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Tragik der Stagnation

Eine politische Lösung des Nahostkonflikts scheint derzeit in weiter Ferne. Um den Friedensprozeß wieder in Gang zu setzen, müssen sich sowohl die israelischen wie die palästinensischen Akteure von überlebten Dogmen und Ideologien verabschieden

Von Moshe Zuckermann *

Das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts neigt sich seinem Ende zu. In Israel wird in diesem Jahr der 60. Jahrestag der Staatsgründung begangen – Grund zur freudigen Feier, sollte man meinen; und doch nimmt sich die gegenwärtige historische Bilanz finster aus: Es will scheinen, als sei der im vorigen Jahrhundert begonnene, zäh, ressentiment- und haßerfüllt wie gewalttätig geführte Nahostkonflikt von einer ausgereiften Perspektivlosigkeit gezeichnet. Das hat nicht nur mit der beträchtlichen Ansammlung inzwischen gescheiterter Versuche, den Konflikt friedlich beizulegen, zu tun, sondern nicht minder auch mit veränderten Strukturverhältnissen, neuen Protagonisten und ideologischen Zuspitzungen im »Spielfeld« des Konflikts. Die Beklommenheit bleierner Stagnation ummantelt die Gemüter vieler ermüdeter Friedensaktivisten, während alt-neue Töne extremistischer Unerbittlichkeit den politischen, publizistischen wie propagandistischen Raum des Konflikts samt seiner trittbrettfahrenden Ausleger erfüllen.

Als eklatanteste Veränderung darf wohl der palästinensische Bürgerkrieg und die aus diesem erfolgte Machtübernahme durch die Hamas im Gazastreifen gelten. Diese innerpalästinensische Entwicklung gesellt sich zu zahllosen Versäumnissen und Defiziten der palästinensischen Politik im Verlauf ihrer gesamten Konfliktgeschichte mit Israel. Man mache sich in dieser Hinsicht nichts vor: Selbst dann, wenn man sich als Außenstehender der Einmischung in die »inneren Angelegenheiten« der Palästinenser enthalten möchte, kann nicht ignoriert werden, daß mit der Hamas eine religiös-fundamentalistische Bewegung an die Macht gelangt ist, deren politische Zielsetzung und ideologische Raison d’être nichts weniger als emanzipatorisch ausgerichtet sind. Ihre Machtkonkurrenz mit dem Islamischen Dschihad tut ein übriges, um die Dynamik gegenseitiger Selbstvergewisserung durch gewaltdurchwirkten Extremismus im Kampf gegen Israel zu perpetuieren. Bedenkt man überdies, daß die von Syrien unterstützte Hamas (wie die von Iran geförderte Hisbollah) als militärischer Spielball geopolitischer, über den rein israelisch-palästinensischen Konflikt hinausgehender Machtinteressen in der Region fungiert, erweist sich der Strukturwandel der innerpalästinensischen Macht- und Gewaltverteilung in der Tat als gravierender Faktor bei der Bestimmung der israelischen Politik.

Die Geister, die man rief ...

Und doch wäre es verblendet, die Entwicklung im Gazastreifen und ihre Auswirkung auf das Ostjordanland als eine rein innerpalästinensische Angelegenheit abzutun. Denn nicht nur ist Israel mittlerweile durch den fortlaufenden Beschuß durch Kassam-Raketen im Süden des Landes und massive Aktionen des israelischen Militärs auf palästinensischem Boden unmittelbar von dieser Entwicklung betroffen, sondern Israel selbst war auch maßgeblich an der Herbeiführung dieses Zustandes beteiligt. Historisch bezieht sich diese Festellung auf die Tatsache, daß Israel, die säkulare PLO Arafats bekämpfend, in den 1970er Jahren meinte, die eher randständigen religiösen Elemente der palästinensischen Gesellschaft, die von keinem dezidiert nationalen Anspruch geprägt waren, mithin als »harmlos« eingestuft wurden, unterstützen zu sollen. Das Problem bei solchen taktischen Manövern ist stets, daß man zu wissen meint, worauf man sich einläßt, ohne jedoch die unerwünschten Auswirkungen solch struktureller Manipulation je wirklich unter Kontrolle zu haben. Ähnlich wie bei der US-Hilfe für die afghanischen Mudschahedin gegen die sowjetische Expansion kann auch in diesem Fall behauptet werden, daß man die Geister, die man rief, nicht mehr los wurde, und zwar so sehr nicht, daß in Verbindung mit anderen Defiziten der israelischen Politik die islamistischen Ultras der palästinensischen Gesellschaft erst eigentlich zum Zuge gelangten.

