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Blick auf die Gefahrenzonen

Von Pedram Shahyar *

Günter Grass hat mit seinem Gedicht »Was gesagt werden muss« die Schleusen der Kritik geöffnet, seine Warnung vor einem atomaren Krieg gegen Iran wird weithin geschmäht - von den einen als Auswurf tief verwurzelter Judenfeindlichkeit, von den anderen als sachlich inkompetente Äußerung eines alternden Schriftstellers. Aber vor allem jenseits der politischen Feuilletons mehren sich auch die Stimmen, die Grass verteidigen und seine Warnung ernst zu nehmen verlangen.

Israelkritik in Deutschland? Nein, leicht ist das nicht, und Günter Grass ist niemand, dem dies entgangen ist. Wir erinnern uns zu gut an Jürgen Möllemann und seine Israelkritik im Wahlkampf. Er bediente die Figur der eigenen Schuld der Juden am Antisemitismus, um am rechten Rand zu sammeln und die FDP auf 18 Prozent zu hieven. Kritik an Israel ist immer eine der zentralen Projektionsflächen des rechtsradikalen Randes der Bundesrepublik gewesen; derjenigen, die den Juden den Holocaust nie verziehen haben, die sich ihrer imperialen Biografien beraubt fühlten. Dieser Rand war es, der ihre antisemitischen Ressentiments, ihre Verschwörungstheorien von mächtigen Juden, die eine Weltordnung dominieren, in der die Deutschen zu kurz kommen, als Tabubruch inszenierte.

Diese alte Sehnsucht nach Größe wurde 1998 in der Frankfurter Paulskirche bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels abgesegnet, als Martin Walser nach einem Schlussstrich rief, um »den Deutschen« wieder ihre »normale« herausgehobene Position ohne Scham zu ermöglichen. Nachdem die intellektuelle Elite, ausgenommen der großartige Ignaz Bubis, hier Beifall geklatscht hatte, war man sich wiederum einig, als die geläuterten und an die Macht gekommenen 68er Militarismus und Kriegspolitik aus einer scheinbar aufgeklärten Aufarbeitung der Geschichte ableiteten und zur neuen Staatsräson erhoben. Der Schwur aus Buchenwald »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg« wich einem Geschichtsbewusstsein, das in die Bombardierung Jugoslawiens mündete, um angeblich einen Völkermord zu verhindern. Gepanzert mit dem neuen Menschenrechtsimperialismus marschierte man wieder mit den westlich-imperialen Truppen für die Durchsetzung der Aufklärung gegen die fundamentalistischen Barbaren am Rande des Imperiums.

Das Gedicht von Günter Grass hat mit dem oben genannten inszenierten Tabubruch nichts zu tun. Es ist höchstens im ästhetischem Sinne konservativ, weil es die Figur des Dichters als Mahner bedient, aber nicht in einer zynischen Abwendung von der Welt, sondern im Sinne eines politischen Weckrufs. Die Welle der Ablehnung, die er in der Elite der Meinungsmacher dieses Landes erfährt, bestätigt die von ihm angesprochene Scheu, sich auszusprechen, aber auch die Notwendigkeit seiner Intervention. Wir haben es ja nicht mit einem konstruierten Sinnzusammenhang, sondern einer realen unmittelbaren Kriegsgefahr zu tun, zu der die Bundesregierung mittels Waffenlieferungen beiträgt. Das Verschweigen, von dem Grass spricht, ist die produzierte Blindheit der Öffentlichkeit gegenüber den Gefahren dieses Krieges, ein wichtiges Moment der Kriegsvorbereitung. Grass behauptet nicht, Israel sei die größte, aber die aktuelle Gefahr für den Frieden, und dies ist eine bittere Wahrheit.

