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"Israelis in palästinensischen Dörfern – das ist radikal!"

Der israelische Aktivist Kobi Snitz über ein linkes Projekt gegen den Bau der Mauer

Kobi Snitz ist Mitglied der linken israelischen Gruppe »Anarchists Against the Wall«, eines losen Zusammenschlusses von Aktivisten, der gemeinsam mit Palästinensern friedliche Proteste gegen den Bau einer Mauer zwischen israelischen und palästinensischen Gebieten organisiert. Mit ihm sprach Ina Beyer *



ND: Seit wann gibt es die »Anarchists Against the Wall« und wie ist die Gruppe entstanden?

Snitz: Die Gruppe entstand im Jahr 2003 im Umfeld der Proteste in dem palästinensischen Dorf Mashah, zur Zeit der zweiten Intifada. Dort hatten Aktivisten gegen den Bau der geplanten Mauer zwischen israelischen und palästinensischen Gebieten protestiert. Sie errichteten ein Zelt auf der geplanten Route, und palästinensische und israelische Aktivisten sowie Unterstützer aus der internationalen Solidaritätsarbeit campten dort gemeinsam vier Monate. Einige Israelis, die schon Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Palästinensern hatten, begannen damals, eine neue Gruppe aufzubauen.

Warum sind Sie gegen den Ausbau dieser Mauer?

Die Mauer ist das größte Bauvorhaben in der israelischen Geschichte. Einmal fertig gestellt, wird sie einen permanenten Zustand schaffen, was die Verteilung von Gebieten betrifft. Von der israelischen Politik wurde verkündet, dass die Mauer die zukünftigen Grenzen Israels festlegt. Wenn man sich aber ihren Verlauf einmal anschaut, sieht man, dass das palästinensische Gebiet dadurch in viele kleine Stücke aufgeteilt wird. Der sogenannte palästinensische Staat, der sich derzeit als einziges Angebot Israels an die Palästinenser noch in der Debatte befindet, soll aus diesen zersplitterten Kantonen bestehen. Von einem lebensfähigen Staat kann man dabei aber nicht ernsthaft sprechen. Zudem konfisziert Israel mit dem Mauerbau faktisch palästinensisches Gebiet. Das Projekt wird von staatlicher Seite damit begründet, dass Israel seine Einwohner dadurch besser gegen Feinde von außerhalb schützen kann. Kritische Stimmen, die sich in Israel dagegen regen, argumentieren, dass die Israelis mit der Existenz dieser Mauer auch nicht sicherer sein werden. Unsere Gruppe jedoch teilt diese Ansicht nicht.

Warum nicht?

Denkt man sie weiter, hieße das, der Mauerbau wäre befürwortenswert, wenn Israelis dadurch besser geschützt werden könnten. Dann würde man aber die Prämissen akzeptieren, die dahinter stehen. Das Argument der »palästinensischen Gefahr« ist fundamental rassistisch und mit der Mauer sollen die Palästinenser kollektiv bestraft werden. Schon jetzt aber spürt man die Auswirkungen dieses Vorhabens. Mittlerweile ist es für Palästinenser nahezu unmöglich, ohne Extragenehmigung nach Israel einzureisen. Diese ist jedoch schwer erhältlich – meist bekommt sie nur, wer in Israel arbeitet. Private Gründe – etwa um Freundschaften zu pflegen oder Kollegen zu treffen – reichen dagegen nicht aus. Wer gegen die Einreisebeschränkungen verstößt, muss mit harten Strafen rechnen. Das gilt übrigens auch für Leute auf der israelischen Seite, die Palästinensern bei der Einreise helfen. Die Reisebeschränkungen tragen zu der hohen Arbeitslosigkeit in den palästinensischen Gebieten bei – im Westjordanland sind derzeit etwa 30 Prozent arbeitslos, im Gaza-Streifen fast 50 Prozent.

Wie arbeiten Sie mit den Palästinensern zusammen?

Unsere Gruppe, die »Anarchists Against the Wall«, sitzt in Tel Aviv. Die Palästinenser, mit denen wir zusammenarbeiten, haben eigene Komitees, in denen Repräsentanten unterschiedlicher Interessengruppen in den Dörfern zusammenkommen. Wir koordinieren die gemeinsame Arbeit telefonisch oder schicken Vertreter unserer Gruppe in ihre Dörfer.
Das leitende Prinzip ist ein gemeinsamer, friedlicher Widerstand, bei dem wir als Israelis die Palästinenser unterstützen. Unsere Zusammenarbeit fußt auf dem Verständnis, dass sie vom Bau der Mauer stärker betroffen sind. Die Entscheidungen, wo und wie demonstriert wird, werden deshalb zumeist von Palästinensern getroffen. Das macht auch deshalb Sinn, weil die Proteste großenteils auf ihrem Gebiet stattfinden. Zudem geht die israelische Armee sehr häufig dagegen vor. Davon ist dann oft ein ganzes Dorf betroffen. Die Palästinenser müssen selbst entscheiden, ob sie dieses Risiko auf sich nehmen wollen.