Machtpoker um Gaza

Der aktuelle Bezug besagter Behauptung ist allerdings noch wirkmächtiger. Denn der katastrophische Zustand im Gazastreifen verdankt sich nicht zuletzt dem unilateralen Rückzug Israels aus dem besetzten Gebiet. Das nimmt sich paradox aus: Was konnte wünschenswerter sein, als der freiwillige Verzicht auf die Besatzungspraxis? Ganz unabhängig davon, welche Motivation der israelischen Rückzugsinitiative zugrundelag – namentlich die partielle Entsicherung der sogenannten tickenden demographischen Zeitbombe durch die Abkoppelung von zirka 1,5 Millionen Palästinensern von der israelischen Besatzungshoheit –, allein die Tatsache, daß sie ohne Absprache mit den Palästinensern stattfand, wobei Israel mit dem Rückzug sich seiner Verantwortung für dieses hochexplosive Gebiet, welches es über Jahrzehnte zu dem hat werden lassen, was es geworden war, enthoben sah, ließ das Vakuum entstehen, das die Hamas in der Gunst der Stunde füllen konnte. Ob Israel dabei die Spaltung der Palästinenser, die eine nie zuvor gekannte Tiefe erreicht hat, als Vorteil für sich auswertet, interessiert im hier erörterten Zusammenhang nicht weiter. Von Belang ist einzig, daß durch diesen Riß und die mit ihm einhergehende Erschütterung des Macht- und Gewaltmonopols der PLO und der Palästinensischen Autonomiebehörde (ein schier unvorstellbarer Zustand zu Arafats Zeiten) die Stagnation im Hinblick auf die politische Lösung des Konflikts strukturell festgeschrieben ist. Mögen sich Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und Israels Premier Ehud Olmert noch so oft treffen und beteuern, daß sie auf einen Friedenschluß aus sind; mögen sie sich zu Konferenzen wie der in Annapolis einfinden und dem US-Präsidenten im letzten Jahr seiner Amtszeit die Beilegung des Konflikts gleichsam als Abschiedsgeschenk auf dem Silbertablett servieren wollen – alle wissen, daß ohne Gaza nichts läuft, daß Mahmud Abbas eben kein Mandat des gesamten palästinensischen Volkes hat, die Zwei-Staaten-Lösung voranzutreiben, daß also die äußere Fassade auf palästinensischer Seite weder ideologisch noch juristisch oder realpolitisch das von ihr Verdeckte repräsentiert.

Gleiches läßt sich freilich mit nicht minderer Bestimmtheit von der israelischen Seite behaupten. Man hat sich seinerzeit gefragt, was wohl Ariel Scharon dazu bewogen haben mochte, den Rückzug aus dem Gazastreifen rigoros durchzuführen. War nicht er der ideologische Ziehvater und tatkräftige Förderer der Siedlerbewegung in den besetzten Gebieten? War nicht gerade die Siedlungsexpansion sein Lebenswerk? Endgültig wird man darüber wohl nie mehr Gewißheit erlangen können. Und doch dürfte – abgesehen von besagtem Faktor der »tickenden demographischen Zeitbombe« – seine Aussage, er habe den Gazastreifen »geopfert«, um für Jahrzehnte Ruhe im Westjordanland zu erreichen, als bezeichnend genug gelten, um einigen Aufschluß über seine eigentlichen Ziele zu geben. Zunächst: Die jüdische Besiedlung des Gazastreifens hatte weder in der religiösen Sicht der Nationalreligiösen noch in der säkularen Groß­israel-Ideologie des Likud je den Stellenwert eingenommen, der dem Westjordanland – »Land der Urväter« – beigemessen wurde. Der Gazastreifen wurde im Gegenteil stets auch als eine Bürde angesehen, deren man sich früher oder später zu entledigen hatte. Selbst ein späterhin friedensgewendeter Staatsmann wie Rabin ließ in den 1980er Jahren die Ungeheuerlichkeit verlauten, von ihm aus könne der Gazastreifen im Meer versinken. Wenn also Scharon den Rückzug aus diesem besetzten Landstrich initiierte, so darf man daraus nichts über seine Vorhaben in den anderen, für jegliche Friedensregelung letztlich entscheidenden okkupierten Gebieten ableiten.

