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Wie sie uns die Bombe stahlen

Von Uri Avnery *


Präsident Bush ist in Schwierigkeiten; sein Fiasko in Afghanistan und im Irak geht weiter. Jede amerikanische Bemühung, im Irak mit seiner schiitischen Mehrheit eine stabile Regierung zu installieren, hängt vom Rückhalt des schiitischen Iran ab. Bushs Traum von einem Blitzkrieg gegen den Iran – und somit dem Traum der Geschichte seinen Stempel aufzudrücken - hat sich in Wohlgefallen aufgelöst.

Was kann er noch tun, um irgendein positives Vermächtnis zu hinterlassen? Die einzige Alternative ist der israelisch-palästinensische Frieden. Vielleicht gibt er jetzt der armen Condoleezza mehr Rückhalt. Vielleicht wird er sich selbst mehr einbringen. Tatsache ist: er wird Israel zum ersten Mal in seiner Amtszeit besuchen.


ES WAR, als ob Israel von einer Atombombe getroffen worden wäre.

Die Erde bebte. Unsere politischen und militärischen Führungskräfte standen unter Schock. Die Schlagzeilen heulten auf vor Wut.

Was war geschehen?

Etwas Katastrophales: der amerikanische Nachrichtendienst, bestehend aus 16 verschiedenen Organisationen, war zu dem einstimmigen Urteil gelangt, dass die Iraner ihre Bemühungen um die Produktion einer Atombombe schon 2003 beendeten, und dass sie diese Bemühungen seitdem nicht wieder aufgenommen haben. Selbst wenn sie in Zukunft ihre Meinung änderten, bräuchten sie mindestens fünf weitere Jahre, um ihr Ziel zu erreichen.

SOLLTEN wir darüber nicht überglücklich sein? Sollte Israels Bevölkerung nicht auf den Straßen tanzen wie am 29. November 1947 – vor 60 Jahren? Schließlich sind wir gerade erneut gerettet worden!

Bis zu dieser Woche haben wir regelmäßig gehört, dass die Iraner eine Bombe produzieren wollen, die – jederzeit – unsere bloße Existenz bedroht. Nichts weniger als das. Mahmoud Ahmadinejad, der neue Hitler des Nahen Ostens, der jeden zweiten Tag verkündet, Israel müsse von der Landkarte verschwinden, war im Begriff, seine eigene Prophezeiung zu erfüllen.

Eine kleine Atombombe, selbst eine so winzige, wie diejenigen, die über Japan abgeworfen wurden, würden ausreichen, das ganze zionistische Unternehmen auszulöschen. Wenn sie auf Tel Avivs Rabin-Platz fallen würde, würde das wirtschaftliche, kulturelle und militärische Zentrum Israels ausgelöscht– zusammen mit Hunderttausenden von Juden. Ein zweiter Holocaust.

Und sieh da – keine Bombe und kein „Jederzeit!“. Der böse Ahmadinejad kann uns bedrohen, so viel er mag– er hat gar nicht die Mittel dazu, uns zu schaden. Ist das nicht ein Grund zum Feiern?

Warum fühlt es sich dann an wie eine nationale Katastrophe?

EIN Zwei-Groschen-Psychologe ( wie ich es bin ) könnte sagen: Juden haben sich an die Angst gewöhnt. Nach Hunderten von Jahren voller Verfolgung, Vertreibungen, Inquisition, Pogromen und dem Holocaust haben wir in unsern Köpfen kleine rote Warnlämpchen, die schon bei geringsten Anzeichen von sich nähernder Gefahr aufleuchten. An solch eine Situation sind wir gewöhnt. Wir wissen, was wir zu tun haben.

Aber wenn diese Lichter ausbleiben und keine Gefahr am Horizont auftaucht, dann haben wir das Gefühl, dass irgendetwas Verdächtiges passiert. Da stimmt irgendetwas nicht. Vielleicht sind die Lämpchen nicht in Ordnung. Vielleicht ist es in Wirklichkeit eine Falle!

