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Nuklearimperialismus

Das Kernwaffenmonopol soll um jeden Preis zementiert und gegenüber dem Iran durchgesetzt werden

Von Jürgen Rose*

Wenn ein auf Beutezug befindlicher Kleptomane „Haltet den Dieb“ ruft, würde man dies zweifelsohne zu Recht als dreist bezeichnen. Ganz anders indes verhält es sich im Fall der fünf anerkannten Atommächte, die sich seit Jahrzehnten notorisch weigern, ihre völkerrechtlich bindenden Verpflichtungen aus dem «Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons (NPT)», landläufig als Atomwaffensperrvertrag bezeichnet, zu erfüllen. Bezichtigen doch diese, angeführt von den USA, die sich die Rolle eines Gralshüters des NPT anmaßen, den angeblich klammheimlich nach Atomwaffen strebenden Iran lauthals des Vertragsbruchs. Vertragstreue freilich läßt sich von anderen der Maxime „Pacta sunt servanda“ zufolge nur dann einfordern, wenn man sich selbst als vertragstreu erweist. Gerade hierin aber liegt die entscheidende Schwäche der Position der etablierten Nuklearmächte. Keine von ihnen ist bis dato der aus Artikel 6 des NPT resultierenden Obliegenheit zur vollständigen Abrüstung ihrer Kernwaffenarsenale gefolgt. Ganz im Gegenteil: Ständig werden neue, verfeinerte Nuklearwaffen entwickelt und stationiert, wobei sich, wen wundert’s, insbesondere die USA hervortun. Ganz oben auf der Rüstungsagenda steht dort die Entwicklung sogenannter „Mini-Nukes“, die es ermöglichen sollen, tief im Untergrund befindliche, extrem verbunkerte Ziele mit Atomsprengsätzen zu zerstören, ohne dabei den gefürchteten radioaktiven Fallout zu erzeugen. Ungeachtet des physikalisch-technischen Unfugs, der mit solch einem Unternehmen betrieben wird, geht es dessen Initiatoren vielmehr ganz gezielt darum, die politische Hemmschwelle für den tatsächlichen Einsatz von Nuklearwaffen zu senken. Dies spiegelt sich ebenfalls in den geltenden Einsatzdoktrinen wieder, denen zufolge Atomwaffen nicht mehr wie zu Zeiten des Kalten Krieges als „weapons of last resort“ zur Abschreckung anderer Atommächte dienen. Vom seit langem geforderten Ersteinsatzverzicht ist längst keine Rede mehr, ganz im Gegenteil behalten sich die USA expressis verbis selbst nukleare Präventivschläge vor. Wider den Geist des NPT befinden sich auch die Nichtkernwaffenstaaten im nuklearen Fadenkreuz, und sogar Terroristengruppen im Besitz von Massenvernichtungswaffen sollen unter atomares Feuer genommen werden können.

Angesichts dieser Entwicklung kann es nicht überraschen, daß immer mehr Staaten selbst nach Kernwaffen streben, um sich der nuklearen Bedrohung und Erpressung oder auch der direkten militärischen Intervention von Atommächten zu erwehren. Im Fall Iran komplettieren vielfältige weitere Faktoren dessen Bedrohungsperzeption. Diese reichen vom Sturz des demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mossadegh durch eine klandestine CIA-Operation im Jahre 1953, über die uneingeschränkte Unterstützung des diktatorischen Schah-Regimes durch die USA, die abgrundtiefe Feindseligkeit gegenüber dem Revolutionsführer Ajatollah Chomeini mitsamt der schiitischen Theokratie, die geostrategische Einkreisung des Landes durch US-Militärbasen vom Irak im Westen bis Afghanistan im Osten bis hin zu den jüngst bekannt gewordenen Kriegsplanungen des Pentagon. Komplettiert wird das Szenario durch die unverhohlenen Interventionsdrohungen seitens des atomar bis an die Zähne bewaffneten Israel, das verlauten läßt, daß eine Nuklearmacht Iran inakzeptabel sei.

