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Was bedeutet der Rücktritt Baraks für die Zukunft Palästinas?

Zwischen Entsetzen und Hoffen: Pressestimmen

Die Israel-Korrespondentin der Frankfurter Rundschau, Inge Günther, wusste über den Rücktritt Baraks u.a. zu berichten:
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Besseres blieb ihm nicht mehr, nachdem er in jüngsten Umfragen einen neuen Tiefstand erreicht hatte; die Rebellen in der eigenen Partei immer unverhohlener ihre Kritik an seinem Kurs formulierten und das erhoffte Friedensabkommen mit den Palästinensern angesichts neu entflammter Gewalt aus dem Blick geriet. So entschied sich Barak auf fast schon verlorenem Posten, das israelische Wahlrecht in einer Weise zu nutzen, die ihn zumindest begünstigt.

Den Ausschlag lieferte das drohende Comeback des früheren Premiers Benjamin Netanyahu, der - obwohl in seiner rechtskonservativen Partei Likud derzeit ohne offizielle Funktion - in der Wählergunst um mehrstellige Prozentpunkte vor Barak liegt. Nach herrschender Rechtslage aber kann Baraks gefährlichster Herausforderer nicht gegen ihn antreten, wenn, wie von dem Regierungschef jetzt initiiert, allein der Ministerpräsident gewählt wird. In einer solchen, vom Parlament abgekoppelten Runde sind nur Kandidaten zugelassen, die ein Mandat besitzen. Seines hatte Netanyahu 1999 niedergelegt, um sich ganz Privatgeschäften zu widmen.

Dass sich "Bibi", Hoffnungsträger eines Großteils der Opposition, einfach kaltstellen lässt, gilt freilich als unwahrscheinlich. Von einem "schmutzigen Trick" Baraks, den es zu verhindern gelte, sprach bereits der Likud-Abgeordnete Silwan Schalom. Netanyahus Getreue, offen unterstützt von der einflussreichen religiös-orientalischen Schaspartei, ziehen denn auch das gesamte juristische Register, um Netanyahu doch noch eine Kandidatur zu erlauben. ...

... Der von den Demoskopen ermittelte Vorsprung von Likud-Boss Ariel Scharon ist schließlich gering genug, dass selbst Barak ihn aufholen könnte.

Das hat Spekulationen genährt, wonach Scharon und Barak unter sich längst einen Deal ausgehandelt hätten. Der Zeitung Maariv zufolge sollen beide überein gekommen sein, dass, wie immer die Wahlen ausgehen, der jeweilige Gewinner mit dem Verlierer eine große Koalition beschließen wolle. Offiziell wird das dementiert. Die Entscheidung Baraks "hat mich wie jeden anderen überrascht", gab sich der Likud-Chef unschuldig. Und der Premier tat so, als ob ihm "politische Manipulationen" völlig fremd seien. Wenn überhaupt nutze er taktische Tricks nur, "um den Friedensprozess zu ermöglichen".

Doch an einen baldigen Verhandlungserfolg mit den Palästinensern glaubt Barak nicht mehr. Selbst wenn es ihn vor Neuwahlen gäbe, gestand er dem israelischen Journalisten Nahum Barnea ein, würde höchstwahrscheinlich die islamistische Hamas "mit einer Terrorwelle alles in die Luft blasen". Die einzige Chance sei daher, die Wahlen in eine Art Referendum über den Friedenskurs umzumünzen. Mit seiner Rücktrittsankündigung "hat Barak sich von jeder Chance verabschiedet", schlussfolgerte der Kommentator Chemi Schalev, vor Bill Clintons Auszug aus dem Weißen Haus "noch einen Durchbruch in letzter Minute zu erzielen". In nur 60 Tagen, stimmte der palästinensische Parlamentssprecher Abu Ala zu, lasse sich kein Frieden schließen. ...