Es gibt in dieser Situation einen kleinen Trost. Während auch die unmittelbare Gefahr der Auslöschung noch einmal vorüberging, haben wir doch zumindest das Gefühl, allein zu sein, wieder einmal allein.

Das ist ein anderes Anzeichen jüdischer Einzigartigkeit: wir sind vor aller Welt allein. Genau wie in den Tagen des Holocaust haben uns die Goyim im Stich gelassen. Angesichts des iranischen Monsters, das uns zu verschlingen droht, stehen wir hier allein.

All unsere Medien wiederholen dies unisono wie ein Orchester, das keinen Dirigenten braucht, weil es die Musik auswendig kennt.

Es stimmt, auch andere Völker können Genugtuung aus dem Alleinsein ziehen. Meinem Gedächtnis hat sich ein britisches Poster eingeprägt, das an den Mauern Palästinas hing, als in der dunklen Zeit nach Frankreichs Besetzung durch die Nazis die Briten ihren Kampf mehr oder weniger allein auszufechten hatten. Unter dem ernsten Gesicht Winston Churchills stand der Slogan: „Nun denn: alleine!“

Doch bei uns ist das fast zu einem nationalen Ritual geworden. Wie wir in den guten alten Zeiten von Golda Meir sangen: „Die ganze Welt ist gegen uns/ das ist eine alte Melodie / und jeder der gegen uns ist/ lass ihn zur Hölle gehen…“. Zu jener Zeit hat eine Theatergruppe daraus sogar einen Volkstanz kreiert.

In den letzten paar Jahren hatte sich eine riesige Koalition gegen den Iran formiert. Die iranische Bombe wurde zum Kernstück eines internationalen Konsenses, der von Amerika, der Königin der Welt, angeführt wurde. Im Einvernehmen all seiner fünf permanenten Mitglieder hat der UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen Teheran verhängt.

Vor unsern Augen fällt diese Koalition nun aus einander. Präsident Bush kommt ins Stottern. Der Vorwand für einen amerikanischen militärischen Angriff besteht nicht mehr – der Wunschtraum der israelischen Regierung und der Neocons. Sogar der Vorwand für noch strengere Sanktionen besteht nicht mehr. Wer weiß – vielleicht werden in nächster Zukunft sogar die bestehenden schwächeren Sanktionen aufgehoben werden.

DIE ERSTE Reaktion der israelischen Führung war energisch und bestimmt: totale Leugnung.

Der amerikanische Bericht ist einfach falsch, verkündeten alle Medien. Er gründe sich auf falsche Informationen. Unsere eigenen Nachrichtendienste hätten viel genauere Daten, die beweisen, dass an der Bombe weiter gebaut werde.

Wirklich? Alle Informationen des Mossad gehen automatisch zur CIA. Sie sind ein Teil genau jener Datenfülle auf die sich der amerikanische Bericht stützt. Man muss auch bedenken, dass der veröffentlichte Teil des Berichtes nur 3% des ganzen Dokumentes darstellt.

Also dann lügen die amerikanischen Nachrichtendienste bewusst. Da kann man sich nicht der Schlussfolgerung erwehren, dass trübe politische Motive hinter ihren eindeutigen Befunden liegen müssen. Vielleicht wollen sie die Fehlberichte, aufgrund derer Präsident Bush seine Invasion in den Irak zu rechtfertigen versuchte, wettmachen. Damals haben sie übertrieben – jetzt untertreiben sie halt. Vielleicht wollen sie sich an Bush rächen und glauben, die Zeit sei reif dazu, zumal er im letzten Abschnitt seiner Amtszeit nur mehr eine „lahme Ente“ ist. Oder sie schließen sich der allgemeinen amerikanischen Meinung an, der es nicht nach einem weiteren Krieg zumute ist. Und natürlich müssen die dafür Verantwortlichen Antisemiten sein.