Zweierlei Terror

Was nun aber für Scharon stimmte, gilt allemal für Olmert, geht aber im Grunde über beide hinaus. Denn kein israelischer Premier hätte heute das nötige Hinterland in der israelischen Bevölkerung, um den Beschluß der Räumung der besetzten Gebiete im Rahmen einer finalen Friedensregelung unbeschadet durchzusetzen. Ein solcher Beschluß würde in der etablierten, mithin weiterhin erwartbaren Konstellation der israelischen Politlandschaft unweigerlich zum parlamentarischen Fall des Premiers oder aber – im Falle seines trotz aller Schwierigkeiten ungemindert hartnäckigen Durchsetzungswillens – zu solch gravierenden Rissen in der Gesellschaft, eventuell gar zu bürgerkriegsähnlichen Situationen führen, daß er sich hüten wird, sich auf das Unheil verheißende politische Projekt einzulassen. Was Stimmen der israelischen Politik und Publizistik über Jahre den Palästinensern gebetsmühlenartig abzufordern pflegten (den terroristischen Fundamentalismus in den eigenen Reihen auszuheben), dazu war man in Israel, bezogen aufs eigene Kollektiv, nie selbst fähig. Wie auch? Galten doch die Siedler in den besetzten Gebieten vielen Israelis und nicht wenigen Regierungen Israels als die modernen zionistischen Pioniere, die man nicht nur infrastrukturell und wirtschaftlich zu fördern, sondern auch ideologisch hochzuhalten habe. Man lasse sich also nicht beirren: Der relativ glatt abgelaufene Rückzug aus dem Gazastreifen läßt mitnichten auf Pläne in der Westbank schließen. Eine künftige Räumung stellt ein Unterfangen ganz anderer Größenordnung von unvergleichbarer Bedeutung mit ganz und gar nicht absehbaren Folgen dar. Erst die Probe aufs Exempel würde erweisen, ob die in Erhebungen stets artikulierte Friedensbereitschaft (also die Bereitschaft zur Räumung der Territorien) von zirka 60 Prozent der Befragten mehr ist als ein Lippenbekenntnis. Die Furcht vor den Folgen – ganz abgesehen von der politischen Wirkmächtigkeit derer, die sich der Räumung dezidiert entgegenstellen – überragt bei weitem die Einsicht in ihre Notwendigkeit. Den »Preis« fürs (zumindest proklamiert) Gewollte will man nicht zahlen.

Um aber diesen Widerspruch zwischen auf der Hand liegender Notwendigkeit und der psychisch begründeten Weigerung, diese anzuerkennen, miteinander zu vereinbaren, bedient man sich einer politischen Rhetorik der Projektion, die von vornherein darauf angelegt ist, die Stagnation und eine von ihr herrührende Sackgasse zu fördern, zugleich aber auch ideologisch abzusegnen. Kein politischer, geschweige denn territorialer Verzicht sei zu leisten, heißt es, solange der Terror herrscht – eine späte Variante des Axioms, mit dem Terror dürfe nicht verhandelt werden (obgleich man mit ihm immer schon verhandeln mußte, wenn man Menschenleben retten wollte). Und da der Terror sich nicht gar so einfach abschaffen läßt – mithin deshalb nicht, weil er bzw. der Guerillakampf die Gewaltoption derer ist, die über keine organisierte Armee verfügen, welche fähig wäre, die mächtige israelische zu bezwingen –, wird daraus geschlossen, daß es auf der palästinensischen Seite keinen ernstzunehmenden Verhandlungspartner gebe. Ganz ausgespart wird dabei die Frage, was Israels Anteil (bzw. der Anteil des israelischen Okkupationsregimes) an Genese und Entfaltung des palästinensischen Terrors sei, vor allem aber die Frage, ob es vielleicht deshalb keinen Verhandlungspartner gibt, weil es keinen geben soll, denn der Ausgang künftiger ernstgemeinter Verhandlungen könnte Israel in einen praktischen Zugzwang versetzen, dem israelische Regierungen und mit ihnen ein Großteil der israelischen Bevölkerung sich seit Jahrzehnten zu entwinden trachten. Daß dabei die tabuisierten Gesprächspartner von gestern früher oder später anerkannt werden (müssen), mithin zu legitimen Gesprächspartnern avancieren, wie sich im Falle Arafats herausstellen sollte, vermochte bislang noch nie das beständige Grundmuster der stets neubelebten »Kein Gesprächspartner«-Proklamation zu unterhöhlen.