Und in einem Kommentar schreibt Inge Günther:
Likud ist am Zug
Einfach aufgeben kommt für einen Ex-Generalstabschef wie Ehud Barak nicht in Frage. Selbst seinen Rücktritt hat Israels Premierminister wie einen Vorstoß angelegt, der ihm eine taktisch bessere Ausgangslage bescheren soll, um die Wählergunst wieder zu gewinnen. Eine Option mit hohem Risiko, aber real besehen war es die einzige, die Barak noch blieb. Den Israelis hat er damit immerhin einen langen Wahlkampf in konfliktreicher Lage erspart. Populistische Slogans wie "Lasst die Armee siegen" oder andere Kriegstrommeleien sind so wenigstens auf sechzig Tage begrenzt. Fünf Monate bis zum ursprünglich anvisierten Wahltermin wären wohl zu einem Schrecken ohne Ende geraten.

Allerdings ist eines ziemlich kurz gedacht im Kalkül Baraks. Selbst wenn er erneut gewählt wird, bleibt der Zuschnitt der Knesset wie gehabt: unübersichtlich, antagonistisch, von widersprüchlichsten Klientelinteressen der Säkularen, Religiösen und Einwanderer geprägt und dazu von ihrer mehrheitlichen Abneigung, Friedenskompromisse zu schließen.

Wichtiger aber ist noch, dass jetzt, da Barak den politischen Offenbarungseid geleistet hat, auch die Opposition Farbe bekennen muss. Egal ob der Likud-Kandidat Ariel Scharon oder Benjamin Netanyahu heißt - er ist dem Wähler eine Antwort darauf schuldig, wie und welches Abkommen mit den Palästinensern er sich vorstellt. Bislang hat die Rechte das gekonnt vermieden. Doch die meisten Israelis wollen zwar, dass ihr Staat keine militärische Schwäche zeigt, aber dennoch eine diplomatische Lösung. Sie sehnen sich nicht nach Krieg, sondern nach Frieden.
Aus: Frankfurter Rundschau, 11. Dezember 2000

Im Berliner Tagesspiegel geht Charles A. Landmann ausführlicher auf die verzwickte innenpolitische Situation ein. Sein Artikel ist überschrieben mit "Ein heilloses Durcheinander". Das wichtigste daraus:
Israel Wählt. Auf jeden Fall. Entweder - wohl am 6. Februar - nur einen neuen Ministerpräsidenten oder aber etwas später den Regierungschef und das Parlament; oder nur die Knesset. So verwirrend sich die Lage nach dem letztlich überraschenden, weil einsam beschlossenen Rücktritt von Ehud Barak ausnimmt, die politische Realität ist noch viel komplizierter. ...
Schuld an diesem heillosen Durcheinander sind genau die gleichen Politiker und Juristen, die sich nun aus diesem herauszuwinden versuchen. Denn sie haben eine Wahlrechtsreform eingeführt, die 1996 erstmals zur Anwendung kam, aber exakt das Gegenteil der angestrebten Ziele bewirkte. ...

Die gegenwärtige Lage: Nach dem Gesetz muss nach Inkrafttreten des Rücktrittes des Regierungschefs innerhalb von 60 Tagen nur der Nachfolger gewählt werden. Für das höchste Amt dürfen nur amtierende Knessetmitglieder kandidieren. Bis der Rücktritt in Kraft tritt, kann (vermutlich, weil unter Juristen umstritten) die Knesset der Regierung das Misstrauen aussprechen. Dies müsste am heutigen Montag erfolgen, sofern der Misstrauensantrag rechtlich zulässig ist, und zwar mit einer absoluten Mehrheit von 61 der 120 Knessetmitglieder. Das würde Wahlen sowohl für das Amt des Premiers als auch des Parlaments in frühestens 90 Tagen nach sich ziehen.

Der Vermutung, dass Barak mit seinem Rücktritt eine Kandidatur Netanjahus und damit seine eigene sich abzeichnende Wahlniederlage verhindern will, ist der Regierungschef entschieden entgegen getreten. Vielmehr verstärkt sich nun der Eindruck, dass Barak mit kurzfristigen Wahlen eine parteiinterne Gegenkandidatur verhinderte, nachdem sich in den letzten Tagen nicht zuletzt infolge der für ihn verheerenden Umfragen eine starke Opposition gegen ihn bemerkbar gemacht hatte. Baraks Furcht vor einem erntshaften Konkurrenten dürfte der wahre Grund für seinen Rücktritt gewesen sein, den die Opposition als "letzten schmutzigen Trick" abwertete. Als Favorit eines parteiüberschreitenden "Friedens-Lagers" und als linker Gegenkandidat zu Barak wird immer häufiger Schimon Peres genannt, der in den Umfragen bereits deutlich besser als Barak abschneidet; aber immer noch schlechter als Netanjahu.

