Der Staat Israel und die Zukunft Palästinas
Anmerkungen zum 60. Jahrestag der Gründung Israels
Von Norman Paech
Staatsgründungen sind im vergangenen Jahrhundert vor allem Ereignisse der
Befreiung, der Erfüllung nationaler Identität und der Beendigung gewaltsamer
Kämpfe um die Unabhängigkeit und Selbständigkeit gewesen – Anlass großer
Feiern. So auch im Fall Israels am 8. Mai 1948. Allerdings entsprach dieses Datum
nicht dem Fahrplan der UNO und stürzte den neugegründeten Staat sofort in einen
Krieg mit seinen Nachbarn. In diesem Zustand des Krieges ist Israel immer noch mit
den meisten seiner arabischen Nachbarn und es ist eine bedrückende Tatsache,
dass sich Israel selbst 60 Jahre nach seiner Gründung immer noch als Fremdkörper
in seiner Umgebung empfindet und von dieser auch als ein solcher angesehen wird.
Es ist zudem ein einzigartiges Phänomen, dass kein anderer Staat auf der Welt
vergleichbare Garantien seiner Existenz und seines Existenzrechts durch die großen
Mächte erfährt. Dennoch bangt er um seine Existenz wie kaum ein zweiter Staat.
Und es gibt keine Region auf dieser Erde, deren Gegenwart und Zukunft uns
Deutsche mehr bewegt als Israel und Palästina.
Dabei war das vom Faschismus befreite Deutschland gar nicht an der Gründung des
Staates Israel 1948 beteiligt. Vielmehr war das zionistische Projekt eines eigenen
Staates für Jüdinnen und Juden schon lange vor dem Holocaust geboren worden. Es
war eine Konsequenz des europäischen Antisemitismus, seiner Diskriminierungen,
Gewalt und Pogrome, vor denen auch die Assimilierung der Jüdinnen und Juden in
die westeuropäischen Gesellschaften nicht retten konnte. Mit den Verbrechen des
Völkermords durch die Nazis erwies sich dann allerdings die Errichtung eines
eigenen Staates über die in der Balfour-Erklärung von 1917 versprochene „jüdische
Heimstätte“ hinaus als unabdingbar und notwendig, um das jüdische Volk vor der
Wiederholung eines drohenden Genozids zu retten. Damit begann das, was wir
heute die „besondere deutsche Verantwortung“ für Israel nennen: die Existenz
dieses Staates zu garantieren.
Ein Staat in feindlicher Umwelt
Man kann verschiedene Zweifel daran anmelden, inwieweit die beiden
Nachfolgestaaten BRD und DDR dieser Verantwortung nachgekommen sind.
Tatsache ist jedoch, dass nach sechzig Jahren die Beziehungen zwischen dem Volk,
dem durch die UNO 1947 ein Land zugewiesen wurde, auf dem ein anderes Volk
lebte, und eben dem Volk, welches durch die Staatsgründung 1948 zur Flucht
gezwungen wurde, ein permanenter Zustand der Aggression, Gewalt, ja Terror
herrscht. Dies zeigt zweierlei: erstens trifft diese Verantwortung alle die Staaten in
Europa, die die Last ihrer eigenen Geschichte auf die Schultern eines unbeteiligten
Volkes abgeladen haben, also nicht nur die Deutschen – wenn auch diese bestimmt
in besonderem Maße. Zweitens hat sich diese Verantwortung vollkommen einseitig
auf die Garantie eines Staates konzentriert, ohne der anderen Hälfte der in der
Teilungsresolution von 1947 eingegangenen Verpflichtung nachzukommen: auch
einen palästinensischen Staat zu schaffen.
Um das Versäumnis genauer zu umreißen: Die europäischen Staaten und die USA
haben sich mit der Garantie eines neuen UN-Mitgliedes begnügt, ohne sich darum zu
kümmern, wie sich der neue Staat in seine feindliche Umgebung integriert. Natürlich
haben sie darauf geachtet, dass er in den Zeiten des Kalten Krieges auf der richtigen
Seite im westlich-kapitalistischen Lager verankert war. Sie haben ihn auch als
Vorposten atlantischer Interessen gegenüber den arabischen Staaten betrachtet, um
die zwischen Ost und West gerangelt wurde. In dieser Auseinandersetzung haben
sie die Isolation Israels in der arabischen Welt nicht nur geduldet, sondern sogar
gefördert – und daran waren die Regierungen der Bundesrepublik nicht unbeteiligt.
