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12 gebräuchliche Lügen über Israel und Palästina

Von Uri Avneri*

* Den folgenden Text schrieb der angesehene israelische Journalist und Friedensaktivist am 21. Oktober 2000.

Lüge Nr. 1: "Barak hat alles daran gesetzt um einen Frieden zu erreichen."

In Wahrheit hat er alles daran gesetzt Siedlungen zu bauen. Seit seinem ersten Tag im Amt hat er das Tempo erhöht beim Bau neuer Siedlungen (unter dem Vorwand schon bestehende Siedlungen zu "erweitern"), bei der Landenteignung, bei der Zerstörung palästinensischer Eigenheime und beim Bau von "Umgehungsstraßen" (deren Hauptzweck darin besteht, palästinensische Grundstücke den "Siedlungsblöcken" hinzuzufügen, die er Israel einverleiben will). Bei all diesen Aktivitäten hat Barak mehr unternommen als Netanjahu. Auch in politischer Hinsicht hat er Natanjahu übertroffen: Bibi hat wenigstens den größeren Teil der Stadt Hebron den Palästinensern zurückgegeben. Barak hat keinen einzigen Zentimeter besetzten Territoriums zurückgegeben.

Lüge Nr. 2: " In Camp David ging Barak weiter als alle Premierminister vor ihm."

Selbst wenn dies wahr wäre, würde es herzlich wenig bedeuten. Wenn ein Marathonläufer (Netanjahu) nach einem Kilometer aufgibt und ein anderer (Barak) nach drei Kilometern, ist der Unterschied nicht bedeutsam. Viel bedeutsamer ist, dass keiner von beiden auch nur annähernd in Reichweite des Ziels (42 km) kommt. Baraks Vorschläge in Camp David lagen weit unter dem Minimum, das nötig wäre, um mit dem palästinensischen Volk und der ganzen arabischen Welt Frieden zu schließen: Palästinensische Souveränität über Ost-Jerusalem, insbesondere der Bezirk des Tempelbergs (Haram al-Sharif). Barak ließ in Camp David erkennen, dass er einige kosmetische Veränderungen "in Betracht ziehen" könnte (und dabei brach er tatsächlich mit einigen israelischen Tabus in Bezug auf Jerusalem). Nüchtern betrachtet verweigerte er aber den Palästinensern, den Arabern und Muslimen die Souveränität über den Tempelberg und den größeren Teil der benachbarten arabischen Quartiere in der Altstadt. Aus diesem Grund schlug der Gipfel fehl und die Eskalation begann und führte schließlich zur "Al-Aksa-Intifada".

Lüge Nr. 3: "Arafat ließ Camp David platzen."

Am Tag vor seiner Abreise zum Gipfel gab Barak fünf so genannte "Rote Linien" bekannt, die er unter keinen Umständen überschreiten wollte. Darunter waren: die israelische Souveränität über die ganze Altstadt von Jerusalem, keine Rückkehr zu den Grenzen von 1967, 80 Prozent der Siedler sollten bleiben, wo sie waren, keine Rückkehr auch nur eines einzigen Flüchtlings nach Israel! Später weichte er einige dieser Essentials auf, allerdings nicht genug, um auch nur in die Nähe einer Vereinbarung zu kommen.

Lüge Nr. 4: "Immer müssen wir geben, geben, geben. Arafat gibt überhaupt nichts."

