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Sie gießen Blei

Von Uri Avnery *

Kurz nach Mitternacht. Das arabische Programm von Al-Dschassira berichtet aus Gaza. Plötzlich dreht die Kamera nach oben: Der Himmel ist dunkel, das Bild bleibt schwarz. Nichts zu sehen. Nur Töne: Flugzeuglärm, ein furchterregendes, schreckliches Dröhnen. Unmöglich, nicht an zehntausende Kinder in Gaza zu denken, die in diesem Moment genau dieses Geräusch hören. Vor Angst erstarrt erwarten sie den Bombenhagel.

»Das Land muss sich vor dem Raketenterror gegen unsere Städte im Süden schützen«, sagt ein Sprecher Israels. »Die Palästinenser müssen auf die Morde im Gazastreifen reagieren«, erklärt der Vertreter der Hamas.

Dies ist nicht das Ende der Waffenruhe, die Waffen haben nie wirklich geruht. Damit sie es könnten, müssten die Grenzübergänge geöffnet werden: Ohne regelmäßige Versorgung kann es in Gaza kein Leben geben. Doch die Grenzübergänge blieben, von ein paar Stunden dann und wann abgesehen, geschlossen. Die Blockade der Land-, See- und Luftwege gegen 1,5 Millionen Menschen ist ebenso ein Kriegsakt wie das Abwerfen von Bomben oder der Abschuss von Raketen. Sie lähmt das Leben im Gazastreifen: Es gibt kaum Arbeit, Hunderttausende leiden Hunger, Krankenhäuser funktionieren nicht mehr, Strom- und Wasserversorgung sind unterbrochen.

Jahrelang förderten die Besatzungsbehörden die islamische Bewegung in den besetzten Gebieten. Während andere politische Aktivitäten rigoros unterdrückt wurden, durfte sie in den Moscheen aktiv sein. Es war eine einfache – und naive – Rechnung: Der Hauptfeind war die PLO, Yassir Arafat der Dämon. Die islamische Bewegung predigte gegen die PLO und Arafat, und galt so als Verbündete.

Mit dem Beginn der Ersten Intifada 1987 gab sich die islamische Bewegung einen neuen Namen. Sie nannte sich »Hamas«, ein arabisches Akronym für »Islamische Widerstandsbewegung«, und schloss sich dem Kampf an. Damals ließ der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet die Hamas lange Zeit ungeschoren, während Mitglieder der Fatah eingesperrt oder exekutiert wurden.

Doch das Blatt hat sich gewendet, heute gilt die Hamas als Dämon. Weitreichende Konzessionen gegenüber der Führung der PLO und Fatah wären das Gebot der Logik für eine an Frieden interessierte israelische Regierung gewesen: ein Ende der Besatzung, ein Friedensabkommen, die Gründung des Staates Palästina, Rückzug auf die Grenzen von 1967, eine vernünftige Lösung für die Flüchtlinge, Freilassung aller palästinensischen Gefangenen. Dies hätte ein Beitrag gegen das Erstarken der Hamas sein können.

Doch nichts davon geschah. Im Gegenteil: Mahmud Abbas, dem Nachfolger Arafats, sollte nicht der geringste politische Erfolg vergönnt sein. Die Verhandlungen unter amerikanischer Ägide waren ein Witz. Der authentischste Führer der Fatah, Marwan Barghouti, wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Statt der Freilassung von Gefangenen gab es nur lächerliche »Gesten«. Die Fatah erschien schließlich als leere Hülse und Hamas gelang ein überwältigender Sieg bei den palästinensischen Wahlen. Israel boykottierte die gewählte Regierung und in der folgenden internen Auseinandersetzung übernahm Hamas die direkte Kontrolle über den Gazastreifen.

Jetzt, nach all dem, hat die israelische Regierung beschlossen, »der Herrschaft der Hamas in Gaza ein Ende zu bereiten« – ein blutiges, von Feuer und Rauchsäulen geprägtes dazu. Das strategische Konzept ist das gleiche wie im letzten Libanon-Krieg: ununterbrochene Luftangriffe sollen die Bevölkerung terrorisieren, Tod und Zerstörung bringen. Für die Piloten besteht keine Gefahr, da die Palästinenser nicht über Luftabwehrwaffen verfügen. Die Berechnung lautet: Wenn die Infrastruktur in Gaza erst einmal komplett vernichtet ist, folgt Anarchie. Die Bevölkerung wird sich erheben und das Regime der Hamas stürzen. Und dann kehrt Mahmud Abbas zurück nach Gaza – auf dem Rücken israelischer Panzer.

Vor einiger Zeit schrieb ich, dass die Blockade Gazas ein Experiment sei: Man wolle herausfinden, wie lange man eine Bevölkerung Hunger leiden lassen und ihr Leben zur Hölle machen könne, bevor sie breche. Dieser Test erfolgt mit großzügiger Hilfe Europas und der USA. Bis heute allerdings ohne Erfolg. Die Hamas ist stärker geworden, die Kassam-Raketen fliegen weiter denn je.

Jeden Tag, jede Nacht sendet das arabische Programm von Al-Dschassira die Schreckensbilder: verstümmelte Körper, verzweifelte Menschen, die ihre Angehörigen in den Leichenbergen suchen, eine Frau, die ihre kleine Tochter unter den Trümmern hervorzieht, Ärzte ohne Medikamente, die versuchen, das Leben der Verwundeten zu retten. (Al-Dschassira in englischer Sprache zeigt übrigens nur noch gesäuberte Bilder, es wäre interessant zu erfahren, warum.)

Millionen in der arabischen Welt sehen diese schrecklichen Bilder, sie prägen sich für immer in ihrem Bewusstsein ein und erfüllen eine weitere Generation mit Hass. Das ist der furchtbare Preis, den wir weiter zahlen werden, wenn alle anderen Kriegsfolgen in Israel längst vergessen sind.

Doch noch etwas anderes prägt sich in den Köpfen ein: das Bild der jämmerlichen, korrupten und passiven arabischen Regimes. Für die 1,5 Millionen Araber in Gaza ist das einzige nicht von Israel kontrollierte Tor zur Welt die ägyptische Grenze. Nur über sie können lebensrettende Nahrung und Medikamente zu den Verletzten gelangen. Doch die ägyptische Armee hat den einzigen Zugang gesperrt. Die Ärzte operieren ohne Narkosemittel weiter.

Dieser Krieg stärkt den islamischen Fundamentalismus, er ist das Menetekel: Israel verpasst die historische Chance, mit dem säkularen arabischen Nationalismus Frieden zu schließen. Morgen schon wird das Land vielleicht mit einer einheitlich fundamentalistischen arabischen Welt konfrontiert sein: die Hamas tausendfach multipliziert.

Mein Taxifahrer in Tel Aviv dachte dieser Tage laut nach: Warum ruft man nicht die Söhne der Minister und Knessetmitglieder zusammen, bildet eine Kampfeinheit und schickt sie beim zu erwartenden Bodenkrieg gegen Gaza als erste in den Kampf?

* Uri Avnery, israelischer Journalist und Schriftsteller (85), Träger des Aachener Friedenspreises und des Alternativen Nobelpreises, war in den 1960er und 1970er Jahren Abgeordneter der Knesset.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian-Astrid Geese

Aus: Neues Deutschland, 3. Januar 2009



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