Sie haben ihre machtstrategischen Interessen an die Stelle der völkerrechtlichen
Prinzipien gesetzt, die die UNO-Generalversammlung in regelmäßigen Resolutionen
immer wiederholt und angemahnt hat. Sie haben Israel zur größten Militärmacht
ausgebaut, ohne auf die soziale und politische Integration in die es umgebende
Staatenwelt zu achten. Sie haben seinen kolonialen Geburtsfehler, die Tatsache,
dass es von europäischen Siedlern gegründet wurde, erhalten, ohne einen wirklich
überzeugenden Versuch zu unternehmen, aus der „feindlichen“ Umgebung eine
friedliche Nachbarschaft zu machen. Das Resultat ist die heute unerträgliche
Zuspitzung der Konfrontation mit der palästinensischen Bevölkerung. Wer diesen
Geburtstag uneingeschränkt feiert, hat die Hälfte der Geschichte vergessen und
deutet die Gefahren für die Zukunft falsch.
Zionismus vor und nach Ben Gurion
zeigt uns, dass es zwei Linien des Zionismus gab, die sich zwar in der Notwendigkeit
eines Staates einig waren, aber in seiner Qualität und der Auseinandersetzung mit
der arabischen Bevölkerung unterschiedliche Positionen vertraten. Bei Leon Pinsker
und Theodor Herzl war die Staatsgründungsideologie noch säkular. Herzls Vision
vom neuen Staat baute auf multikulturelle Gleichheit und Toleranz:
„Mein Testament
für das jüdische Volk: Euren Staat so zu erbauen, dass ein Fremder zufrieden bei
Euch lebt“, schrieb er in seinen Tagebüchern. Auch Chaim Weizmann erklärte auf
dem Zionistischen Weltkongress 1931 in Basel:
„Die Araber müssen fühlen und
überzeugt werden durch Tat und Wort, dass, welches immer das künftige
numerische Verhältnis der beiden Völker in Palästina sein mag, wir für unseren Teil
keine politische Beherrschung planen (…). Eine numerische Mehrheit wäre keine
genügende Garantie für die Sicherheit unserer nationalen Heimstätte. Die Sicherheit
muss geschaffen werden durch verlässliche politische Garantien und durch
freundschaftliche Beziehungen zu der nichtjüdischen Welt, die uns umgibt.“
Der Umschwung zur Konfrontation erfolgte erst mit den sog. Revisionisten unter
Wladimir Jabotinsky, die offen einen rein jüdischen Staat propagierten, in dem die
Araber keine Rolle spielen sollten. Diese aggressive Version des Zionismus erhielt
Auftrieb durch gewaltsame Widerstandsaktionen der Araber wie das Pogrom von
Hebron, wo im Jahre 1929 60 orthodoxe Juden getötet wurden. Auch die wachsende
Repression gegen die jüdische Bevölkerung und ihre schließliche Vernichtung in
Deutschland bestärkte die Revisionisten und ließ David Ben Gurion 1938 für
Zwangsumsiedlungen von Arabern plädieren, „da daran nichts Unmoralisches“ sei.
Das war damals zwar gang und gäbe, aber mit Ben Gurion hatte sich ein Zionismus
in der Führung der Bewegung durchgesetzt, der das nationale Ziel eines rein
jüdischen Staates, der ganz Palästina umfassen sollte, auch mit Gewalt verfolgen
wollte.
Hannah Arendt hat die Gefahren dieser Wende im offiziellen Zionismus deutlich
hervorgehoben, als 1944 die Amerikanische Zionistische Bewegung sich zu dem
neuen Programm Ben Gurions bekannte. Sie schrieb 1945:
„Dies ist ein Wendepunkt
in der Geschichte des Zionismus; denn es besagt, dass das revisionistische
Programm, das so lange scharf zurückgewiesen wurde, nun am Ende siegreich ist
(…) Dieses Mal sind die Araber in der Resolution einfach nicht erwähnt worden, was
ihnen offensichtlich die Wahl lässt zwischen freiwilliger Auswanderung und
Bürgerrechten zweiter Klasse (…) Dies ist ein Todesstoß gegen diejenigen jüdischen
Parteien in Palästina selbst, die unermüdlich die Notwendigkeit einer Verständigung
zwischen dem arabischen und dem jüdischen Volk predigten… Nationalismus ist
schlimm genug, wenn er auf nichts anderes aufbaut als auf die bloße Stärke der
Nation. Ein Nationalismus, der notwendigerweise und zugegebenermaßen von der
Stärke einer auswärtigen Nation abhängt, ist gewiss noch schlimmer (…) Nur Torheit
kann eine Politik vorantreiben, die auf den Schutz einer entfernten Weltmacht
vertraut, während sie sich dem Wohlwollen der Nachbarn entfremdet.“
Das waren prophetische Worte, und sie nahmen die Entwicklung von 1948 bis in
unsere Tage vorweg. Beide Linien des Zionismus existieren in Israel fort. Während
der defensive, auf Ausgleich und Toleranz bauende Zionismus vorwiegend in der
israelischen Friedensbewegung vertreten wird, hat sich der expansive, auf
Konfrontation angelegte Zionismus vor allem in der aggressiven Siedlerbewegung
und den Regierungen seit Netanjahu über Barak, Scharon bis zu Olmert
eingegraben.