Als die Palästinenser einer Friedensregelung zustimmten, die auf der Grenzziehung vor 1967 beruhte (die Grüne Linie), gaben sie schon von vorneherein 78 Prozent ihres Lands zwischen dem Meer und dem Jordan auf. Sie sind bereit ihren Staat auf den restlichen 22 Prozent zu errichten. Unsere Regierung will einen "Kompromiss" über dieses Gebiet - ganz nach dem Motto: "Was mein ist, ist mein, was dein ist, darüber wollen wir verhandeln." (Zum Hintergrund: Die UN-Teilungs-Resolution vom 29. November 1974 sprach dem jüdischen Staat 55 Prozent und dem arabischen Staat 45 Prozent von Palästina zu. In dem folgenden Krieg, den die Araber begannen, eroberten wir die Hälfte des Territoriums, das dem arabischen Staat zugeteilt worden war. Auf diese Weise entstand die "Grüne Linie", die 78 Prozent des Landes in unserer Hand beließ.) Das Problem lässt sich aber nicht nur in Prozentpunkten ausdrücken. Barak scheint lediglich 10 Prozent vom besetzten Gebiet zu verlangen. Berücksichtigt man aber die Gebiete, die er im Großraum Jerusalem annektieren und im Jordantal unter seine "Sicherheitskontrolle" stellen will, sind es in Wirklichkeit fast 30 Prozent. Was aber noch schlimmer ist: Nach der Landkarte, die er den Palästinensern vorlegte, würden diese Prozentpunkte das Land von Osten nach Westen und von Norden nach Süden zerschneiden, sodass der Palästinenser-Staat aus einer Vielzahl von Inseln bestehen würde, von denen jede von israelischen Siedlern und Soldaten umgeben wäre.

Lüge Nr. 5: "Wie kann man mit den Palästinensern Frieden schließen, wenn sie jedes Abkommen brechen?"

Nun, die palästinensischen Vertragsverletzungen erblassen im Vergleich mit den unsrigen. Vor dem Ende der fünfjährigen Übergangszeit (die im Mai 1998 endete), mussten die israelischen Streitkräft aus der ganzen Westbank und dem Gazastreifen abgezogen sein - mit Ausnahme bestimmter militärischer Posten, Siedlungen und Jerusalem. Barak weigert sich bis zum heutigen Tag diese Maßnahme durchzuführen. Auch sollten schon lange zuvor vier "sichere Transitwege" zwischen Gaza und der Westbank in Betrieb genommen werden. Tatsächlich wurde bisher erst einer eröffnet, und dieser kann von Palästinensern nur unter großen Schikanen benutzt werden.

Lüge Nr. 6: "Barak ist der Testamentsvollstrecker von Rabin."

Weit gefehlt. Innerhalb weniger Monate hat er es fertig gebracht, nicht nur alle Errungenschaften von Rabin zu zerstören, sondern auch die von Begin gleich mit. Er hat das Oslo-Abkommen (das er von Anfang an ablehnte) zu Grabe getragen und er zerstörte die Beziehungen, die unter großer Mühe zwischen Israel und einer Reihe arabischer Staaten aufgebaut worden waren. Er hat Unruhe unter den arabischen Bürgern in Israel gesät. Er warf uns in vieler Hinsicht auf 1948, ja sogar auf 1936 zurück.

Lüge Nr. 7: "Der Lynchmord von Ramallah hat gezeigt, dass die Araber wilde Tiere sind."

In einem Konflikt dieser Art zeigt jede Seite auf die Gräueltaten der anderen und "vergisst" dabei die Gräueltaten der eigenen Seite. Israel weist auf den schrecklichen Lynchmord hin, die Palästinenser verweisen auf den 12-jährigen Muhammad al-Dira, der in den Armen seines Vaters erschossen wurde, und auf die Kugeln, die von israelischen Armee-Scharfschützen gezielt auf die Köpfe Steine werfender Kinder abgefeuert werden. Unsere Gewalttaten sind eine Reaktion auf die Aktionen der Palästinenser, deren Gewalttaten sind eine Antwort auf unsere. Es ist ein circulus vitiosus.

Lüge Nr. 8: "Die palästinensischen Medien sind ein Instrument der Hetzpropaganda."

Das ist richtig, aber unglücklicherweise besteht diesbezüglich kein großer Unterschied zu unseren Medien. Unsere und ihre Medien sprechen dieselbe Sprache, folgen denselben Anweisungen von oben. Wenn das palästinensische Fernsehen immer und immer wieder die Bilder von dem sterbenden Jungen in den Armen seines Vaters zeigt, ist das Propaganda. Wenn unser Fernsehen Dutzende Male am Tag, Tag für Tag den grausamen Lynchmord von Ramallah zeigt, ist das auch Propaganda.

Lüge Nr. 9: "Sie schießen auf uns und die israelische Armee übt sich in Zurückhaltung."