Selbst wenn die amerikanischen Geheimdienste in ihrer Naivität glauben, dass der Iran die Arbeit an der Bombe eingestellt hat, offenbart dies ihre Naivität. Sie können sich nicht vorstellen, dass die Iraner sie täuschen. Wer weiß besser als wir, wie leicht es ist, eine Atombombe zu verstecken und die ganze Welt zu täuschen. Schließlich haben wir darin jahrelange Erfahrung.

Doch all dies ändert nichts an der Tatsache, dass dieser Bericht der amerikanischen Politik eine neue Richtung gibt und die ganze internationale Konstellation verändert.

Der Krieg gegen den Iran, der das entscheidende Ereignis für 2008 werden sollte, wird vorläufig zu einem Nicht-Ereignis.

WAS SIND die Folgen soweit es Israel betrifft? Warum stehen unsere verantwortlichen Politiker seit der Veröffentlichung des Berichtes unter Schock?

Die Möglichkeit eines unabhängigen israelischen Militärschlages gegen den Iran ist dahin. Israel kann keinen Krieg ohne den uneingeschränkten Rückhalt der USA führen. Wir versuchten es ein einziges Mal – beim Sinaikrieg 1956 – bis uns Präsident Dwight Eisenhower eine Ohrfeige verpasste. Seitdem mühen wir uns sehr, vor jedem Krieg den Segen der USA zu bekommen.

Was unser Militär und die Nachrichtendienste betrifft, so ist der Bericht aus einem weiteren Grund eine absolute Katastrophe. Die iranische Bombe spielt nämlich eine unentbehrlich Rolle beim jährlichen Kampf der Armee um ihren beträchtlichen Anteil am Staatsbudget.

Für rechte Demagogen ist die Auswirkung noch entmutigender. Binyamin Netanjahu hatte seine ganze Strategie auf die iranische Bedrohung gebaut und hatte gehofft, auf der Bombe direkt zum Ministerpräsidentenamt reiten zu können.

Abgesehen davon - wenn das iranische Problem nun keine Rolle mehr spielt, dann nimmt das palästinensische Thema wieder mehr Raum ein. Das trifft besonders für Washington DC zu. Präsident Bush ist in Schwierigkeiten; sein Fiasko in Afghanistan und im Irak geht weiter. Jede amerikanische Bemühung, im Irak mit seiner schiitischen Mehrheit eine stabile Regierung zu installieren, hängt vom Rückhalt des schiitischen Iran ab. Bushs Traum von einem Blitzkrieg gegen den Iran – und somit dem Traum der Geschichte seinen Stempel aufzudrücken - hat sich in Wohlgefallen aufgelöst.

Was kann er noch tun, um irgendein positives Vermächtnis zu hinterlassen? Die einzige Alternative ist der israelisch-palästinensische Frieden. Vielleicht gibt er jetzt der armen Condoleezza mehr Rückhalt. Vielleicht wird er sich selbst mehr einbringen. Tatsache ist: er wird Israel zum ersten Mal in seiner Amtszeit besuchen.

Diese Bemühung wird zwar keine großen Erfolgsaussichten haben, aber die Leute in Jerusalem sind trotzdem besorgt. Das hat uns gerade noch gefehlt – einen Bush der es Jimmy Carter – diesem Antisemiten - nachtut, der Begin damals so lange den Arm verdrehte, bis dieser Frieden mit Ägypten machte.

Was also tun? Man kann die israelischen Diplomaten im Ausland dahingehend instruieren, ihre Bemühungen zu verdoppeln, um die jeweiligen Regierungen davon zu überzeugen, dass sich die Situation nicht verändert hat, dass man gegen die Bombe kämpfen muss – ob sie nun existiert oder nicht. Aber sagen sie das einmal den Russen und Chinesen! Die Regierungen der Welt sind glücklich, dass sie endlich den Druck von Seiten Bushs los sind – alle bis auf das „glückliche Paar“, Nicolas Sarkozy und Angela Merkel, die Tony Blairs Rolle - Pudel des Weißen Hauses - übernommen haben.

DIE NEUE Situation bedeutet auch für Ehud Olmert ein schweres Dilemma.