Wenn die israelischen Regierungen an dem Konzept des jüdischen Staates
festhalten, ist die Konfrontation zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung
unausweichlich. Und es ist vorauszusehen, dass es dann das Ende der
demokratischen Struktur des israelischen Staates bedeuten wird.
Ein Staat, zwei Staaten?
In den besetzten Gebieten wird zunehmend in Kreisen der Fatah diskutiert, ob das
Modell zweier getrennter Staaten nebeneinander überhaupt noch durchführbar sei.
Die ungehindert fortdauernde Siedlungspolitik hat kein kohärentes Territorium übrig
gelassen, welches als dauerhaftes Staatsgebiet für ein souveränes Palästina zur
Verfügung stehen könnte. Zudem macht die extreme Verletzlichkeit der
lebensnotwendigen Verbindung zwischen der Westbank und dem Gaza-Streifen die
erforderliche Gebietshoheit von dem Wohlwollen eines militärisch völlig überlegenen
Nachbarn abhängig. Dieses Resultat war voraussehbar und offensichtlich auch
gewollt, sodass das Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung in der israelischen
Regierung ein Lippenbekenntnis ohne reale Konsequenz geblieben ist. Man
verhindert durch die Fortsetzung des Siedlungs- und Mauerbaus, was man vorgibt
erreichen zu wollen: einen selbständigen, souveränen und vor allem lebensfähigen
palästinensischen Staat.
So inakzeptabel dieses Einstaatenmodell derzeit für Israel erscheint, so unrealistisch
stellt sich allerdings für die Palästinenser das Zwei-Staaten-Modell dar, da kein
Territorium und auch kein wirklicher Friedenswille bei der israelischen Regierung zu
erkennen sei. Die Parteien „hängen“ also zwischen zwei Modellen, wobei das eine
wie das andere ebenso unerwünscht wie unrealistisch erscheint.
Die Vision eines einzigen, alle Völker und Religionen in einer säkularen und
demokratischen Organisation umfassenden Staates ist alt. Es konnte sich aber nie
durchsetzen, denn schließlich stand an der Wiege des zionistischen
Gründungsprojektes die Erfahrung des europäischen Antisemitismus in seinen
unfasslichen Ausmaßen von der Diskriminierung bis zum Völkermord. Die einzige
Rettung auf Dauer war der eigene wehrhafte, nur für und von den Jüdinnen und
Juden bestimmte Staat. Er war die Rettung, aber er bedeutet nicht die Emanzipation
der jüdischen Gesellschaft. Denn in ihm diktiert immer noch die Angst vor der
Verfolgung, wenn der arabische Teil der Bevölkerung wächst und gleiche
demokratische Rechte einfordert wie der jüdische Teil sie jetzt hat. Deshalb hat keine
der israelischen Regierungen die Rückkehr der damals ca. 800 000 Flüchtlinge
akzeptiert, obwohl dies gem. UNO-Resolution 194 vom 11. Dezember 1948 eine der
Bedingungen für die Aufnahme Israels in die UNO war. Um die Dimension dieses
Exodus deutlich zu machen: Zwischen den Jahren 1945 und 1951 sank der Anteil
der arabischen Bevölkerung auf dem Gebiet des neuen Israel von 70,6 % auf 11 %.
