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Jerusalem ist mehr als eine Hauptstadt - Jerusalem ist ein Symbol

Die Stadt muss allen gehören - auch den Palaestinensern!

Die Süddeutsche Zeitung brachte im Feuilleton am 06. September 2000 einen Beitrag von Jürgen Wertheimer (Universität Tübingen), in dem die besondere Bedeutung Jerusalems im Nahost-Friedensprozess beleuchtet wurde.

Niemand lebt allein in Jerusalem

B>Eine mittelgroße Provinzstadt in verkehrsungünstiger Lage und ihre symbolische politische Rolle / Von Jürgen Wertheimer

Jerusalem gibt es nicht. Eine "Reise nach Jerusalem" zu machen ist nicht zufällig zu einem Idiom für eine Reise nach nirgendwohin geworden. Selbst das Motto der Millenariumsfeierlichkeiten 1995 - "Jerusalem 3000" - ging von einer falschen Behauptung aus. Denn gefeiert wurde eben nicht die Geschichte der mindestens viertausend Jahre alten jebusitisch-kanaanitischen Stadt, gefeiert wurde ausschließlich das jüdische Jerusalem als Hauptstadt Israels und Zentrum des Judentums, vor rund dreitausend Jahren von König David erobert. Nicht eine Stadt hatte da Jubiläum, sondern ein Symbol. Nein, Jerusalem gibt es nicht. Jedenfalls nicht im Präsens. Nicht als Präsenz. Nicht als konkretes Hier und Jetzt. "Jerusalem" - das ist die programmatische Verhinderung von pragmatischer Wahrnehmung, ist das Prinzip der Verwandlung von Wasser in Wein, von Stein in Symbol. Es findet, wie der jüdische Dichter Amos Elon sagt, eine vollständige Transformation, Transsubstantiation der Lebensgestaltung statt, im Gefolge dessen die "Juden, in moralischer Hinsicht so zu leben begannen wie die Japaner im wahrsten Sinn des Wortes - in einem Haus aus Papier": der Bibel, dieser rhetorisch und poetisch so virtuos gestalteten nationalen Selbstfindungsschrift aus dem 10. Jahrhundert vor "Christus". Was die Technik der Mythenbildung zum Zweck der politischen Stabilisierung nach innen betrifft, haben die jüdischen Religionsstifter alles richtig gemacht, und die materialisierte Idee Jerusalem spielte dabei eine suggestive Zentralrolle. Wann immer die Existenz der jungen "Nation" auf dem Spiel stand, genügte der Hinweis auf die Gefährdung der "nationalen Weihestätte", um die Reihen wieder dichter zu schließen. Jerusalems Schlüsselrolle für das Schicksal des Ganzen ist eine propagandistische Meisterleistung. Der Schrein im Tempel könnte völlig leer sein. Jerusalem enthält keine Botschaft, es ist die Botschaft.

Als Pompejus im Herbst des Jahres 63 in Jerusalem einzog, um die jüngste Eroberung Roms in Augenschein zu nehmen, betrat er das innere Heiligtum, zu dem einzig und allein der Hohepriester Zutritt hatte und entdeckte dort, wie Tacitus berichtet, - Nichts: "vanam et inania arcana", einen leeren Platz, ein Heiligtum ohne Heiligtum. "Visible but unseen" - Salman Rushdies Formulierung trifft auf Jerusalem zu wie auf keinen zweiten Ort.

Zu Jerusalem ist alles gesagt. Nur das wichtigste nicht; nämlich dass es kein Wunder ist, wenn hier auf ein paar Quadratkilometern religiöse Konzepte und Konflikte für mehr als die halbe Welt entstanden. Es gibt keinen Grund, religiös erschauernd an den Stätten des Glaubens zu verweilen, eher kritisch nachdenklich. Es ist schon richtig: Hier rief Jesaja in die Wüste, und hier trug Jesus eine Krone aus Dornen und wurde zusammen mit den zwei Dieben gekreuzigt. Ein kleiner Haufen religiöser Sektierer, Christen genannt, glaubte an Jesus. Sie versammelten sich nach seinem Tod heimlich in dieser Stadt und übernahmen schließlich - im Namen der Hoffnung - die Macht über das Römische Reich und die gesamte Mittelmeerwelt. Hier ergriff auch die Eschatologie, die sich mit der Apokalypse und dem Tausendjährigen Reich Gottes, dem Tod und der Auferstehung befasst, die Herzen der Menschen und sollte sie nie wieder loslassen. Hierher kam nach moslemischer Lehre Mohammed bei seinem nächtlichen Ritt auf dem Rücken einer weißen geflügelten Stute und stieg auf einer Treppe aus Licht in den Himmel auf.

