geltung der Genfer Konventionen für die besetzten Gebiete auszuschließen oder so zu interpretieren, dass sie die Siedlungspolitik nicht berühren. Für solche zweifelhaften Entlastungen besteht seit dem IGH-Gutachten kein Raum mehr, da es die Rechtswidrigkeit der gesamten Siedlungstätigkeit eindeutig feststellt und die alten Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats wieder ins Gedächtnis ruft. So die Resolution 446 vom 22. März 1979, mit der er Israel aufforderte, die Vierte Genfer Konvention genauestens einzuhalten und „die vorangegangenen Maßnahmen zurückzunehmen und sich jeder Handlung zu enthalten, die in ihrem Ergebnis den rechtlichen und geographischen Status verändern und die demographische Zusammensetzung der seit 1967 besetzten arabischen Territorien, einschließlich Jerusalem, materiell beeinflussen würden, und insbesondere keine Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in die besetzten arabischen Territorien zu verschicken.“[4]

Der Sicherheitsrat hat seine Position immer wieder bestätigt und die israelische Siedlungspolitik als „flagrante Verletzung“ der Vierten Genfer Konvention verurteilt.[5] In einem internen Gutachten vom 21. April 1978 hatte sogar der Rechtsberater beim israelischen Außenministerium die Rechtslage anerkannt. Der IGH hat diese Bewertung noch einmal unterstrichen und zugleich klargestellt, dass die berühmte Resolution 242 vom 22. November 1967 den Rückzug der Besatzungsmacht aus dem gesamten besetzten Gebiet und nicht nur aus Teilen fordert.[6] Denn bereits seit den Dreißigerjahren hat sich ein völkerrechtliches Prinzip herausgebildet – die so genannten Stimson-Doktrin, benannt nach dem damaligen US-Außenminister –, welches den Erwerb fremden Territoriums durch militärische Eroberung für null und nichtig erklärt. Über dieses Prinzip hatte es außerhalb Israels nie ernsthafte Diskussionen und Zweifel gegeben, so dass der Sicherheitsrat es verschiedentlich gegenüber der israelischen Siedlungspolitik anmahnte. Er ließ es dabei an Deutlichkeit nicht fehlen, wie z.B. in der Resolution 298 vom 25. September 1971, in der er feststellte, „das alle legislativen und administrativen Aktivitäten Israels, um den Status von Jerusalem zu verändern, einschließlich Enteignung von Land und Eigentum, der Übersiedlung von Bevölkerung und dem Erlass von Gesetzen zur Einverleibung besetzten Gebietes, vollkommen unwirksam sind und den Status nicht verändern können.“[7]

Auf der Ebene völkerrechtlicher Kriterien ist also vollkommen klar, dass alle einseitigen Maßnahmen Israels, sei es der Siedlungs- oder Mauerbau auf palästinensischem Gebiet oder die Annexion Jerusalems und der Golanhöhen, unwirksam sind und zurückgenommen werden müssen. Sie dürfen im Übrigen auch von keinem anderen Staat anerkannt werden. Das besagt allerdings nicht, dass sich die Parteien nicht vertraglich anders einigen können, als es der völkerrechtliche Kodex bestimmt.

III. Landenteignung in Ostjerusalem

Unsere Medien sind derzeit voll von hoffnungsvollen Berichten über den Neubeginn des Friedensprozesses im Nahen Osten zwischen Palästinensern und Israelis. Dahinter verschwinden Meldungen, die zwar in Haaretz und der New York Times zu lesen sind, aber in den deutschen Medien nur selten auftauchen.[8] Danach soll die israelische Regierung bereits im letzten Sommer 2004 eine Entscheidung getroffen haben, dass Grundbesitz in Ost-Jersualem, welcher Palästinensern gehört, die dort jedoch nicht leben, entschädigungslos enteignet werden kann.[9] Die Grundlage dieser Maßnahme ist das Gesetz über das Eigentum Abwesender (Absentee Property Law) von 1950, mit dem bereits Tausende von Häusern und Ländereien der Palästinenser enteignet wurden, die während des Krieges von 1948 geflohen oder vertrieben worden waren.