Das „verlassene“ Land wurde beschlagnahmt und ging in jüdischen Besitz über. Das
sind die nüchternen Fakten dessen, was die Palästinenserinnen und Palästinenser
auch heute noch „Katastrophe“ – „Naqba“ – nennen, wenn sie an den 8. Mai 1948
denken. Auch wenn es nie zu einem gemeinsamen Staat kommen wird - die
demografische Entwicklung im heutigen Israel wird das Verhältnis von 1:5 zwischen
arabischem und jüdischem Anteil an der Bevölkerung rasch verändern und in ein
gravierendes Problem der Demokratie verwandeln. Schon heute denken Politiker wie
Lieberman und seine Partei Israel Beitenu an erneute Vertreibung – und er lebt nicht
am Rande der Gesellschaft, sondern war bis vor kurzem Mitglied der Regierung.
Die Angst vor erneuter Verfolgung und Unterdrückung in einem gemeinsamen Staat
mit arabischen Palästinenserinnen und Palästinensern hat jedoch weder historisch
noch aktuell einen realen Grund. Ohne Zweifel hat sich das Verhältnis zwischen
Juden und Muslimen mit der gewaltsamen Landnahme, der Gründung des Staates
Israel und den nachfolgenden Kriegen dramatisch verschlechtert. Doch daraus ein
Szenario der Unterdrückung und drohenden Pogrome zu folgern, wenn der
palästinensische Teil der Bevölkerung in Israel ansteigt, diskriminiert nicht nur die
Palästinenserinnen und Palästinenser, sondern misstraut auch der Kraft wirklicher
demokratischer Teilhabe und der friedensstiftenden Wirkung der Menschenrechte,
wenn sie für alle gelten.
Zwei Staaten und ihre zukünftigen Grenzen
Dies ist kein Plädoyer für die sog. Ein-Staaten-Lösung für ganz Palästina, in der es
keine jüdische Mehrheit mehr geben würde. Diesen Zeilen liegt aber die
Überzeugung zugrunde, dass die jüdische Gesellschaft sich erst dann von ihrer
Angst emanzipiert und die Existenz Israels sichert, wenn sie ihr Überleben nicht von
der Quantität, sprich der Herrschaft und Dominanz ihrer Mitglieder, sondern von der
Gleichheit, Freundschaft und Toleranz aller Mitglieder abhängig macht. Oder wie es
Martin Buber gefordert hat, dass die Zionisten sich darauf zu konzentrieren hätten,
„eine dauerhafte und feste Übereinkunft mit den Arabern auf allen Gebieten des
öffentlichen Lebens zu schaffen und aufrechtzuerhalten, eine umfassende
brüderliche Solidarität.“
Es bleibt also vorerst das seit 1947 uneingelöste Versprechen eines
palästinensischen Staates. Dieser müsste auf dem seit 1967 besetzten Territorium
der Westbank und dem im eisernen Zugriff der israelischen Armee sich wehrenden
Gaza-Streifens gebildet werden. Die zentrale Frage dabei ist die nach den
zukünftigen Grenzen beider Staaten, und dies ist kein Konflikt zwischen Gut und
Böse. Es ist der Streit um das Land, welches den Palästinenserinnen und
Palästinensern von ihrer Heimat nach der Katastrophe von 1948 geblieben ist, ihnen
aber seit 1967 Zug um Zug enteignet wird. Mit dem Krieg von 1967 gewann der
Expansionsdrang des aggressiven Zionismus wieder die Oberhand. Er manifestiert
sich im Siedlungs- und Mauerbau und konnte bis heute weder durch politische
Mahnungen noch durch das höchstrichterliche Gutachten des Internationalen
Gerichtshofes begrenzt werden. Denn sowohl die Annexion Ost-Jerusalems als auch
der Ausbau der Siedlungen sowie die Vollendung der Mauer stellen die Grenzen von
1967 in Frage, ohne ein Angebot des Ausgleichs, der Kompensation oder gar
Verhandelbarkeit zu machen.
Das Beharren der israelischen Regierung auf der Anerkennung des Existenzrechts
Israels, welches auch in der deutschen Debatte eine große Rolle spielt, ist zwar im
Völkerrecht unbekannt, politisch aber verständlich. Doch haben Fatah wie auch die
PLO, die jetzt für die Statusverhandlungen verantwortlich ist, das Existenzrecht
bereits 1993 anerkannt und die Grenzen von 1967 als zukünftige Grenzen eines
palästinensischen Staates akzeptiert – das sind nur noch 22 % des ursprünglichen
Mandatsgebietes. Erreicht haben sie damit auf dem Weg zu einem eigenen Staat
nichts. Deshalb fordert Hamas, der jetzt die gleiche Bedingung für Verhandlungen
entgegengehalten wird, zuvor die Klärung der Grenzfrage, um sicher zu gehen, mit
welchem Staat man es zu tun hat, dessen Existenzrecht man anerkennt. Hamas ist
allerdings nur Statist in der Statusfrage um die Grenzen, da sie die
Verhandlungsführung durch Abbas und die PLO akzeptiert und wiederholt verkündet
hat, jedes Verhandlungsergebnis mit Israel anzuerkennen, wenn es in einem
palästinensischen Volksentscheid gebilligt wird.