Es ist nur sonderbar, dass in zwei Wochen "Zurückhaltung" etwa 110 Palästinenser und drei israelische Soldaten getötet wurden. Diese seltsame Logik hat bisher noch kein israelischer Offizier erklären können (abgesehen davon hat niemand von ihm eine Erklärung verlangt). Eine Erklärung liegt natürlich darin, dass die israelische Armee schon seit langem Scharfschützen darauf trainiert, einzelne Personen aus den Demonstranten auszuwählen, sie mit einem Zielfernrohr genau ins Visier zu nehmen und sie mit einem speziellen tödlichen Hochgeschwindigkeitsgeschoss zu treffen. Anstatt, wie beabsichtigt, die Menge zu "pazifizieren", heizt diese Methode die Atmosphäre nur weiter an. Jede Beerdigung war wieder Ausgangspunkt für eine neue Konfrontation.

Lüge Nr. 10: "Die Araber schicken ihre Kinder gegen unsere Militärstellungen, damit sie getötet werden, um der Weltöffentlichkeit Bilder davon zu präsentieren."

Das ist ein schrecklicher Vorwurf, der einen widerwärtigen Rassismus verrät. Er enthält den Glauben, dass arabischen Eltern der Tod ihrer Kinder gleichgültig sei. In dem Kampf, den unsere Untergrundorganisation vor 1948 und während des Unabhängigkeitskriegs geführt hat, spielten Jungen und Mädchen eine wichtige Rolle. Die militärische Schulung von palästinensischen Jungen unterscheidet sich nicht von der Schulung unserer eigenen Gadna Jugend-Bataillone. Der Junge, der 1948 einen syrischen Panzer beim Kibbuz Deganja zerstörte, wurde ein Nationalheld. Wenn ein Volk um seine bloße Existenz und um seine Freiheit kämpft, kann seine Jugend nicht abseits stehen. Ich selbst schloss mich der Irgun an, eine Organisation, die von den Briten als terroristisch eingestuft wurde. Da war ich vierzehneinhalb Jahre. Mit 15 trug ich bereits Waffen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass palästinensische Eltern ihre Kinder davon abhalten könnten, auf die Straße zu gehen und Steine zu werfen, solange sie unter einer grausamen Besatzung leben und ihre Brüder und Schwestern Beispiele für Heldentum und Opfermut abliefern. Es ist ganz natürlich, dass das palästinensische Volk stolz auf sie ist. Jeanne d'Arc war übrigens auch erst 16 Jahre alt, als sie das französische Heer in die Schlacht führte.

Lüge Nr. 11: "Es erweist sich aufs Neue, dass die ganze Welt gegen uns ist. Es sind alles Antisemiten."

Die öffentliche Meinung ist immer auf der Seite der Underdogs. In diesem Kampf sind wir Goliath und die anderen David. In den Augen der Welt kämpfen die Palästinenser einen Befreiungskrieg gegen eine fremde Besatzung. Wir sind in ihrem Territorium, nicht sie in unserem. Wir bauen Siedlungen in ihrem Land, nicht sie in unserem. Wir sind die Besatzer, sie sind die Opfer. Das ist die objektive Situation und kein Propagandaminister (wie Herr Nachman Shai) kann daran etwas ändern.

Lüge Nr. 12: "Wir haben keinen Partner für den Frieden."

Richtig, wir haben keinen Partner für einen Frieden, der den Palästinensern die Kapitulation vor einem israelischen Ultimatum abverlangt. Wir haben sehr wohl einen Partner für einen Frieden, wenn er auf Gleichheit und gegenseitigem Respekt beruht. Die Lösung ist ganz klar: Der Staat Palästina muss innerhalb der Grenzen errichtet werden, die vor 1967 bestanden, mit Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten. Ost-Jerusalem mit dem Tempelberg (Haram al-Sharif) muss den Palästinensern gehören, West-Jerusalem mit der Klagemauer und dem jüdischen Viertel muss zu Israel gehören. Wenn diese Lösung im Grundsatz akzeptiert wird, können Verhandlungen über die anderen Probleme beginnen: gegenseitige Sicherheit, Austausch von Gebieten, eine moralische und praktische Lösung des Flüchtlingsproblems, Zugang zu Wasser usw. Dieser Frieden wird eines Tages kommen, denn die einzige Alternative ist die Hölle für beide Seiten.

(Aus dem Englischen: Peter Strutynski)

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