Wie sieht dieser friedliche Widerstand aus?

Neben Demonstrationen in den vom Mauerbau betroffenen palästinensischen Dörfern arbeiten wir viel mit direkten Aktionen. Wir denken, dass darin unsere besondere Stärke liegt – andere Leute schreiben besser oder leisten humanitäre Hilfsarbeit. Wenn wir solche Aktionen planen, schauen wir zunächst, was unsere Möglichkeiten sind, und versuchen, die Risiken einzuschätzen. Ein paar Mal haben wir den Zaun stellenweise durchgeschnitten, wir haben Straßensperren weggeräumt. Seit fast zwei Jahren gehen wir in das Dorf Bilin. Viele unserer Proteste dort waren sehr kreativ. Wir haben uns am Zaun oder an Bäumen festgekettet, uns in Fässer und einmal sogar in einen Käfig gesetzt. Bei einer dieser Aktionen bauten Palästinenser ein Haus westlich der Mauer, wo sie bis heute wohnen. Das ist ein großer Erfolg. Erst vor kurzem errichteten Leute aus Bilin gemeinsam mit uns ein Schild in der Mitte der israelischen Siedlung, das darüber informiert, dass dort zukünftig ein »Hotel Palästina« entsteht.

Beteiligen Sie sich auch an anderen politischen und sozialen Kämpfen?

Wir waren gegen den Krieg in Libanon aktiv und haben uns beispielsweise auch an Demonstrationen für bezahlbaren Wohnraum beteiligt. Aber wir initiieren solche Aktionen nicht.

Wie viele Leute gehören zur Gruppe?

Der harte Kern der Gruppe besteht aus ein paar Dutzend Leuten. Drumherum gibt es einen Unterstützerkreis, der bei Aktionen dazukommt. Wenn wir größere Proteste planen, können wir leicht bis zu 100 Israelis mobilisieren. Das klingt vielleicht nicht viel. Aber Israelis in palästinensischen Dörfern – das ist radikal! Allein diese Idee erscheint vielen Israelis revolutionärer als alles andere, was wir tun.
Ein israelischer Aktivist wurde mal von der Armee angeschossen. Dabei wäre er fast gestorben. Einige Zeit später luden ihn die Palästinenser aus dem Dorf ein, wo der Vorfall geschehen war. Sie wollten ihn für das »Opfer« ehren, dass er erbracht hatte. Seine Familie fand diese Vorstellung sehr beängstigend und wollte nicht, dass er der Einladung folgt. So tief ist diese Angst in die israelische Gesellschaft eingegraben.

Warum nennen Sie sich Anarchisten? Teilen alle diese politische Utopie?

Anfangs haben wir einen anderen Namen benutzt. Bei einer unserer Aktionen, bei der ein israelischer Jude mit scharfer Munition angeschossen wurde, berichteten die Medien über uns als Anarchisten. Der Fall erregte damals viel Aufmerksamkeit, weil es nicht üblich ist, dass die Armee auf israelische Juden schießt. Wir behielten damals den Namen bei – zum Teil, weil uns nichts anderes einfiel.
Es gibt definitiv einen anarchistischen Kern in der Gruppe, aber Voraussetzung, um bei uns mit-zumachen, ist das nicht. Wir reden auch nicht über anarchistische Theorie. Aber wir versuchen, Hierarchien, auch informelle, in der Gruppe zu vermeiden und Entscheidungen so demokratisch wie möglich zu fällen. Insofern streben wir teils auch nach anarchistischen Idealen.

Können Sie konkreter beschreiben, wie das abläuft?

Offizielle Titel gibt es bei uns nicht. Nach unserem Verständnis bringen sich Menschen von selbst mehr in eine Zusammenarbeit ein, wenn sie merken, dass sie gleichwertig behandelt werden. Gibt jedoch jemand anders ständig den Ton an, sinken ihre Motivation und Kreativität. Unsere Gesellschaft zeigt Leuten kaum, wie man demokratisch mit anderen zusammenarbeitet, ohne dass jemand von oben Anweisungen erteilt. Wir wollen das in unserer Arbeit anders gestalten, weil wir denken, dass wir davon profitieren.

Sorgen religiöse Unterschiede manchmal für Probleme in der Zusammenarbeit?

Nein, nicht besonders. Einige Dinge gilt es jedoch zu beachten. Wir sagen den Aktivisten, die mit uns in die Dörfer kommen, dass sie sich an palästinensische Sitten anpassen müssen. Zum Beispiel ist es nicht schicklich für Männer, in kurzen Hosen herumzulaufen. An manchen Orten in Palästina sieht man Frauen und Männer, die nicht verheiratet sind, nicht gern zusammen. In Tel Aviv müssen wir darüber gar nicht nachdenken, in Palästina schon.

Mit welchen politischen Schwierigkeiten sind Sie in der gemeinsamen Arbeit konfrontiert?