Frieden für Israel und Palästina
So spitzt sich die Frage nach der Zukunft Israels und Palästinas auf die Frage nach
den Grenzen zwischen den beiden Nachbarn zu. Wird allerdings der Landraub durch
Siedlungs- und Mauerbau nicht wirksam gestoppt, schließt sich in absehbarer Zeit
das Fenster für eine Zwei-Staaten-Lösung, weil kein zusammenhängendes
Staatsterritorium für die Palästinenser mehr übrigbleibt. Das scheint die USamerikanische
Außenministerin begriffen zu haben, ohne allerdings die
entsprechenden Folgerungen daraus zu ziehen.
Das gilt auch für den deutschen Außenminister Steinmeier, der glaubt, durch die
Ausrichtung einer Konferenz in Berlin im Juni dieses Jahres zur Stärkung der Polizei
und Justiz in den besetzten Gebieten einen substantiellen Friedensbeitrag zu leisten.
Die Überweisung von Budgethilfe an den palästinensischen Haushalt, die Errichtung
von Industrie- und Gewerbeparks in der Westbank, die Ausbildung und Ausstattung
von Polizei und Justiz mögen die Besatzung erträglicher machen, beseitigen sie aber
nicht, sondern verfestigen sie nur. Sie lenken vor allem ab von der dringlichsten
Aufgabe des sog. Quartetts, Israel zum Rückzug auch aus den besetzten Gebieten
der Westbank zu bewegen. Sollen die „Annapolis“-Friedensverhandlungen
erfolgreich für beide Seiten verlaufen, so muss das Nahost-Quartett dafür sorgen,
dass das Völkerrecht und insbesondere das humanitäre Völkerrecht mit der 4.
Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten sowie die
einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zum Israel-
Palästina-Konflikt zur Grundlage gemacht werden.
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nur Teil eines ganzen Bündels von
Konflikten und Kriegsgefahren im Nahen und Mittleren Osten. Zu ihrer Lösung hat die
Fraktion DIE LINKE. im Bundestag schon Anfang 2006 eine Internationale Konferenz
nach dem Vorbild der KSZE unter Einschluss aller beteiligten Staaten und Kräfte
vorgeschlagen. Dieses wäre der Ort, wo der Friedensschluss mit allen Nachbarn,
insbesondere Syrien und Libanon, verhandelt werden müsste mit all den ungelösten
Fragen wie der Rückgabe der Golanhöhen und dem Zugriff auf das Wasser. Eine
derartige Konferenz wäre dringend geboten, um die akuten Kriegsgefahren
einzudämmen, und der einzige Weg, langfristig den Mittleren Osten zu einer Zone
des Friedens ohne Atomwaffen zu machen.
Besatzungsregime sind nicht nur nach dem geltenden Völkerrecht als
Dauereinrichtung verboten, sondern auch nach den Erfahrungen des zwanzigsten
Jahrhunderts ein Unding der Politik. Sie ermöglichen nicht den Übergang von Krieg
in den Frieden, sondern generieren zunehmend Widerstand und Gewalt, die immer
wieder in offenen Krieg umschlagen. Alle Völker, die in den siebziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit erlangten, gründeten ihren Anspruch auf
das Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches neben dem absoluten Gewalt- und
Kriegsverbot der UNO-Charta und der Kodifizierung der Menschenrechte die Zukunft
der Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern bestimmen soll. Palästina
wartet immer noch auf die Realisierung dieser Prinzipien für seine Bevölkerung. Eine
„besondere Verantwortung“ kann nur darin liegen, zu dieser Gerechtigkeit und einer
darauf basierenden Aussöhnung beizutragen. Und Israel wird erst dann unbeschwert
und in voller Sicherheit seine Staatsgründung feiern können, wenn es den
Palästinenserinnen und Palästinensern die gleichen staatlichen und Menschenrechte
garantiert wie seiner jüdischen Bevölkerung.
Mai 2008
Prof. Dr. Norman Paech, ehemaliger Hoschullehrer in Hamburg, Völkerrechtler, Mitglied des Deutschen Bundestags für DIE LINKE
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