Aus iranischer Perspektive liegt es mithin durchaus nahe, sein laufendes Nuklearprogramm über die zivile Dimension hinaus um eine militärische Komponente zu erweitern. Geostrategische Analysten im Westen beurteilen dies nicht anders. So merkte der niederländisch-israelische Militärhistoriker Martin van Creveld diesbezüglich vor kurzem an: „Teheran müßte doch verrückt sein, die Atombombe nicht zu wollen.“ (Martin van Creveld: Die iranische Bedrohung, in: Welt am Sonntag, Nr. 46, 14. November 2004) Und mitten hinein ins alarmistische Stakkato diesseits und jenseits des Atlantiks erschallte der Zwischenruf des ehemaligen US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski, daß er einen moderaten Iran mit Atomwaffen einem feindseligen vorzöge, der permanent versuchte, in den Besitz von Nuklearwaffen zu gelangen, um einer Intervention der USA zu begegnen. Diesen nämlich hielte er für „weitaus gefährlicher als ein moderates, atomar bewaffnetes Land.“ (Zbigniew Brzezinski: Im Sog der Demagogen, Freitag 9, 4. März 2005)

Folgt man, völkerrechtliche und moralische Imperative bei dieser Gelegenheit einmal außer Acht lassend, Brzezinskis eiskalter strategischen Rationalität, dann besteht zur Panikmache in der Tat kein Anlaß. Bemerkenswert ist zunächst, daß Brzezinski als ein durch den Kalten Krieg geprägter Realist offensichtlich davon ausgeht, daß nukleare Abschreckung selbstverständlich auch gegenüber dem vielfach als irrational apostrophierten Mullah-Regime wirkt.

Die empirische Faktenlage stützt Brzezinskis Position. Allein der Umstand, daß der iranische Klerus es versteht, sich seit Ajatollah Chomeinis notabene friedlicher Revolution 1979, also seit nunmehr über fünfundzwanzig Jahren, an der Macht zu halten, beweist, daß er sich nicht aus politisch-strategischen Stümpern rekrutiert. Für die politische Professionalität schiitischer Kleriker spricht auch das Verhalten des Großajatollahs al-Sistani und seiner Epigonen im Minenfeld der irakischen Nachkriegspolitik. Ganz offensichtlich handelt es sich bei diesen Leuten nicht um ideologische Amokläufer, sondern um gerissene Politstrategen, die das Regelwerk des Machtpokers durchaus beherrschen. Ebenso spricht die Tatsache, daß der Iran bis dato nie Ausgangspunkt einer militärischen Aggression, sondern ganz im Gegenteil nur Opfer einer solchen war, nicht eben dafür, daß die iranische Außenpolitik nach Krieg lechzt. Warum sich daran etwas ändern sollte, falls der Iran in den Besitz von Kernwaffen gelangte, ist nicht ersichtlich. Ganz im Gegenteil lehrt alle bisherige empirische Erfahrung, daß Staaten, sobald sie den Status einer Atommacht erlangt haben, in Konflikten mit gleichfalls nuklear bewaffneten Kontrahenten äußerste Vorsicht an den Tag legen – eben weil das unkalkulierbare Risiko der Eskalation zum Atomkrieg besteht. Dessen tödlicher Logik – nämlich daß, wer zuerst schießt, mit Sicherheit als Zweiter stirbt – wären sich auch die iranischen Entscheidungsträger bewußt und könnten sich ihr nicht entziehen. Insofern wirken Atomwaffen ungemein pazifizierend. Daß also ein strategisch ohnehin in der Defensive befindlicher Iran, in den Besitz zunächst nur einzelner nuklearer Waffen gelangt, urplötzlich in die Offensive gehen und auf selbstmörderische Weise die atomare Großmacht Israel bedrohen oder gar attackieren würde, kann demnach ausgeschlossen werden. Ohnehin zeugt die sowohl in den USA als auch in Europa weitverbreitete Auffassung, ein islamisches Regime böte prinzipiell nicht die Gewähr dafür, rational kontrolliert mit Atomwaffen umzugehen, während dies bei einer israelischen Regierung als selbstverständlich vorausgesetzt werden könne, mehr von einem rassistisch geprägten Vorurteil als von politischer Vernunft.