Das Thema »Normalisierung« sorgt mitunter für Probleme. Viele Palästinenser haben das Gefühl, dass persönliche oder kulturelle Beziehungen mit Israelis reformistisch sind. Für sie bedeutet das, dass man sich an die Besetzung gewöhnt. Über die Zusammenarbeit mit Israelis ist man daher geteilter Meinung: Bedeutet dies, gegen die Besetzung zu kämpfen, oder trägt man durch die Kontakte dazu bei, dass diese Besatzung noch länger anhalten kann? In Israel selbst wird dieses Dilemma kaum bewusst. Viele denken, dass der persönliche Kontakt mit Palästinensern – sich kennenzulernen, gemeinsam Tee zu trinken oder die Sprache zu lernen – genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger ist wie jede andere Form politischer Aktivität.
Die Perspektiven sind also verschiedene. Dieses Dilemma versuchen wir israelischen Aktivisten bewusst zu machen. Ich denke, dass die sozialen Kontakte mit Palästinensern daraus entstehen sollten, dass wir gemeinsam gegen die Besetzung kämpfen. Sie dürfen jedoch kein separates Ziel sein.
Darüber hinaus sind die Repressionen, denen wir uns aussetzen, zum Teil sehr hart. Elf Menschen – neun Palästinenser und zwei Aktivisten von außerhalb – sind bisher bei den friedlichen Protesten gegen die Mauer gestorben.

Wie beeinflusst der gerade erst beendete Krieg Ihre Arbeit?

Der Krieg hat alles schwieriger gemacht. Zum einen wurde dadurch die Aufmerksamkeit von den Geschehnissen in Gaza und im Westjordanland abgelenkt, so dass das Militär dort freiere Hand hatte. Während einer Demonstration zur Zeit des Libanon-Kriegs wurde der israelische Demonstrant Lymor Goldstein in den Kopf geschossen und man hörte die Soldaten etwas über Libanon rufen, während sie die Demonstration attackierten.
Viele Palästinenser stellen sich nun Fragen. Zum Beispiel wurden ja im Libanon-Krieg israelische Reserveeinheiten eingezogen und es war nicht klar, wer von den Aktivisten, die zu gemeinsamen Aktionen eingeladen waren, gerade erst aus Libanon zurückgekehrt ist. Viele Israelis sind zur Armee gegangen und haben dort ihren Dienst getan. Wahrscheinlich war niemand von unseren Leuten dabei, doch das Misstrauen ist da.

Was motiviert Sie als Israeli, sich bei den Anarchists Against the Wall zu engagieren?

Die politischen Vorgänge, die ich eingangs beschrieben habe, finden in meinem Namen statt und werden mit meinen Steuergeldern bezahlt. Also ist es mein Interesse, Verantwortung für meine Taten zu übernehmen und für Strukturen, von denen ich ein Teil bin. Außerdem denke ich, dass das Leben für uns alle besser wäre, inklusive für uns Israelis, wenn wir aufhören würden, den Palästinensern Land und Ressourcen wegzunehmen. Alle könnten ein gutes Leben haben. Ich bin überzeugt, dass mein Leben um einiges sicherer wäre, wenn Israel die Siedlungen im Westjordanland aufgeben würde, wenn der Mauerbau aufhört und keine Palästinenser mehr exekutiert werden. Ich denke, dass diese Dinge große Sicherheitsrisiken für mich und andere Israelis darstellen.

Welche Vision haben Sie für die Zukunft? Welche Situation zwischen Israel und Palästina wäre ideal?

Die Zukunft vorauszusagen, ist in diesem Fall etwas zu kompliziert. Die Leute hätten sicher schon allerlei Pläne, wie es weitergehen soll, wenn die Umstände es erlauben würden. Umstände, unter denen die Menschen in einer Gesellschaft nicht unterdrückt werden, sie frei sind und die Gesellschaft mit ihren Handlungen beeinflussen können. In einer solchen Situation wäre die Schaffung einer humanen, gerechten Gesellschaft nicht schwer. Unter den Bedingungen der Repression ist dies schwierig. Das aber wiederum macht Zukunftsplanung auf eine Art recht einfach. Alles was wir tun müssen ist, Unterdrückung abzuschaffen und Leuten die Möglichkeit zu geben, ihr eigenes Leben zu meistern.
Es sind genügend Ähnlichkeiten vorhanden, die die Herausbildung einer vereinten Gesellschaft von Israelis und Palästinensern nahelegen würde. Während des Oslo-Friedensprozesses gab es Hoffnungsschimmer am Horizont – zumindest existierte damals die Vorstellung, dass die Situation sich bessern würde. Die Menschen erwarteten so eine Art Frieden.
Guten Willens wurde nach gemeinsamen Initiativen gesucht, im kulturellen Bereich, in der Zusammenarbeit etwa, und ich denke, dass dafür noch immer viel Potenzial vorhanden ist. Wenn den Palästinensern ein lebenswerter Staat angeboten würde, denke ich, wir könnten recht schnell zu einer guten Situation kommen, in der Zusammenarbeit möglich ist.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Oktober 2006


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