Die neue – geheime – Entscheidung ist jedoch in Verbindung mit der Mauer zu sehen, die viele Palästinenser von ihren Gärten, Olivenhainen und Ackerland trennt. Die besondere Situation Ost-Jerusalems ist nicht nur durch die Annexion im Jahre 1980 – völkerrechtlich illegal und von den Vereinten Nationen scharf verurteilt [10] – gekennzeichnet. 1967 hatte die israelische Regierung das Stadtgebiet Ost-Jerusalems verdreifacht und die Kommunalgrenzen ohne Rücksicht auf die palästinensischen Eigentümer quer durch ihre Gärten und Häuser gezogen. Nun können zahlreiche Palästinenser, die etwa in Bethlehem wohnen, ihres Lands beraubt werden. Im November 2004 versandte das Militär etlichen Landbesitzern einen Brief, in dem es ihnen mitteilte, dass ihre Gärten und Haine nun der Behörde für das Eigentum Abwesender (Custodian of Absentees Properties) in Israel unterstellt würden.

Teil dieses annektierten Gebietes ist auch die Ortschaft Silwan, die sich von den südlichen Altstadtmauern Jerusalems bis in das Kidron-Tal erstreckt – ein Ort sowohl alter jüdischer (König David) als auch muslimischer (Prophet Mohammed) Vorväter. Seit über zehn Jahren läuft hier schon ein Häuserkampf zwischen der Jerusalemer Stadtverwaltung und den palästinensischen Einwohnern, deren Wohnungen und Gärten enteignet und z. T. zerstört oder an jüdische Siedler vergeben werden.[11] Heute wohnen über 200 Siedler in Silwan, subventioniert und militärisch geschützt durch die Regierung. Nun jedoch hat der Oberbürgermeister von Jerusalem beschlossen, das Bustan-Viertel in Silwan mit seinen 88 Gebäuden komplett abzureißen und in einen Park, „die Landschaft der Vorväter“, zu verwandeln, in dem auch archäologische Ausgrabungen vorgenommen werden sollen. 1000 Bewohner sind davon betroffen. Die „Park-Planungen“ werden von vielen bezweifelt. Sie weisen darauf hin, dass dort mittelfristig weiterer Wohnraum für Siedler geschaffen werden soll, der die vereinzelten Häuser der Siedler in Silwan miteinander verknüpfen wird: „In Verbindung mit Siedlungen auf dem Ölberg und weiter östlich bildet sich quasi ein jüdischer Korridor von der Jerusalemer Altstadt bis nach Maale Adumin weit im Osten … Zudem geht es darum, die Altstadt mit jüdischen Bewohnern zu umzingeln. So soll verhindert werden, dass sie Teil der Hauptstadt eines palästinensischen Staates wird, der irgendwann einmal gegründet wird.“[12] Ein genauerer Blick auf die Karte [13] zeigt, dass Silwan bereits durch die Mauer von seiner palästinensischen Nachbarschaft abgeschnitten und die Mauer bis Maale Adumin projektiert ist. Darüber hinaus sind zwei weitere Siedlungen zwischen der Grünen Linie und der Mauer geplant: „Gevaot“ im Etzion Block und „Zufim North“ nahe Kalkilya.[14] Daraus lässt sich nur der für die Palästinenser deprimierende Schluss ziehen, dass die Mauer vorwiegend die Siedler schützen soll und die Siedlungen wiederum den Verlauf der Mauer bestimmen, was in der Summe einen eigenständigen palästinensischen Staat verhindern soll.

IV. Israel missachtet IGH-Gutachten

Der Internationale Gerichtshof ist nicht bei der Feststellung des Völkerrechtsbruches stehen geblieben, sondern hat Israel aufgefordert, die Bauarbeiten einzustellen, die bereits errichteten Teile der Mauer abzureißen und alle damit in Zusammenhang stehende Verordnungen und Regelungen zurückzunehmen. Gleichzeitig hat Israel alle verletzten natürlichen und juristischen Personen zu entschädigen oder, wenn möglich, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. Alle anderen Staaten fordert der Gerichtshof auf, den rechtswidrigen Bau nicht anzuerkennen, keine Unterstützung für die Aufrechterhaltung der Situation zu leisten, sondern sich im Gegenteil für ihre Beendigung einzusetzen.