Auf dem Rückflug von Annapolis gab er erstaunliche Äußerungen von sich. Wenn die Zwei-Staaten-Lösung nicht realisiert werde, dann „ist der Staat Israel erledigt“, erklärte er. Keiner im Friedenslager hat je gewagt, so weit zu gehen.

Glaubt er, was er sagt, oder handelt es sich nur um Schönrederei? Das ist die Frage, die augenblicklich den Diskurs in Israel bestimmt. In anderen Worten: geht es ihm nur darum, Zeit zu gewinnen, oder ist er wirklich dabei, an einem Friedensabkommen zu arbeiten?

Alle Anzeichen scheinen darauf hinzudeuten, dass er nicht in der Lage ist, auch nur irgendeinen Schritt zu machen. Wenn er versucht, auch nur die erste Phase der Road Map durchzuführen und einige Siedlungsposten auflöst, wird sich ihm nicht nur die entschlossene Opposition der Siedler und ihrer Unterstützer und die stille (aber sehr wirksame) Opposition des Militärs entgegenstellen, sondern auch eine Blockade durch seine Regierungskollegen. Bevor der erste Außenposten aufgelöst ist, wird die Koalition auseinanderbrechen.

Olmert hat keine andere Koalition zur Hand. Ehud Barak hat immer wieder versucht, ihn von rechts zu überholen. In einer Krise kann man sich nicht auf ihn verlassen. Die Laborpartei ist chaotisch, ohne Rückgrat und skrupellos. Die zusammengeschrumpfte Meretz-Partei besteht nur aus fünf Knessetmitgliedern; vier von ihnen konkurrieren um die Parteiführung. Die zehn Mitglieder der arabischen Fraktion – so nennt man sie gewöhnlich, obwohl eines der Knesset-Mitglieder von Hadash ein Jude ist – sind die Ausgestoßenen. Keine „zionistische“ Regierung würde sich offen auf ihre Unterstützung verlassen wollen. Und in Olmerts eigener Fraktion sind einige rechtsextreme Mitglieder, die jede Friedensbemühung sabotieren würden.

In solch einer Situation ist das normale Verhalten eines „wirklichen“ Politikers wie Olmert, nichts zu tun, Erklärungen nach links und nach rechts zu verteilen (im doppelten Sinne) und zu versuchen, Zeit zu gewinnen.

In der vergangenen Woche verkündete die Regierung Pläne, 300 neue Wohnungen im hässlichen Har Homa, nahe Jerusalem, zu bauen. Für jemanden wie mich, der Tage und Nächte gegen den Bau dieser speziellen Siedlung demonstriert hat, ist das besonders bitter. Es weist nicht auf eine bessere Wendung hin.

Andrerseits kam mir eine interessante These von jemandem aus dem inneren Zirkel Olmerts zu Ohren. Danach mag sich Olmert, der weiß, dass er die Macht verliert, sagen: Wenn ich fallen muss, warum dann nicht als jemand in die Geschichte eingehen, der sich selbst auf dem Altar eines erhabenen Prinzips geopfert hat, statt nur als politischer Nichtsnutz zu verschwinden.

Wenn er keinen anderen Ausweg hat, mag er diese Lösung wählen – umso mehr als seine eigene engere Familie ihn in diese Richtung drängt.

Ich würde diese Möglichkeit als „unwahrscheinlich“ einschätzen – aber es sind schon seltsamere Dinge geschehen.

Vielleicht sollten die Friedenskräfte ihre verständlichen Vorbehalte überwinden und versuchen, die öffentliche Meinung in einer Weise zu beeinflussen, die Olmert hilft, sich in diese Richtung zu wenden.

So oder so, eines ist sicher: dieser Schuft, Ahmadinejad, hat uns wieder einmal beschissen.

Er hat unseren kostbarsten Besitz geraubt: die iranische Atombedrohung.

Erstellt am 08.12.2007

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)

* Quelle: Deutschsprachige Website von Uri Avnery: www.uri-avnery.de


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