Spätestens seit dem zwölften Jahrhundert kommen Juden hierher, um dreimal täglich an der Klagemauer zu beten: "Erbaue sie nächstens und in unseren Tagen . . . wie du es uns hast verheißen". Hier marschierten im Jahr 1099 die Kreuzfahrer, reumütig und bis zu den Knien in Blut watend, den Kalvarienberg hinauf.

All dies geschah hier, und es musste mit einer gewissen Logik hier geschehen, nachdem es einem Stamm unter hunderten gelungen war, sich einen Kultort der absoluten Wahrheit auszudenken und, was für die konkreten Folgen noch schwerwiegender ist, ihn topographisch zu fixieren: zwanzig Belagerungen, zwei vollständige Zerstörungen, achtundvierzig Wiederaufbauversuche, elf Religionswechsel. Ungezählte Kriege sind nicht Zufall und auch nicht Schicksal. Sie sind Folge eines Anspruchs auf Wahrheit, der die betroffenen Individuen permanent überforderte und zu Märtyrern und Gefangenen ihrer eigenen Ideologie werden ließ. Wo man sich im Besitz einer kollektiven Wahrheit weiß, ist Skeptizismus und Ironie ein Verstoß gegen die Ordnung, Sakrileg. Ein System, das sich selbst so konditioniert hat, kann keine Abweichler dulden. Es muss sich aggressiv verteidigen, und es zieht Aggressoren an.

Natürlich geht es nicht um Schuldzuweisungen. Es geht um ein Verstehen des Mechanismus, der aus Religion Ideologie, aus Ideologie Konflikt, aus Konflikt Krieg werden lässt. An Orten der Wahrheit treffen Rechthaber aufeinander. Besonders rücksichtslose Rechthaber werden an Orte versetzt, die als "schwierig" gelten. Mit Pontius Pilatus zum Beispiel kam ein Mann von besonderer Rücksichtslosigkeit, Gewalttätigkeit und Ungeschicklichkeit an die Macht, und er tat alles, um die ohnehin hochsensiblen religiösen Gefühle der Judäer zu verletzen und die Konfrontation zu intensivieren. Und auch Jesus Christus wusste, was er tat, als er - um die Auseinandersetzungen auf die Spitze zu treiben - nach Jerusalem zog.

Und doch: kaum eine Publikation, die selbst heutzutage nicht mit leiser Wehmut von der Stadt der Religionsvielfalt, der kulturellen Vermischung, des Nebeneinanders von Judentum, Christentum und Islam schwärmt. Auch hier liegt ein Wahrnehmungsfehler vor. Das Besondere an Jerusalem ist nicht seine Vielfalt, sondern seine Mehrdeutigkeit. Kaum ein Ort, kaum ein Stein, der nicht mehrere Etiketten trüge. Prominentestes Beispiel, der Tempelberg, jener Platz also, an dem "alles" begann, wechselweise mystifiziert und glorifiziert als Weltmittelpunkt, Adams Grab, Isaaks Opferstätte, Tenne des Arawna - eine Art Deponie der Legenden. In den Abhängen und Talmulden um Jerusalem sammelt sich der Kulturschutt von vier, fünf Jahrtausenden. Jüdische, christliche, muslimische Ablagerungen. Konfessionell durchmischt, wie man sich vorstellen kann. Oben jedoch bemüht man sich, Zusammengehöriges sauber voneinander zu trennen. Nach Religionen strikt voneinander separierte Ein- und Ausgänge. In der Grabeskirche zwanzig Kapellen für einander sich befehdende Sekten.

Wie lange dieser Wahn der einen Wahrheit, der gefälschten Eindeutigkeiten, des Wirklichkeitsschwundes, die Krankheit der Ausblendung noch weiterwirken wird? Vermutlich bis zum Ende der Erinnerungen. Man ist sich allgemein darüber einig, dass es unbestreitbar wichtig und moralisch richtig sei, kollektive Erfahrungen, vorzugsweise kollektive Desaster, im Gedächtnis zu bewahren. Aus Gründen der Pietät, der Würde oder der Warnung vor Geschehenem und der Vermeidung von Wiederholungen. Jeder arbeitet sich an den Erfahrungen anderer ab, rächt deren Leid, sühnt deren Schuld, feiert deren Siege. Es entsteht eine endlose Kette von mittelbaren Motivationen, aus denen die Individuen der Gegenwart Handlungsanweisungen aus der Vergangenheit ableiten, sich auf höchst artifizielle Art auf Motivations-Krücken stützen und so durch ein ganz anderes Leben humpeln.

