Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Fort mit Ahmadinedschad!"

Demonstranten in Iran fordern Neuwahlen

Von Jan Keetman, Istanbul *

Die Sicherheitslage in Iran hat sich vier Tage nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl weiter verschärft. Während auf den Straßen demonstriert wird, prüft der Wächterrat die Wahlergebnisse. Die Chancen für Neuwahlen werden allerdings als gering eingestuft.

Seit Montag erinnert manches in Iran an die letzten Tage des Schahregimes. Unübersehbare Massen auf illegalen Demonstrationen; Leute, die nachts von den Dächern ihrer Häuser rufen: »Gott ist groß!« und »Nieder mit dem Diktator!« Eine breite politische Bewegung, die nur ein gemeinsames Ziel hat: Fort mit Ahmadinedschad. Demgegenüber eine Regierung, die zwar über reichlich Macht verfügt, aber einen politischen Fehler nach dem anderen begeht und sich festgefahren hat.

Man sollte den Vergleich jedoch nicht übertreiben, Ahmadinedschad hat noch immer eine starke soziale Basis, es ist keineswegs sicher, dass er am Ende gehen muss. Der Protestbewegung geht es jedenfalls bisher nicht darum, das Regime der Islamischen Republik zu ändern. Dieses ist allerdings auf dem besten Wege, sich selbst zu demontieren.

Der religiöse Führer Ali Chamenei hatte sich im Wahlkampf, wenn auch indirekt, so doch recht eindeutig auf einen Sieg Ahmadinedschads festgelegt. Nach der Wahl hatte er das Ergebnis sofort gefeiert und die vielen Stimmen für Ahmadinedschad als einen Segen Gottes bezeichnet. Der reizte die Verlierer, indem er sie mit »Staub« und mit »Hooligans« verglich. Der Spott Ahmadinedschads brachte die Leute erst recht auf die Straße.

Aber nicht nur viele Bürger Teherans und anderer Städte sind aufgebracht, Ahmadinedschads zweifelhafter Triumph bei den Wahlen stößt nahezu alle Lager des Regimes vor den Kopf. Selbst die Konservativen stehen nicht geschlossen hinter ihm. Der ehemalige Chef der Revolutionsgarde Mohsen Rezai spricht genauso von Wahlbetrug wie der gemäßigte Reformer Mir Hussein Mussawi. Der konservative Parlamentspräsident und ehemalige Unterhändler in der Atomfrage, Ali Laridschani, machte das Innenministerium für Übergriffe auf Demonstranten verantwortlich. Die Graue Eminenz der Islamischen Republik, der ehemalige Präsident Haschemi Rafsandschani, hatte Chamenei in einem Brief bereits vor der Wahl besonders aufgefordert, für faire Wahlen zu sorgen.

Etwas muss in der Luft gelegen haben. Nicht nur dem engeren Kreis der Reformbewegung drohte die politische Marginalisierung, nachdem sich der Religiöse Führer immer mehr auf Ahmadinedschad verlassen hatte und seine ursprüngliche Politik der Balance zwischen den Lagern aufgab. Es scheint, dass Chamenei glaubt, nur mit einem Jakobiner wie Ahmadinedschad sei er auf Dauer in der Lage, durch ständige Konfrontation mit dem Westen das Regime auch in Zeiten Barack Obamas vor einer gefährlichen Aufweichung zu bewahren.

Das Regime steckt nun in einer Sackgasse. Wenn der Wächterrat nach der auf zehn Tage angesetzten Untersuchung die Wahl einfach anerkennt, wird er niemanden beruhigen. Die andere Möglichkeit, die Wahlen zu wiederholen, wäre aber eine zu große Blamage für das Innenministerium und auch für Chamenei persönlich. Selbst Mussawi hatte auf seiner Webseite zugegeben, dass er die Chance für eine zweite Wahl als gering einstuft. In dieser ausweglosen Lage besteht die Gefahr, dass das Regime früher oder später zu massiver Gewalt greift. Die Festnahme des ehemaligen Stellvertreters des Reformpräsidenten Mohammed Chatami, Ali Abtahi, am Dienstagmorgen zeigt jedenfalls, dass der Gedanke, die Proteste einfach zu unterdrücken keineswegs aufgegeben wurde. Die Gefahr einer Eskalation hängt wie ein Damoklesschwert über Iran.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Juni 2009


Maulkorb für Auslandspresse in Iran

Erste Todesopfer bei Protestdemonstrationen / Wächterrat will teilweise erneut auszählen **

Bei den Protesten in Iran sind die ersten Demonstranten getötet worden. Oppositionspolitiker Mir Hussein Mussawi rief seine Anhänger daraufhin am Dienstag auf, einer nicht genehmigten Demonstration in Teheran fernzubleiben. Während die Regierung ausländische Journalisten mit einem weitgehenden Berichtsverbot belegte, erklärte sich der Wächterrat zu einer teilweisen Neuauszählung der Präsidentenwahl bereit.