Der US-amerikanische Richter Thomas Buergenthal rügt in seiner abweichenden Erklärung vor allem die seiner Ansicht nach unzureichende Berücksichtigung des Selbstverteidigungsrechts Israels gegen Terrorismus. Der IGH hat ein solches Recht verneint, da die Terroranschläge aus einem Gebiet kommen, welches unter Israels Kontrolle steht, ein Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UNO-Charta aber nur gegen den Angriff eines Staates gegeben sei. Die Situation sei nicht mit der Bedrohung durch Al Quaida nach dem 11. September 2001 vergleichbar. Gegen eine Mauer auf israelischem Territorium sei zudem juristisch nichts einzuwenden. So klar und unzweideutig die rechtliche Wertung des IGH ist, so hat das Gutachten dennoch nicht die Verbindlichkeit eines Urteils. Doch kann sich Israel nicht auf dieses Manko berufen, denn der Gerichtshof hat all das Völkerrecht – ob in der UNO-Charta oder allgemein anerkanntes Gewohnheitsrecht – aufgezeigt und angewandt, an das jeder Staat, auch Israel, ohne Ausnahme gebunden ist. Wenn allerdings die israelische Regierung sich nicht an das Gutachten gebunden fühlt und weiter an der Vollendung der Mauer baut und auch nicht von den USA bzw. den Staaten der EU zur Befolgung des Völkerrechts gedrängt wird, so bedeutet das einen schwer wiegenden Verlust internationaler Rechtskultur, die ohnehin in den vergangenen Jahren gerade von diesen Staaten stark strapaziert worden ist.

Leider beteiligt sich daran nicht nur die israelische Regierung sondern auch der Oberste Gerichtshof Israels. Drei Wochen nach der Veröffentlichung des Gutachtens hob das Oberste Gericht eine einstweilige Verfügung wieder auf, mit der es den Bau einer acht Meter hohen Betonmauer direkt durch die Ortschaft Ar Ram auf dem Weg zwischen Jerusalem und Ramallah untersagt hatte. Diese Mauer wird die meisten der Einwohner von ihren Arbeitsplätzen, Schulen, Gesundheitsversorgung und selbst den Friedhof abschneiden. Östlich von Ar Ram sind mehrere größere Wohnprojekte geplant. Das Gericht räumte zwar ein, dass die Palästinenser vor „übertriebener“ Beeinträchtigung zu schützen seien,[15] sah in diesem Fall jedoch den Schutz der Sicherheitsinteressen Israels, namentlich der Siedlungen, als höherrangig an. Es brachte mit diesem Spruch nicht nur seine – völkerrechtswidrige – Ansicht von der Legalität der Siedlungen, sondern auch die völlige Missachtung des Gutachtens des IGH zum Ausdruck.

Und so kann schließlich der Einschätzung des Evangelischen Entwicklungsdienst, die dieser im März 2005 in einer Dokumentation getroffen hat, kaum etwas entgegengehalten werden: „Ab Sommer 2005 wird eine durchgehende Mauer den suburbanen Raum Jerusalems durchschneiden und willkürlich palästinensische Vororte voneinander isolieren. Der Mauerstreifen folgt weitgehend der östlichen Grenze des eigenmächtig definierten israelischen Stadtverwaltungsbezirks. Luftbilder des Mauerverlaufs zeigen: Aus den palästinensischen Gebieten wird ihr Herzstück, Ost-Jerusalem, geradezu herausamputiert.“[16]