Rolle der USA

Als fatal für dieses ideologische Grundproblem der israelischen politischen Kultur erwies sich die neue Weltkonstellation im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Der Zusammenbruch des Blocksystems im Kalten Krieg und mit ihm der Verlust des sowjetkommunistischen Feindbildes stellten die USA vor das Problem der Etablierung eines neuen Feindes im Weltmaßstab, wenn sie ihre Rolle als neuen, kapitalistisch allmächtigen Welthegemon, der sie nunmehr objektiv geworden waren, begründen und verfestigen wollten. Zeichnete sich der politisch-militärische Umgang der USA mit dem islamistischen Fundamentalismus in der Endphase des 20. Jahrhunderts noch durch einen zweckorientierten Opportunismus aus, der es ihnen ermöglichte, mit ihm gegen die Sowjets in Afghanistan zu kooperieren, ihn aber zugleich auch mit Saddam Hussein im irakisch-iranischen Krieg zu bekämpfen, um dann Saddam Hussein selbst zu bekriegen, so änderte sich dies spätestens mit dem 11. September 2001 von Grund auf. So horrend das terroristische Ereignis an sich war, konnte es der amerikanischen Regierung unter George W. Bushs Präsidenschaft die Matrix für ihre ideologische Strategie der Bekämpfung einer »Achse des Bösen« bieten, in der die Ausschlachtung einer Verbindung zwischen Fundamentalislamismus und Terror ein zentrale Rolle spielte (und noch immer spielt). Unerörtert mag im hier analysierten Zusammenhang die Tatsache bleiben, daß die Pläne für eine US-amerikanische Hegemonialbeherrschung Zentral­asiens und der Golfregion einer geopolitischen Gesamtstrategie aus dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstammten. Der Afghanistan- und die Irak-Kriege hatten entsprechend kaum etwas mit dem emphatisch posaunten Kampf um Menschenrechte und Demokratisierung zu tun, umso mehr dafür mit Ressourcensicherung und geopolitischen Interessen in der Region. Für den israelisch-palästinensischen Konflikt sollte dies schwerwiegende Folgen haben.

In der israelischen Linken pflegt man sich immer, wenn es finster aussieht um die Dynamik des Nahostkonflikts, eine »Einmischung von außen« zu erhoffen – womit für gewöhnlich die USA gemeint sind. Daß die USA bei ihren Interventionen sich noch nie um die verfeindeten Protagonisten des Konflikts geschert, mithin das gegenseitige israelisch-arabische Gemetzel solange hingenommen haben, wie es die Wahrung ihrer eigenen Interessen nicht allzu sehr störte, tangiert dabei die Hoffenden nicht sonderlich. So verzweifelt ist man über den Stillstand der Verhandlungen bei periodisch aufflammenden Gewalteskalationen, daß der US-amerikanische Heilsbringer nachgerade zum Fetisch avancierte. Gefielen sich die USA aber in der Clinton-Ära (wie auch schon zuvor) in der Vermittlerrolle, also im Anspruch, den Kontakt zu allen beteiligten Seiten des Konflikts zu wahren, so trat mit George W. Bush eine eklatante Wende ein. Weil die proklamierte Ideologie der neuen amerikanischen Politik auf »Terrorbekämpfung« basierte – dabei die These, der Kapitalismus bedürfe für seine Expansion keiner Kriege mehr, aufs gründlichste revidierend –, verfestigte sich der Schulterschluß zwischen den USA und Israel als »Terror bekämpfende Staaten«, um dafür die diplomatische Verbindung zu Staaten wie Syrien (bekanntlich kein Unbeteiligter im Nahostkonflikt) umso eklatanter einreißen zu lassen. So fehlgeleitet und jeglichem rationalen Kalkül zuwiderlaufend die palästinensische Entscheidung gewesen sein mag, die zweite Intifada zu militarisieren, bezog doch der rabiate israelische Umgang mit ihr seine Legitimation primär von der stillschweigenden Absegnung der militärischen Handlungsfreiheit der israelischen Armee durch die USA. Was sich noch als sachte Verbündetensolidarität zwischen Bush und Scharon ausnehmen mochte, sollte bei Bushs letztem Israelbesuch zu einem regelrechten Verbrüderungskitsch zwischen Olmert und dem US-Präsidenten geraten. Das peinlich Hohle der öffentlichen Gesten stach umso mehr ins Auge, als Bush in beiden Amtsperioden so gut wie nichts unternommen hatte, um die politische Lösung des blutigen israelisch-palästinensischen Konflikts – und sei’s eben in der Führungsrolle des wirkmächtigen Welthegemons – voranzutreiben. Sein kläglicher Versuch, sich im letzten Moment noch in die Annalen der Geschichte als benevolenter Friedensbringer im Nahen Osten einzuschreiben, muß angesichts des von ihm angerichteten Fiaskos im Irak erbärmlich erscheinen.

