Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Abschiedsküsse werden inniger

Israel bereitet intensiv Bodenoffensive im Gaza-Streifen vor

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

Bei der jüngsten Eskalation im Gaza-Konflikt ist kein Ende in Sicht. Zwar verhandeln die Konfliktparteien im Hintergrund über einen Waffenstillstand. Doch Israels Regierung setzt seine Vorbereitungen für eine Bodenoffensive fort. Im Gaza-Streifen steigt die Angst vor dem Krieg und der Zeit danach - was, wenn es dann keine Regierung mehr gibt?

Auf den ersten Blick wirkt dieser Tagesanbruch wie ein ganz normaler Sonntagmorgen an der Zentralen Busstation in Jerusalem: Am ersten Werktag der Woche drängen sich Hunderte vor den Toren der Buslinien, die in alle Teile des Landes führen. Doch dieser Morgen ist anders. Die Stimmung ist gedrückt; die Abschiedsküsse, die sich junge Paare geben, wenn der Busfahrer die Tür öffnet, wirken inniger, die Gesichter ernster. Immer wieder sind Gesprächsfetzen zu hören, die sich mit der Frage beschäftigen, was wohl passieren wird.

Denn viele der jungen Männer, die sich hier in den frühen Morgenstunden auf den Weg machen, reisen in eine ungewisse Zukunft. Zum Militär. Und dann möglicherweise nach Gaza, auf das die Luftwaffe nach wie vor ununterbrochen Angriffe fliegt. 16 000 Reservisten wurden am Freitag einberufen, bis zu 60 000 weitere könnten folgen - zusätzlich zum stehenden Heer. Während des Libanon-Krieges im Sommer 2006 waren insgesamt 60 000 Reservisten einberufen worden.

Was ist das Ziel? Immer wieder wird in diesen Tagen diese Frage gestellt, auf der israelischen wie der palästinensischen Seite. In Gesprächen mit Menschen auf beiden Seiten wird stets eine Forderung laut: Man möchte, dass der Raketenbeschuss endet, dass die Luftangriffe aufhören. Die Euphorie, die in den ersten Tagen durchklang, wenn die eigene Seite der anderen Seite einen Schlag verpasst, einen Anführer der Hamas getötet hat oder Raketen bis nach Jerusalem oder Tel Aviv schoss, ist weitgehend abgeklungen. Solch Jubel, heißt es in einer Studie der Columbia University in New York, sei in Situationen wie dieser üblich: Sie befreie Betroffene kurzzeitig vom Gefühl der Ausweglosigkeit.

Doch das währt nur kurz, in Israel - und auch in Gaza. Dort beschäftigen nun vor allem die Fragen des Alltags: Fünf Tage dauern die Luftangriffe schon an. Die Stromversorgung ist weitgehend zusammengebrochen und die Läden sind geschlossen. Sie hätten allerdings ohnehin immer weniger zu verkaufen.

Die wenigen Lieferungen, die den dicht bevölkerten Landstrich sonst erreichten, wurden komplett eingestellt - in einer Situation, in der die Versorgungslage ohnehin chronisch angespannt ist. Zwar haben das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und die Vereinten Nationen am Sonntagmorgen ausgehandelt, Hilfsgüter nach Gaza einführen zu dürfen. Doch die vereinbarten 15 Lastwagenladungen seien bei Weitem nicht genug, um die Lage einigermaßen zu entspannen, sagte ein IKRK-Sprecher.

Sorgen bereitet auch zunehmend die Frage nach der Zeit nach Ende des bewaffneten Konflikts. Viele Menschen in Gaza erinnern sich mit Schrecken an die bürgerkriegsähnlichen Zustände auf dem Höhepunkt des Machtkampfes zwischen Hamas und Fatah 2006 und 2007. Sie befürchten, dass die Hamas die Kontrolle verlieren könnte. Nach dem Angriff auf den Amtssitz von De-facto-Premierminister Ismail Hanija ist dies eine Möglichkeit. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass die Strukturen der dortigen Regierung durch die Luftangriffe nachhaltig geschädigt wurden.

In der israelischen Linken, aber auch im Zentrum, wird derweil eine ganz andere Befürchtung angesprochen. Nämlich, dass die Rechte die Gelegenheit nutzen könnte, um das zu korrigieren, was sie als »historischen Fehler« (Zitat des heutigen Regierungschefs Israels Benjamin Netanjahu) bezeichnet: Die Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen im Sommer 2005. Vor allem die Siedlerbewegung, aber auch viele in Netanjahus Likud-Block sehen in ihr die Ursache für den Raketenbeschuss. Israel habe dadurch seine Abschreckung verloren. Nur: Raketen wurden auch vor der Räumung abgeschossen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 19. November 2012


Zurück zur Israel-Seite

Zur Gaza-Seite

Zurück zur Homepage