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Waffenruhe nicht eingehalten - Wieder zahlreiche Tote

Im Gazastreifen und im Westjordanland gehen die Kämpfe weiter (4. Oktober 2000)

Nur wenige Stunden nach Inkrafttreten einer zwischen Israelis und Palästinensern vereinbarten Waffenruhe sind die Kämpfe am Dienstag wieder aufgeflammt. Sowohl aus Gaza wie aus weiten Teilen des Westjordanlandes vermeldeten israelische und palästinensische Medien schwere Auseinandersetzungen, an denen sich auch palästinensische Polizisten und Geheimpolizisten mit Schüssen auf israelische Soldaten beteiligten. Mindestens ein Palästinenser soll getötet, mehrere Dutzend verletzt worden sein. Die israelische Armee setzte nach Angaben des Armeerundfunks in Gaza wiederholt Abwehrraketen ein. Außerdem schoss sie mit gummiummantelten Stahlkugeln auf Palästinenser, nachdem sie sich am Morgen aus vielen Gebieten bereits zurückgezogen hatte. Im überwiegend autonomen Gazastreifen leben etwa 1,5 Millionen Palästinenser und rund 6.000 rechtsradikale jüdische Siedler, die von mehreren tausend israelischen Soldaten geschützt werden.

Kämpfe wurden am Dienstag auch aus allen größeren Städten in Westjordanland gemeldet, darunter Hebron, Nablus und Ramallah, sowie aus arabischen Städten im Norden Israels wie Nazareth und Umm al-Fahm. In den blutigen Auseinandersetzungen, die vor sechs Tagen nach einem umstrittenen Besuch von Oppositionsführer Ariel Scharon auf dem Tempelberg-Plateau mit der Al-Aksa-Moschee und dem Felsendom begonnen hatten, sind bislang über 50 Palästinenser und israelische Araber sowie drei israelische Soldaten und ein Zivilist getötet worden. Weit über tausend Menschen wurden bislang verletzt.

Am Dienstag, (03.10.) hatte ein Sprecher der israelischen Armee zugegeben, dass israelische Soldaten den zwölfjährigen Mohammed al-Durah in Gaza getötet hatten, dessen von einem französischen Kameramann gefilmter Tod weltweit Entsetzen ausgelöst hatte. Barak wies aber den Vorwurf zurück, die israelischen Soldaten würden unverhältnismäßig hart auf Steine schmeißende Palästinenser reagieren.

Auf Initiative von US-Präsident Bill Clinton beginnen am Mittwoch, den 4. Oktober 2000, - zunächst getrennte - Verhandlungen mit Premierminister Ehud Barak und Palästinenserpräsident Jassir Arafat. Sie werden von US-Außenministerin Madeleine Albright geführt. Clinton erklärte im amerikanischen Fernsehen, sobald sich "der Rauch über der Region gelichtet hat", bestünden "gute Chancen", dass die beiden Parteien wieder miteinander verhandelten. Einen Tag später werden Barak und Arafat zu Gesprächen mit Ägyptens Staatschef Hosni Mubarak in Kairo erwartet.

Empörung in den arabischen Staaten

In einigen Hauptstädten des Nahen Osten gab es in den letzten Tagen erste größere Demonstrationen für die Sache der Palästinenser und gegen Israel: In der jemenitischen Hauptstadt Sanaa gingen Tausende auf die Stra0e, in der syrischen Hauptstadt Damaskus protestierten Palästinenser aus den Flüchtlingslagern, und auch in Bagdad wurde eine Demonstration gegen Israel erlaubt.

Unterdessen fordern arabische Staatsmänner eine Gipfelkonferenz. Ägyptens Staatschef Hosni Mubarak teilte mit, dass sich 22 Staats- und Regierungschefs auf einen Sondergipfel im Januar 2001 verständigt hätten. Auf deiesem Gipfel sollte den Palästinensern der Rücken in der Jerusalem-Frage gestärkt werden. Das heißt - und dies machte Mubarak auch Präsident Clinton klar - die heiligen Stätten Jerusalems dürften nicht unter israelische Kontrolle geraten.