Von Charles A. Landmann stammt auch der Kommentar im Tagesspiegel:
Rücktrickserei
Der israelische Ministerpräsident Ehud Barak hat seinen Rücktritt eingereicht. Es war allerdings weniger ein Rücktritt als eine Rücktrickserei.
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Die Wähler, selbst die Minister, fühlen sich bei Baraks Politikstil wie bei einem Tennismatch. Einige Zeit können sie den Bällen folgen, doch dann wird ihnen schwindlig und sie verlieren jedes Interesse an Spiel und Spieler. Dabei hat Ehud Barak Israels Armee aus dem Libanon herausgeführt und der israelischen Wirtschaft zu einem Rekordwachstum verholfen, mit über 100 000 Arbeitsplätzen. Doch all das interessiert jetzt nicht mehr. Der Fast-Krieg mit den Palästinensern hat Angst um die eigene Sicherheit ausgelöst, und die dürfte wohl wahlentscheidend sein.

Also muss Ehud Barak den Wählern mindestens eine Teil-Übereinkunft mit den Palästinensern plus einen vollständigen Waffenstillstand vorweisen. Dazu hat er, wenn es zu der von ihm angestrebten Separat-Wahl nur des Regierungschefs kommen sollte, nicht einmal zwei Monate Zeit. Wieder einmal hat sich Barak damit selbst unter Zeitdruck gesetzt, obwohl er noch letzte Woche getobt hatte, wer ihn unter Zeitdruck setze, handle unverantwortlich.

Baraks Chancen, bis zum Wahltermin irgendein Abkommen mit Jassir Arafat zu unterzeichnen, stehen laut seinen eigenen Aussagen ausgesprochen schlecht. Er hat sein persönliches und Israels politisches Schicksal in die Hände des ebenfalls unberechenbaren und ihm feindlich gesinnten Palästinenserführers gelegt. Arafat wird demnach die israelischen Wahlen entscheiden. Versteht der den bewaffneten Kampf weiterhin als legitime Waffe des Widerstandes, so wird ein Terroranschlag unmittelbar vor den Wahlen, wie mehrfach geschehen, diese entscheiden - zu Ungunsten Baraks und des Friedenslagers und zu Gunsten von Netanjahu (oder gar Ariel Scharon) und des "Nationalen Lagers" einschließlich der extremistischen Siedler.
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Aus: Tagesspiegel, 11. Dezember 2000

Von einer "Gesellschaftskrise" spricht die "junge welt" in einem Kommentar von Werner Pirker.
Der Rücktritt des israelischen Premierministers Ehud Barak erfolgte im Zeichen der tiefsten Krise der israelischen Gesellschaft seit der Staatsgründung 1948. Noch nie war Israel innerlich so zerrissen und in seiner außenpolitischen Handlungsfähigkeit so paralysiert wie in diesen letzten Monaten. ...

Barak war nicht der erste israelische Militär, der eine politische Karriere wagte. In dem Nahostland, das sich vom Beginn seiner Existenz an in einem latenten Kriegszustand mit seinen Nachbarn befindet, ist eine solche Laufbahn eher die Regel als die Ausnahme. Doch keiner der alten Haudegen erwies sich als Politiker so untalentiert wie Ehud Barak. Er war eine glatte Vorgabe an den innenpolitischen Gegner. Die Arbeitspartei hat die große Chance, eine historische Wende herbeizuführen, verpaßt. Sie tat dies bereits, als sie einen in der Routine israelischen Sicherheitsdenkens verhafteten Mann zu ihrem Spitzenkandidaten erkor. Es irrten auch diejenigen, die glaubten, Barak würde mit seiner Aufgabe wachsen. Das Umdenken, das dringend geboten gewesen wäre, fand nicht statt. Nicht nur, weil Barak dazu das geistige Format gefehlt hat. Die israelische Gesellschaft als ganzes ist dafür noch nicht bereit.

