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Hass und Gewalt auf beiden Seiten: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Zur aktuellen Lage im Nahen Osten - ein Kommentar aus der jungen welt

Der Lynchmord, den ein palästinensischer Mob in der vergangenen Woche an Israelis beging, kostete zwei Menschenleben. Es war ganz offensichtlich ein Lynchmord. Jeder, der im alten Süden Amerikas lebte, hätte es als solchen betrachtet. Kurz zuvor hatte es ein Pogrom in Nazareth gegeben, begangen von einem jüdischen Mob an Arabern. Es kostete zwei Menschenleben. Es war ganz offensichtlich ein Pogrom. Jeder, der im zaristischen Rußland lebte, hätte es als solches erkannt.

Es liegt auf der Hand, auf beiden Seiten, bei Israelis und Palästinensern, ist ein enormer Haß und der Wunsch, die andere Seite zu verletzen. Der Haß auf beiden Seiten hat sich in einer langen Periode entwickelt, trotz der Jahre eines offiziellen Friedensprozesses, der traurigerweise darin scheiterte, Zuversicht und Vertrauen aufzubauen. Dieser Haß bricht nun aus, und er nährt sich gegenseitig.

Soviel zu den Ähnlichkeiten und Symmetrien - soviel und auch nicht mehr. Israelis und Palästinenser sind offenkundig zwei ungleiche Gemeinschaften. Es gibt eine starke Seite und eine enorm schwache, Unterdrücker und Unterdrückte. Auf der einen Seite ist da ein Land mit der stärksten Militärmacht im gesamten Nahen Osten, mit Panzern und Kampfhubschraubern und einem reichlichen Arsenal von Atomwaffen, und auf der anderen Seite steht ein Volk, dessen Bewaffnung bis vor kurzem aus Steinen bestand und das nun zu einigen Handfeuerwaffen gegriffen hat. Da ist ein Land, das seit 52 Jahren souverän ist, das reich ist, das prosperiert und voll und ganz zum industrialisierten Westen gehört - und dort ist ein armes Dritte-Welt-Volk, das enteignet und unterdrückt wird, dem in diesen 52 Jahren immer wieder Hoffnung geschenkt wurde, das aber immer wieder niedergeworfen wurde, das mit einer enormen Hartnäckigkeit und unvorstellbarer Opferbereitschaft für das Recht streitet, zumindest in einem Teil seiner einstigen Heimat frei zu sein. Es gibt die Okkupation - eine häßliche Okkupation, die anhält auch mehr als sieben Jahre nach dem Händeschütteln auf dem Rasen des Weißen Hauses, von dem es damals hieß, es würde die Besatzung beenden; eine Okkupation, die einen brutalisierenden und entmenschlichenden Effekt auf alles hat, was mit ihr in Berührung kommt. Eine Besatzung, die sich in der Beschlagnahme von Land und der Ausweitung von Siedlungen manifestiert, in Häuserzerstörungen, Entwurzelung ganzer Obstgärten und erniedrigenden Durchsuchungen an Kontrollpunkten. Eine Okkupation, die in diesen Tagen deutlich wird in Kampfhubschraubern, die nicht sich selbst verteidigen, sondern Städte bombardieren, und Panzern, die den Belagerungsring um eine hilflose Zivilbevölkerung enger ziehen.

Die Okkupation ist der Schuldige. Sie schürt den Haß und den Konflikt. Die Opfer - Israelis und weit mehr Palästinenser - sind allesamt Opfer der Besatzung. Es gibt keine Sicherheit dafür, daß der Haß mit dem Ende der Okkupation automatisch verschwindet. Aber wir können sicher sein, daß die Fortführung der Besatzung zu einem Anwachsen des Hasses führen wird.

Adam Keller

(Der Autor gehört der israelischen Friedensgruppe Gush Shalom an)


Aus: junge welt vom 16. Oktober 2000

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