Kommentare

Überwiegend kritische Kommentare zur israelischen Politik gegenüber Palästina waren auch am 4. Oktober in den Zeitungen zu lesen. Auch die Aussichten auf den weiteren Friedensprozess werden darin sehr pessimistisch beurteilt. Zwei Kostproben (Ausschnitte aus Kommentaren der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Rundschau):

Thorsten Schmitz schreibt in der SZ:
...
Im Moment scheint es so, als habe die Stippvisite von Ariel Scharon am vergangenen Donnerstag auf die Esplanade des Tempelbergs in Jerusalems Altstadt den fragilen Friedensprozess um Monate zurückgeworfen. Es sieht so aus, als seien diese wenigen symbolträchtigen Quadratmeter Geschichtsboden vielen Juden und Palästinensern wichtiger, als die Lösung der Fragen nach den künftigen Grenzen, der Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge oder die gerechte Verteilung der knappen Wasserressourcen. Der brutale Zyniker Scharon weiß das. Er suchte mit seinem Tempelberg-Trip und Billig-Populismus seinen innerparteilichen Status im rechts-nationalen Likud zu festigen. Jeder Jude habe das Recht, das Tempelberg-Plateau zu betreten. Er habe das "schon oft" gemacht. So tönte er. Allerdings kann er sich nicht erinnern, wann er zuletzt zwischen den islamischen Heiligtümern Felsendom und Al-Aksa-Moschee flanierte. Kein Jude betritt den Tempelberg, Scharon hat Wahlkampf betrieben, und 50 Menschen starben deswegen.

Der Ausbruch der Gewalt, initiiert durch das arrogante Herrenmenschengehabe Scharons, zeigt zudem, dass es noch immer zu früh ist für Optimismus in der und für die Region. Die eruptive Gewalt der jüngsten Tage veranschaulicht, dass seit dem Scheitern des Gipfeltreffens in Camp David im Juli zwar erstaunlich viel geredet und geflogen, letztlich aber nichts Entscheidendes gesagt wurde. Nur zwei Tage vor dem Scharon-Fanal hatten sich Palästinenserpräsident Jassir Arafat und Premierminister Ehud Barak noch in dessen Einfamilienhaus auf israelischem Territorium zu einem Mitternachtsmahl mit Humus und Pita-Broten eingefunden. Das Zusammentreffen sollte Blockaden brechen und die Hoffnung des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton nähren, dass noch vor Ablauf seiner Amtszeit im Januar ein Endstatus zwischen beiden Seiten ausgehandelt werden könne. Stattdessen bringen sich Palästinenser und Israelis nur 48 Stunden später in den blutigsten Kämpfen seit vier Jahren gegenseitig um.

Es mag ja sein, dass Barak in Camp David als erster israelischer Premier Konzessionen in der Frage nach dem künftigen Status Jerusalems gemacht hat, und es mag zutreffen, dass Arafat früher oder später einer UN-Verwaltung Ost-Jerusalems zustimmt - leider aber haben die zwei Regenten ihre Völker aus den Augen verloren. Bei den Palästinensern geht es ums heilige Jerusalem; in der Wut der Kämpfer auf den Straßen entlädt sich auch eine über Jahre angestaute Aggression. Die Palästinenser in Gaza und Westbank haben nichts vom Leben außer israelische Soldaten, die sie unterdrücken, und eine korrupte, misswirtschaftende Autonomieregierung, die EU-Gelder an Flüchtlingen vorbei schleust und in schicke Limousinen und in Tausende bewaffneten Soldaten und Polizisten investiert, die auf Israelis schießen. Barak auf der anderen Seite hat sich nie für die Interessen der eine Million arabischen Israelis stark gemacht, die ihn immerhin zu 90 Prozent gewählt hatten. Sie sind Bürger zweiter Klasse und fühlen sich den Palästinensern näher als den Israelis, obwohl sie israelische Pässe besitzen.

Baraks Ignoranz ihnen gegenüber wird ihm jetzt das Genick brechen. Auf seiner Suche nach einer neuen Koalitionsregierung wollte Barak sich auf die Stimmen von mindestens zehn arabischen Abgeordneten in der Knesset stützen, doch die haben schon zu verstehen gegeben, dass sie Barak nicht mehr folgen werden. Der Premier- und Verteidigungsminister steht nun einsam und allein auf dem waffenstillen Schlachtfeld; seine Tage sind gezählt. Im Parlament wird er keine neue Regierung zusammenbringen können. Und jene Israelis, die im Juli noch friedensfroh und optimistisch waren, haben nun wieder Angst vor den Palästinensern. Es wird also Neuwahlen geben in Israel. Und so, wie die Zeichen jetzt stehen, wird nicht Barak siegen, der den Frieden mit den Palästinensern in greifbarste Nähe gerückt hatte, sondern, so ist zu unterstellen, ein rechter Likudnik. Das bedeutet: eine neue Eiszeit im heißen Nahen Osten steht bevor.