Wie aber sähen die möglichen Konsequenzen des von Brzezinski oder auch von van Creveld bezeichneten Szenarios einer (moderaten) Atommacht Iran im Hinblick auf die politische Konfliktlage im Nahen und Mittleren Osten aus? Den Ausgangspunkt bildet die Überlegung, daß es illusorisch ist, anzunehmen, die Israel umgebenden islamischen Nachbarstaaten ließen sich auf unbegrenzte Dauer durch dessen Nuklearwaffenpotential erpressen und sich solchermaßen dem strategischen Kalkül Israels unterwerfen. Dieses System der Ungleichheit demonstriert der islamischen Welt Tag für Tag ihre Inferiorität und fordert Widerstand geradezu heraus. Eine derart asymmetrische Konstellation bleibt eo ipso inhärent instabil, ständig prekär und verhindert somit absehbar eine dauerhafte Friedensregelung für Nah- und Mittelost.

Andererseits zeigt gerade die Erfahrung des Kalten Krieges, daß unter dem Schirm einer einigermaßen stabilen, auch nuklear basierten Machtbalance eine langfristig angelegte Entspannungspolitik durchaus Früchte tragen kann. Immerhin markierte die «Charta von Paris für ein freies Europa» das Ende des Ost-West-Konflikts. Kein Zweifel: Der Preis ist hoch, das Risiko noch höher. Dies gilt auch für den seit Jahrzehnten ungelösten Kashmir-Konflikt zwischen Pakistan und Indien – indes: seit beide nuklear bewaffnet sind, wurde zum einen kein weiterer Krieg geführt und verdichten sich zum anderem die Anläufe, den Streit auf friedlichem Wege lösen. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß eine potentielle Nuklearmacht Iran entgegen der im Westen aktuell betriebenen politischen Stimmungsmache zur Stabilisierung der Konfliktlage in Nah- und Mittelost beiträgt. Analog zum europäischen Helsinki-Prozeß könnte der zu Beginn der neunziger Jahre hoffnungsvoll gestartete, mittlerweile aber versandete Madrid-Prozeß wieder Fahrt aufnehmen, nicht zuletzt weil ein mit einem atomar bewaffnetem Iran konfrontiertes Israel sich seine bisher gepflegte Attitüde der Intransigenz nicht länger leisten könnte. In dieser Hinsicht wirken Atomwaffen nämlich als „großer Gleichmacher“. Nicht utopisch erscheint daher, daß am Ende eines solchen Entwicklungspfades die von der Arabischen Liga unter Wortführerschaft Ägyptens bereits mehrfach vorgeschlagene «Nuklearwaffenfreie Zone» Nah- und Mittelost stünde. Von dieser Warte aus betrachtet dürfte die von den EU-3 mittlerweile in enger Kooperation mit den USA betriebene atomare Prohibitionspolitik gegenüber dem Iran im Hinblick auf eine tragfähige Friedenssicherung im Nahen und Mittleren Osten sogar kontraproduktive Effekte implizieren. Ohnehin existiert keine realistische Option, eine zu allem entschlossene iranische Führung am Bau der Atombombe zu hindern. Je stärkerer Druck diesbezüglich auf den Iran ausgeübt wird, desto höher wird der Anreiz, sich dieser Waffen möglichst schnell zu bemächtigen. Und militärische Aktionen sind allerhöchstens dazu geeignet, das Rüstungsprojekt zu verlangsamen – verhindern läßt es sich damit auf Dauer nicht. Die weltpolitischen und -ökonomischen Kollateralschäden einer solchen Vorgehensweise freilich wären immens und unabsehbar.

Um jedem Mißverständnis vorzubeugen: Es geht selbstredend überhaupt nicht darum, einer nuklearen Aufrüstung des Iran das Wort zu reden. Es gilt vielmehr entschieden gegen einen weiteren Krieg zu plädieren, neuerlich inszeniert von der imperialen Supermacht und wiederum gestützt auf eine Massenvernichtungswaffenlüge. Denn Krieg löst kein Problem und schon gar nicht dieses.

* Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 3, Mai 2005

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