Teheran/Berlin (Agenturen/ND). Wie der amtliche Rundfunksender Pajam am Dienstag berichtete, wurden am Vortag bei den Oppositionsprotesten in Teheran sieben Menschen getötet und mehrere Personen verletzt. Die Demonstranten hätten einen Militärposten angegriffen, hieß es. Zuvor waren ungeachtet eines Demonstrationsverbots Hunderttausende Mussawi-Anhänger auf die Straße gegangen, um gegen die Wiederwahl von Präsident Mahmud Ahmadinedschad zu protestieren und Neuwahlen zu fordern. Der in Deutschland lebende iranische Exilpolitiker Mehran Barati-Novbari von der iranischen Republikanischen Union sagte dem RBB-Inforadio, es habe weit mehr Todesopfer gegeben als offiziell zugegeben. Landesweit seien die Namen von 22 Toten und 136 Verletzten bekannt.

Die iranische Regierung untersagte ausländischen Journalisten mit sofortiger Wirkung, über »nicht genehmigte« Demonstrationen zu berichten, wie das Kulturministerium mitteilte. Verboten wurden auch alle Berichte in Bild und Text über Versammlungen, die nicht auf der offiziellen Veranstaltungsliste des Kulturministeriums verzeichnet sind. Die für Iran beispiellose Anordnung bedeutet, dass ausländische Journalisten im Prinzip nicht mehr außerhalb ihrer Redaktionen arbeiten können. In Regierungskreisen wurde die Verfügung als Maßnahme zum Schutz der Korrespondenten dargestellt. In Teheran versammelten sich erneut Zehntausende Mussawi-Anhänger. Berichten zufolge weiteten sich die Proteste unterdessen von der Hauptstadt auf die Städte Matschhad, Isfahan und Schiras aus.

Erstmals seit der Wahl gingen die Anhänger von Präsident Ahmadinedschad zum öffentlichen Gegenprotest über. Tausende zogen am Dienstag (16. Juni) durch Teheran.

Angesichts der anhaltenden Proteste gegen den Wahlausgang erklärte sich der Wächterrat bereit, einen Teil der Stimmen neu auszuzählen. Das für die Organisation der Präsidentschaftswahl zuständige Gremium wolle die Stimmen jener Wahlurnen prüfen, die »Gegenstand von Einwänden« seien, sagte der Sprecher des Rates der amtlichen Nachrichtenagentur Irna. Der geistliche Führer Irans, Ayatollah Ali Chamenei, hatte eine Prüfung der Ergebnisse auf Forderung von Mussawi angeordnet.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat die Bundesregierung und die internationale Staatengemeinschaft zur Unterstützung der Opposition in Iran aufgerufen. Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch erklärte am Dienstag (16. Juni) in München, die Führung in Teheran müsse in die Schranken gewiesen werden, »mit allen Mitteln, die der internationalen Völkergemeinschaft dafür zur Verfügung stehen«. Knobloch sagte weiter: »Wer das eigene Volk auf solch autoritäre und brutale Weise behandelt und zudem seit Jahren anderen Staaten des Nahen Ostens offen mit der Vernichtung droht, hat seinen Platz in der Gemeinschaft zivilisierter Völker verspielt.«

Etwa 600 Menschen protestierten am Dienstag vor dem iranischen Generalkonsulat in Hamburg gegen das Vorgehen der Regierung Irans.

** Aus: Neues Deutschland, 17. Juni 2009

Zeitenwende?

Von Roland Etzel ***

Hunderttausende Demonstranten waren in der Nacht zu Dienstag auf Teherans Straßen, und mindestens ebenso viele drohten es gestern zu werden. Trotzdem begab sich Irans Präsident ganz selbstverständlich zu einer Konferenz nach Russland.

Siegesgewissheit, politischer Leichtsinn oder gar schon überstürzte Flucht? Am wenigsten wohl letzteres. Ahmadinedschads Jekaterinburger Spott-Tiraden auf die am Krisenkarussell schwindlig gewordenen Großmächte lassen keinen Raum für Gedanken an kleinlaute Rückzugsgefechte.

Was immer Ahmadinedschad an den Wahlergebnissen manipuliert haben mag, er fühlt sich seiner Sache sicher. Die akademische und großstädtische Jugend, Journalisten und Künstler wird er mit der tagtäglichen Gängelei durch Religionswächter und Sittenpolizei nicht für sich gewinnen. Doch er hat das konservative flache Land als uneinnehmbare Hochburg.

Wirklich? Was einst als Reflex auf die während der Herrschaft des Schahs erlittene kulturelle Unterwerfung unter die USA folgte – die Verdammung alles Westlichen oder auch nur vermeintlich Unislamischen –, hat 30 Jahre danach keine selbstverständliche Legitimation mehr. Vor allem nicht bei der Jugend, wenn sie über ideologische Indoktrination funktioniert; und schon gar nicht, wenn sie als Technologiefeindlichkeit, gepaart mit kultureller Abkapselung, daherkommt. Das hat auch schon anderen »sieghaften« Ideologien plötzlich die Basis entzogen.

*** Aus: Neues Deutschland, 17. Juni 2009 (Kommentar)




Zurück zur Iran-Seite

Zurück zur Homepage