V. Für das Völkerrecht!

Die internationale Staatengemeinschaft muss sich eingestehen, dass es derzeit kaum eine andere Region in der Welt gibt, in der der Anspruch des Völkerrechts so weit von seiner Durchsetzung entfernt ist wie in Palästina. Das gilt für die Anschläge gegen zivile Ziele durch die Palästinenser, sei es durch Raketen oder Selbstmordattentäter, ebenso wie für die gezielten Tötungen durch die israelische Armee und die Zerstörung von palästinensischen Häusern, Gärten und Hainen durch ihre Bulldozer. Wer allerdings nicht erkennt, dass die Terroranschläge der Palästinenser nichts anderes sind als der ohnmächtige Reflex auf den täglichen Terror der Siedlungspolitik mit ihren militärischen Übergriffen und der jüngsten Eskalation durch den Mauerbau, der wird auch weiterhin keinen Beitrag zur Lösung dieses blutigen Konflikts beisteuern können. Die Forderung nach UNO-Friedenstruppen, die die feindlichen Parteien ähnlich wie in Zypern voneinander trennen könnten, ist von Israel wiederholt abgelehnt worden, um nicht in seinen militärischen Möglichkeiten eingeschränkt zu werden. Nirgendwo anders als hier wird deutlich, dass die Ohnmacht der UNO nicht ihrer eigenen Unfähigkeit zuzuschreiben ist, sondern der Weigerung einer Seite, die Vermittlungsdienste der UNO zu akzeptieren. So ist die UNO abgesehen von der Gründungsphase des israelischen Staates in allen späteren blutigen Konflikten auf die Rolle der Beobachterin und Kommentatorin beschränkt und in ihrer Aufgabe der Friedenssicherung und der Durchsetzung des Völkerrechts blockiert worden.

Es geht nicht nur um die Existenz eines Staates, es geht um die Existenz zweier Völker und ihre friedliche Koexistenz, wenn es denn schon nicht um ihr Zusammenleben geht. Und es bleibt die Frage, ob mit der UNO auch das Völkerrecht aus diesem Konflikt herausgehalten werden soll. Doch was mit der UNO möglich ist, lässt sich mit dem Völkerrecht nicht machen. Es definiert die Grundregeln der Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern, wie sie jetzt der IGH mit seinem Gutachten noch einmal aufgezeigt hat. Diese Regeln können nicht einseitig aufgehoben werden. Wo das versucht wird – und das zeigt dieser Konflikt – wird nie Frieden eintreten. Diese Regeln bleiben auch in den künftigen Verhandlungen um eine Lösung die Matrix, innerhalb derer sich die Übereinkunft bewegen muss. Sie definieren die Grenzlinien einer gerechten und akzeptablen Lösung, ob in der Frage der territorialen Grenzen, der Nutzung der Wasservorräte oder der Rückkehr der Flüchtlinge. Innerhalb ihrer Vorgaben gibt es eine Vielzahl möglicher vertraglicher Lösungen. Werden ihre Mindestanforderungen jedoch, z.B. an Selbstbestimmung, Souveränität, territorialer Integrität und Menschenrechte, missachtet, wird auch eine Übereinkunft am Widerstand der Völker scheitern, wie wir es bei den Verträgen von Camp David und Oslo erlebt haben. Die völkerrechtlichen Regeln sind bis auf wenige absolut zwingende Prinzipien wie das Gewalt- und Folterverbot Vorschläge für freie vertragliche Übereinkünfte. Selbst das strikte Annexionsverbot steht einer vertraglichen Abtretung besetzten Gebietes nicht entgegen, wenn sich die Parteien über die Bedingungen einigen. Hier liegt auch die Verantwortung der Staaten, die man nicht davon frei sprechen kann, dass sie diesen Konflikt bis zu einem permanenten Kriegszustand haben eskalieren lassen. Recht oder Gewalt, das ist die kurze Formel der Lehre aus fast vierzig Jahren Gewalt in den israelisch-palästinensischen Beziehungen. Dass die Alternative jetzt nur im Recht liegen kann, dürfte allen klar sein, sie in die Realität umzusetzen, dafür bedarf es allerdings mehr als die schlichte Hoffnung auf einen Neuanfang nach den palästinensischen Wahlen. Es bedarf der radikalen Einsicht in die Notwendigkeit eines souveränen palästinensischen Staates ohne jüdische Siedler auf dem Territorium der Westbank, des Gaza-Streifens und Ost-Jerusalems – in voller Übereinstimmung mit dem Völkerrecht. Nichts anderes ist aus dem Gutachten des IGH herauszulesen.