Und Inge Günther schreibt in der FR:
...
Das alte Ziel, der Friedensprozess möge zu einer dauerhaften Aussöhnung der beiden Völker führen, gar das Ende eines Jahrhundertkonflikts offiziell besiegeln, scheint mehr denn je eine Illusion. Der Schock über die jüngste Welle der Gewalt, der zu Tage getretene Hass, die Bilder zu Grabe getragener Kinder lassen in Nahost die kühnsten Optimisten verzweifeln.

Dabei hatten sich erst vor einer Woche Barak und Arafat zu einem informellen Dinner in - wie es hieß - ausgesprochen netter Atmosphäre getroffen, was den Hoffnungen auf einen nahen Verhandlungsdurchbruch Auftrieb verlieh. Und am selben Tag, als sich Hardliner Ariel Scharon mit tausend israelischen Grenzpolizisten im Gefolge Eintritt zum Tempelberg, dem islamischen Haram al-Scharif, verschaffte und damit das Startsignal zu den gewalttätigen Unruhen lieferte, gab es ja noch eine hoffnungsvolle Botschaft: die Meldung, dass im Friedenskonzept von Regierungschef Barak zwei Kapitalen in Jerusalem, eine israelische und eine palästinensische, vorgesehen sind. Selbst über die komplizierteste aller Streitfragen, die nach der künftigen Souveränität über die heiligen Stätten, wurde zumindest debattiert.

Nach nüchternem Befund liegt jetzt, da die Idee von einem "heiligen Krieg" zur Befreiung der Jerusalemer Moscheen die palästinensischen Aufständischen befeuert, eine Kompromisslösung für den Haram al-Scharif jenseits der Vorstellungskraft. Arafat mag das als Punkt für sich verbuchen. Hat er doch bereits beim Gipfel von Camp David auf alleiniger Hoheit beharrt. Auch den Moslems in aller Welt ist nun der Beweis erbracht, dass die Palästinenser gar ihr Leben riskieren, um das dritthöchste Heiligtum des Islam zu verteidigen. Dem PLO-Chef deshalb einen cleveren Plot zu unterstellen, in dem er - wie viele Israelis meinen - die Provokation Scharons zur bewussten Aufstachelung nutzte, greift dennoch zu kurz. Eigentlich war für ihn die militante Option eher eine verbale Drohung für den Fall, dass die Israelis in den Friedensgesprächen nicht genügend Entgegenkommen zeigten. Als Verhandlungskarte ist diese Option jetzt ausgespielt.

In noch misslicherer Position befindet sich Barak, der Premier, der weder eine Koalition noch eine Mehrheit im Parlament besitzt. Die Bildung eines links-säkularen Minderheitskabinetts, das zur Abwendung von Misstrauensvoten auf die arabischen Stimmen in der Knesset angewiesen wäre, kann er vergessen. Zumindest für die absehbare Zeit, in der Revanchegelüste die Stimmung der arabischen Minderheit dominieren dürften, nachdem ihre eigene Revolte blutig niedergeknüppelt und -geschossen wurde. Und mit dem Kriegstreiber Scharon könnte sich Barak nur um den Preis zusammenschließen, seine Glaubwürdigkeit völlig zu ruinieren.

Doch diesen Krisen haftet etwas Banales an im Vergleich zu dem realen Notstand. Vordringlichste Aufgabe ist daher der unbedingte Wille zur Deeskalation, auch wenn sie punktuell misslingt. Sollte der Versuch scheitern, den Konflikt wieder auf diplomatischer Ebene zu zivilisieren, droht ein Worst-Case-Szenario, das Schlittern in einen religiös motivierten Guerilla-Krieg. Intifada, der "Aufstand der Steine", das war einmal. Die Alternative zu Frieden bedeutet heute einen Rückfall in den bewaffneten Kampf.

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