Dabei gab es immer wieder hoffnungsvolle Ansätze. Das erste Mal zu Beginn des Libanon-Krieges 1982, als große Teile der israelischen Öffentlichkeit in Widerspruch zu der als Vorwärtsverteidigung definierten Sicherheitsdoktrin gerieten und in der Folge die Friedensbewegung kontinuierlich anwuchs. Als 1995 »Friedenspremier« Rabin von einem zionistischen Fanatiker ermordet worden war, schien es, als hätte ein gesellschaftliche Mehrheitsspektrum die Wechselwirkung von Aggression nach außen und Aggressivität im Inneren erkannt. Doch kein halbes Jahr später setzten sich bei den Parlamentswahlen wiederum die Kräfte der Konfrontation durch.
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Aus: junge welt, 11. Dezember 2000

"Baraks Schicksal in Arafats Händen", überschreibt Thorsten Schmitz seinen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung.
Wenn es auch nur einen Zweifel an der Autorität von Jassir Arafat gab – seit Baraks Rücktritt ist er wie weggewischt. Der Palästinenserpräsident, dessen Amtszeit widerspruchslos bereits im Mai 1999 auslief, ist der ungekrönte König im Nahost-Konflikt. Wie um zu demonstrieren, dass er den Aufstand seines Volkes dem diplomatischen Parkett vorzieht, spaziert Arafat selbstbewusst seit einer Woche wieder mit einer Waffe im Halfter durch Gaza und Westjordanland. Arafat ist innerhalb von nur zwei Monaten gelungen, was niemand für möglich gehalten hat: Die Flucht vor einem Friedensvertrag mit Israel, den er seinem Volk nie hätte verkaufen können. Es hätte ihn entthront für jeden Kompromiss.

So zog Arafat die Karte „Intifada“, und siehe, die Palästinenser stehen besser da denn je: Der Konflikt ist wieder „Prime Time“ und zugleich internationalisiert, Russland mischt sich lautstark ein, während die USA durch Präsidentensuche geschwächt sind. Und die ganze Welt, eine zaghafte EU eingeschlossen, verurteilt Israel als Aggressor. Arafat hat Israel in die außenpolitische Isolation manövriert und zermürbt es durch einen Guerrillakrieg ŕ la Südlibanon.

... Das Schicksal von Barak liegt allein in Arafats Händen: Barak hat nach seinem Kamikaze-Rücktritt nur dann eine politische Überlebenschance, wenn er den Wählern einen Friedensvertrag mit den Palästinensern anbietet. Arafat weiß das und kann daher hoch pokern. Barak denkt, sein Rücktritt, der auch den gefürchteten Falken Netanjahu ausstechen soll, sei eine Pistole auf Arafats Brust: Entweder, du machst Frieden mit mir, oder du kriegst eine rückwärts gewandte Likud-Regierung. Tatsächlich aber machen die Palästinenser zwischen Barak und Netanjahu längst keinen Unterschied mehr: Sie nennen Barak „Barakjahu“, denn unter beiden wurde der Siedlungsbau emsig vorangetrieben, was sie als unkoschere Verhandlungspartner entlarvt hat. Schon drohen die Palästinenser, die Intifada dauere an, solange noch einer der 200 000 jüdischen Siedler auf dem Boden lebt, der eigentlich ihnen gegeben werden soll. Jeder Frieden, den Barak innerhalb der kommenden zwei Monate zimmern will, müsste eine Vereinbarung zum Rückzug der Siedler beinhalten – utopisch.

Das durchsichtige Taktieren von Barak ist symptomatisch für die Zwickmühle Israels: Sogar ein fähiger und mutiger Premier, der den Rückzug aus Südlibanon durchgezogen hat, scheitert nach nur 18 Monaten im Amt – auch wegen Arafat. Wenn noch nicht einmal Barak der Frieden gelingt, wem dann? Noch nicht einmal eine arbeitsfähige Große Koalition zu bilden, die die Unruhen meistert und den Frieden sucht, ist ihm gelungen. Zu tief sind die Gräben in Israel. Stattdessen hat am Wochenende der absurdeste Wahlkampf begonnen, den Israel seit seiner Staatsgründung erlebt: Antreten für das Amt des Premierministers werden zwei gescheiterte Ex-Premierminister.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 11. Dezember 2000

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