Man weiß nicht, wie katastrophal dieser Krieg enden würde, aber viele der Katastrophen sind vorhersehbar. Allen voran würde die Hoffnung auf einen demokratischen Wandel sterben und auf die Annäherung der Kulturen in der Region. Die Kairoer Rede Obamas, als er den Kampf der Kulturen für beendet erklärte und der muslimischen Welt die Hand reichte, könnte dann als historisches Dokument ins Archiv. Eine neue Runde religiösen Hasses würde aufflammen, die radikalen Fundamentalisten würden von den westlichen Grenzen Nordafrikas bis in die südlichen Provinzen Russlands zum Widerstand gegen die imperialen Truppen blasen. Der kleine, zarte, aber so wirkungsmächtige Kern des Aufbruchs aus dem arabischen Frühling würde unter Kriegsgeheul genauso zertrampelt werden wie die neue oppositionelle Jugend in Israel, die im Sommer die Plätze belagerte. Kampfpiloten, Laserraketen und Milizen würden wieder das Bild bestimmen, die Tahir-Kids würden schnell vergessen sein, das alles ist sicher. Wie groß die zivilen Opfer wären, ob oder wie viel von Iran atomar verstrahlt würde, wie weit noch andere Parteien in den Konflikt hineingezogen würden, wie stark der Ölfluss gestört würde, was mit der labilen Weltwirtschaft und mit der Balance zwischen den imperialen Blöcken passierte; das alles lässt sich nicht voraussagen, liefert aber viel Stoff für apokalyptische Bilder.

Nein, es ist nicht die iranische Atombombe, die den Weltfrieden bedroht. Iran ist eine schlimme Diktatur, deren Folterkeller ihresgleichen auf der Welt suchen und deren Sicherheitsorgane den ägyptischen oder libyschen weit überlegen sind. Aber das iranische Atomprogramm, ohne Zweifel auch militärisch motiviert, ist defensiver Natur. Grass' Bild des »Maulhelden« trifft zu, weil das iranische Regime mit der Option auf die Atombombe womöglich eine Lebensversicherung gegen die unveränderten Pläne Pentagons für einen militärischen Regimewechsel von Außen anstreben könnte, aber ein Angriff auf Israel ist trotz des ideologischen Maulheldentums gegen die iranische Staatsräson.

Das Regime in Iran ist entgegen plumpen Darstellungen alles andere als irrational und verrückt, eine Diktatur mit Elitenpluralismus und einer relativ hohen institutionellen Diversität. Jeder dort weiß: Bevor die erste ungenaue Rakete das iranische Territorium auch nur verlassen hat, werden Dutzende Atombomben auf Iran regnen. Iran könnte mit seinem militärischen Potenzial Israel nicht auslöschen, Israel aber könnte es umgekehrt. Dieser Perspektivenwechsel auf die Gefahrenzonen ist das Verdienst von Günter Grass. Die iranische Diktatur hat in den letzten Jahren massiv an Unterstützung verloren und ist in der eigenen Bevölkerung weitestgehend isoliert, Druck von außen kommt der Führung recht. In der westlichen Öffentlichkeit wird sie zu einer mächtigen Drohkulisse aufgebaut, um davon abzulenken, dass das Bündnis der Rechten mit den Rechtsradikalen in Israel die eigentliche Gefahr für eine kriegerische Eskalation darstellt.

Die Aufgabe liegt hier nicht in falscher Scheu, sondern in der internationalen Isolation dieser Kräfte in Israel, um den progressiven Stimmen dort Gehör zu verschaffen, eine ernsthafte humane Wende in der Politik und eine Annäherung an die Nachbarn zu beginnen. Die Vorzeichen sind nach dem arabischen Frühling so gut wie nie. Zugleich aber ist die Gefahr groß wie nie, alle Hoffnung für Jahre zu vernichten.

* Der Autor ist gebürtiger Iraner, dessen Eltern das Land als politische Flüchtlinge verließen. Der Publizist ist prominentes Mitglied mehrerer sozialer Bewegungen. Er betreibt den Blog pedram-shahyar.org/

Aus: neues deutschland, Samstag, 7. April 2012


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