Wege aus der Sackgasse

Vor dem Hintergrund all der hier aufgelisteten Faktoren erhebt sich denn die Frage, was sich, anläßlich des 60. israelischen Staatsjubiläums, im Hinblick auf die Zukunft des Landes und seiner Existenzsicherung sagen lasse. Diese Frage hat in den letzten Jahren durch die eklatante Politrhetorik und wüsten Proklamationen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, vor allem aber durch den Krieg mit der von ihm militärisch unterstützten und finanzierten Hisbollah einen neuen merklichen Auftrieb erhalten. Ohne Zweifel handelt es sich bei beiden um eine Steigerung des Eskalationspotentials: Zum einen gewöhnten sich etablierte arabische Staaten seit den 1990er Jahren weitgehend ab, von der Vernichtung des zionistischen Staates zu reden. Man war nach jahrzehntelanger militärischer Konfrontationserfahrung zur Einsicht gelangt, daß sich Israel im konventionellen Krieg nicht leichterdings bezwingen lasse. Der Oslo-Prozeß trug seinerseits dazu bei, die Vernichtungsrhetorik (bei fortwährender Feindschaft) aus staatsoffiziellen arabischen Diskursen verschwinden zu lassen. Mit Ahmadinedschad erfuhr die ehemalige Eliminationsexaltiertheit eine Art Renaissance. Mit dem zweiten Libanon-Krieg traten zum anderen Defizite und Dysfunktionalitäten des israelischen Militärs zutage, die nicht nur bei der breiten israelischen Bevölkerung das Gefühl hinterließen, Israel habe es nicht vermocht, die Hisbollah entscheidend niederzukämpfen.

Sosehr man die Zäsur in beiden Fällen nicht unterschätzen darf, soll man sie auch auf keinen Fall überbewerten. Denn mag sich Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah noch so brüsten, Israels Militärmacht widerstanden zu haben – käme die israelische Armee mit ihrer vollen Schlagkraft zum Einsatz, würde der Guerillakrieg der Hisbollah schnell seine Grenzen erfahren. Nicht, weil sie daran zweifelte, war die israelische Bevölkerung vom Ausgang des Krieges irritiert, sondern weil sie nicht akzeptieren wollte, daß die israelische Regierung das von ihr Erwartete nicht mit voller Vehemenz vollführte. Auch die Drohungen des iranischen Präsidenten sind eher als überspannt einzuschätzen. Kein Staat in der Nahostregion kann Israel in seiner Existenz bedrohen wollen, ohne in Kauf zu nehmen, daß er dabei unweigerlich seinen eigenen Untergang mitbewirken werde. Die wohl unabwendbare Nuklearisierung der gesamten Region kann nur ein Gleichgewicht des Schreckens oder – im apokalyptischen Fall – die Zerstörung der gesamten Region zur Folge haben. Das dürfte selbst islamistischen Fundamentalisten nicht unbekannt sein.

Was läßt sich angesichts solch beklemmender Situation und düsterer Perspektive über die kommenden 60 Jahre des Staates Israel sagen? Zunächst und vor allem: Einzig der Frieden kann seine Existenz längerfristig garantieren. Nur im friedlichen Zustand kann eine wie immer sich selbst setzende jüdische Kollektivität – als souveräner jüdischer, als binationaler oder als konföderativ mit anderen Ländern verbundener Staat – auf Selbsterhaltung und Entfaltung hoffen. Der Frieden muß aber gewollt sein, er muß aktiv errungen werden. Er erfordert einen Preis, vor allem den des Abschieds von überlebten Mythen und Ideologien der Selbstverblendung. Der Frieden erfordert daher Bewegung, den bewußt dynamisierten Prozeß seiner künftigen Erringung. Die Stagnation im gegenwärtig Bestehenden ist sein schleichender Tod. Sie ist gleichwohl historisch entstanden, kann daher auch historisch überwunden werden.

Der Soziologe Prof. Moshe Zuckermann lehrt seit 1990 am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas (Universität Tel Aviv) und war von 2000 bis 2005 Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv. Zuletzt erschien von ihm »Zeit der Lemminge. Aphorismen« (Passagen Verlag, Wien 2007, 16,90 Euro).

Aus: junge Welt, 8. März 2008



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