Fußnoten
  1. International Herald Tribune v. 21. Juni 2005.
  2. IGH Gutachten v. 9. Juli 2004, Rz. 132 ff.
  3. IGH Gutachten, Rz. 135 ff.
  4. UNSR Res. 446 v. 22. März 1979: „…to rescind its previous measures and to desist from taking any action which would result in changing the legal status an geographical nature and materially affecting the demographic composition of the Arab territories occupied since 1967, including Jerusalem and, in particular, not to transfer parts of its own civilian population into the occupied Arab territories.”
  5. Vgl. z.B. Resolution 452 (1979) v. 20. Juli 1979 und Res. 465 (1980) v. 1. März 1980.
  6. Die umstrittene Passage der Resolution lautet: „Withdrawal of Israel armed forces from territories occupied in the recent conflict.”
  7. Res. 298 v. 25. Sept. 1971 : „…all legislative and administrative actions taken by Israel to change the status of the City of Jerusalem, including expropriation of land and properties, transfer of populations and legislation aimed at the incorporation of the occupied section, are totally invalid and cannot change the status.“
  8. Am 31. Januar 2005 berichtete nun auch Peter Schäfer im Neuen Deutschland von der „Landnahme in Ost-Jerusalem“.
  9. Greg Myre, Palestinians Fear East Jerusalem Land Grab, The New York Times v. 25. Januar 2005.
  10. Am 30. Juli 1980 erließ Israel ein Grundgesetz (Basic Law), mit dem es Jerusalem zur „vollständigen und vereinigten“ (complete and united) Hauptstadt Israels machte. Der UNO-Sicherheitsrat verurteilte das Gesetz mit seiner Resolution 478 (1980) am 20. August 1980 als eine Verletzung des Internationalen Rechts und fügte hinzu, „that all legislative and administrative measures and actions taken by Israel, the occupying Power, which have altered or purport to alter the character and status of the Holy City of Jerusalem … are null and void.“ Er forderte die anderen Staaten auf, „not to recognize the ‘basic law’ and such other actions by Israel that, as a result of this law, seek to alter the character and status of Jerusalem.“
  11. Vgl. N. Paech, Bantustan Palästina. Landenteignung und Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten. In: Demokratie und Recht 2/1992, S. 190 ff.; N. Paech, Das verlorene Territorium des palästinensischen Staates. Israels Siedlungspolitik nach dem Oslo-Abkommen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik …/1996 S. 1252 ff.
  12. So Meir Margalit von der Meretz-Partei, zit. nach Peter Schäfer, Wie Ost-Jerusalem geteilt wird. In: Telepolis v. 15. Juni 2005, www.heise.de/tp/r4/artikel/20/202999/1.html.
  13. Vgl. B’tselem – The Israeli Information Center for Human Rights in the occupied Territories, The West Bank, Jewish Settlements and the Separation Barrier, Jerusalem, August, 2004.
  14. Ha’aretz v. 25. Februar 2005.
  15. Mit dieser Begründung hatte er die Trassenführung der Mauer an einigen Stellen korrigiert. So hatte er etwa am 30. Juni 2004 den Verlauf in der Nähe des Dorfes Beit Sourk näher an die Grüne Linie verlegt.
  16. Evangelischer Entwicklungsdienst (EED), Ost-Jerusalem. Gibt es eine Zukunft für palästinensische Familien in einer verriegelten Stadt? Bonn, 15. März 2005, S. 6.
* Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht an der Universität Hamburg.
Dieser Artikel stammt aus der Broschüre „Weg mit der Mauer in Palästina“, herausgegeben im Juli 2005 vom Koordinationskreis Stoppt die Mauer in Palästina: www.stopptdiemauer.de





Zurück zur Israel-Seite

Zur Nahost-Seite

Zur Völkerrechts-Seite

Zurück zur Homepage