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"Eine wirkliche Massenrevolte"

Palästinensische Abgeordnete verurteilt "Apartheidbusse" und schlägt zivilen Volksaufstand vor. Gespräch mit Hanan Aschrawi *


Hanan Aschrawi (66) ist Abgeordnete der Partei »Dritter Weg« im palästinensischen Parlament, Anglistikprofessorin und Trägerin des Olof-Palme-Preises für Frieden und Menschenrecht.

Derzeit wird über die »Nur für Palästinenser« bestimmten Autobusse für arabische Pendler mit Arbeitserlaubnis in Israel diskutiert. Wie bewerten Sie diese Maßnahme?

Es ist ein Zeichen der Willkür, der x-te Beweis für eine kolonialistische Kultur, die nicht nur darauf abzielt, palästinensische Arbeiter auszubeuten, sondern sie auch als Menschen zu demütigen, ihnen außer den Rechten auch die Würde zu nehmen. Sie fühlen sich derart stark und glauben, daß sie niemand zur Rechenschaft ziehen kann, daß sie diese widerwärtigen Aktionen nicht mal mehr rechtfertigen müssen, indem sie von Sicherheitsgefährdung schwadronieren. Die Pendler sind für Israel keine Bedrohung, aber ihnen gegenüber erlaubt man sich jede Art von physischem und psychischem Druck.

In einigen Wochen will US-Präsident Barack Obama Israel und das Westjordanland besuchen. Was geben Sie ihm mit auf den Weg?

Ich würde Präsident Obama raten, sich aus erster Hand einen Eindruck vom Leiden eines Volkes zu verschaffen, das unter der Besatzung lebt. Mehr als mit irgendwelchen Führungspersönlichkeiten sollte er mit den einfachen Palästinensern sprechen, an einem der vielen Checkpoints Halt machen, die das Westjordanland in tausend Einzelteile aufsplittern. Er sollte in einem dieser Busse der Schande mitfahren und eines der vielen palästinensischen Dörfer besuchen, die durch die israelische Mauer geteilt sind. Wenn er all das genau betrachtet, wird es ihm helfen, eine bittere und tragische Realität zu begreifen.

Tel Aviv hat mögliche Verhandlungen jedes konkreten Inhalts beraubt – durch eine Politik der einseitigen Akte, indem es Siedlungen in regelrechte Städte verwandelte, faktisch palästinensischen Boden annektierte und Hunderte Familien zwang, Ostjerusalem zu verlassen.

Prinzipiell schließt Ministerpräsident Netanjahu einen palästinensischen Staat nicht aus…

Vielleicht tut er das in Worten nicht, doch faktisch hat er eine Politik betrieben, die einen auf dem Grundsatz »Zwei Völker – zwei Staaten« basierenden Frieden unpraktikabel macht. Was für ein Staat wäre das, ohne die volle Kontrolle über sein gesamtes nationales Territorium? Ein mit israelischen Siedlungen übersäter Pseudo-Staat, der gezwungen wird, auf Ostjerusalem als Hauptstadt zu verzichten. Das ist kein Staat, sondern ein in den Nahen Osten verpflanztes Bantustan. Die ethnisch getrennten Busse, der Apartheidwall und ein Bantustan-»Staat« … das würde Palästina zu einem Südafrika in den schlimmsten Zeiten machen. Es ist kein Zufall, daß es – neben Nelson Mandela – einer der großen Protagonisten des Kampfes gegen das Apartheidregime in Südafrika ist, der das anprangert: der Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu.

Besteht die Gefahr einer Rückkehr zu den tragischen Zeiten der zweiten Intifada, der »Intifada der Selbstmordattentäter«?

Um mich herum sehe ich Tag für Tag Ernüchterung, Frustration und vor allem Wut zunehmen. Eine Wut, die vielleicht nicht heute, aber in nicht allzu ferner Zukunft explodieren könnte. Ich selbst habe immer die Meinung vertreten, daß die Militarisierung der Intifada ein schwerer Fehler war, den wir nicht wiederholen sollten. Zwischen den »Shahids« (Märtyrern; jW) und der Resignation gibt es einen dritten Weg.

Welchen?

Den gewaltfreien Volksaufstand, der den Geist der ersten Intifada wiederbelebt, die eine wirkliche Massenrevolte war, die die Palästina-Frage in den Mittelpunkt des weltweiten Interesses rückte.

Liegt Israels Stärke nicht auch in der Schwäche der palästinensischen Führung begründet?

Wie Sie wissen, habe ich niemals darauf verzichtet, Kritik zu üben, auch wenn ich dafür einen persönlichen Preis bezahlen mußte. Die Frak­tionsinteressen haben die des Volkes oftmals überwogen. Auch habe ich nie die Vorstellung akzeptiert, daß der Kampf gegen die israelische Besatzung freiheitsfeindliche Maßnahmen der palästinensischen Autonomiebehörde rechtfertigt. Wir haben eine Menge Fehler begangen. Das spricht Israel allerdings nicht frei. In dieser Geschichte gibt es einen Unterdrückten und einen Unterdrücker, und die Fehler des ersteren können die Verbrechen des letzteren in keiner Weise rechtfertigen.

Interview: Umberto De Giovannangeli

Das Interview erschien zuerst am 11. März in der italienischen Tageszeitung l’Unità. Übersetzung: Andreas Schuchardt

* Aus: junge Welt, Samstag, 16. März 2013


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