Jerusalem ohne den Ballast seiner Vergangenheit. Eine absurde Vorstellung. Eine mittelgroße Provinzstadt in etwas verkehrsungünstiger Lage - nichts weiter. Keiner wusste mehr, dass er verpflichtet ist, diese oder jene Gruppen und Mitbewohner zu hassen oder zu verachten und dass er gute, die besten Gründe dazu zu haben glaubt.

Was für fast alle Orte und Kulturräume eine gewisse Geltung hat, ist für Jerusalem von zentraler Bedeutung, da unter jedem Stein Schichten von Schrift liegen, die Stadt als gigantisches Text-Palimpsest und zu Schrift gewordener Erinnerungsspeicher. Dass die "Bibel doch recht hat", mag für fleißige Ausgräber eine kleine Sensation sein. Folgenschwerer ist, dass die Bibel, das Alte und das Neue Testament und genauso der Koran auch dann Recht gehabt und Recht behalten hätten, wenn man nicht einen Kieselstein mehr gefunden hätte. Insofern war Titus' Versuch, die Erinnerungstaue gewaltsam zu kappen, letztendlich verzweifelt naiv. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, die "Stadt Jerusalem" spurlos zu beseitigen, wäre die "Geisterstadt Jerusalem" in den Köpfen ihrer Beschreiber existent geblieben. Homers Troja, Vergils Rom oder das sagenhafte Atlantis sind nur schwache Vergleichsräume. Dem ersten fehlt die religiöse Dimension, dem zweiten steht eine zu starke Wirklichkeit entgegen, das dritte entbehrt des konkreten Ortes. Allein Jerusalem zeichnet sich durch die phantastische Kombination von Symbol- und Dinghaftigkeit, von Text und Ort aus, die den Mythos übermächtig und bis in die Gegenwart handlungsmächtig werden ließ.

Keinen Frieden ohne Religionsfrieden hält der Tübinger Theologe und "Weltethos"-Forscher Hans Küng für möglich. Eine eingängige Formulierung, deren Charme freilich weniger in ihrem Wahrheitsgehalt als in der vermutlich ungewollten Vertauschung von Ursache und Wirkung liegt. Es ist als ob man von einer Schwangerschaft ohne Zeugungsvorgang oder von einem Donner ohne Blitzschlag spräche. Religion, vor allem monotheistische Religionen sind genuine Konfliktkraftwerke: sie erzeugen große bipolare Wertordnungen und türmen drängendes, mit "Schuld" und "Sühne" geladenes Ideologiegewölk auf. Als 1967 in Jerusalem die Grenzen geöffnet wurden und Jordanier in den israelischen und Juden in den arabischen Teil gelangten, kam es nicht zu den vorher allseits befürchteten Massakern. Stattdessen Tränen, Emotionen, Rührung. Vor allem aber Staunen. Neugier, sogar Komik. Das Faszinosum der Normalität. Araber, die sich über die ihnen bis dahin unbekannten rot-grünen Männchen an den Fußgängerampeln schief lachten. Juden, die mit den Arabern Zigaretten tauschten und auf der Straße rauchten. Selbst in Jerusalem war Normalität und Religiosität möglich. Für einen Moment jedenfalls, als es den Menschen möglich war, sich als Einzelwesen gegenüberzutreten und von einer Seite her zu beten. Den Mythos durchschauen und zu sich zu kommen, ist selbst dort möglich.

Amos Oz schlägt eine regelrechte Kampagne vor, bei der die einfachen Worte "Niemand lebt allein in Jerusalem" als Aufkleber auf jedem israelischen oder palästinensischen Auto und auf jeder Plakatwand in den Straßen erscheinen sollten. Denn, so Oz, wer so tut, als wäre er allein in Jerusalem, verdammt sich selbst zu einem Leben wie auf dem "Mauerberg", einem steinigen Hügel am südöstlichen Stadtrand, der zur Siedlung Har Choma ausgebaut werden soll, "belagert, bedrängt, eingeschlossen". Die politische Sensibilität des symbol- und mythenbeladenen Ortes Jerusalem zeigte sich einmal mehr in den jüngsten Verhandlungen um den künftigen Status der Stadt. Wollte man aus diesen Erfahrungen eine Lehre ziehen, so jene, die Stadt soweit irgend möglich nicht mit zusätzlichen symbolischen Mandaten (etwa einem übernationalen Status) zu beladen, sondern ihr ein wenig mehr Normalität zu gewähren.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 06. September 2000

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