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Transatlantischer Angriffspakt

Analyse: Im Atomstreit mit dem Iran setzen die US-Neokonservativen auf Eskalation. Offenbar will auch die Bundesregierung beim nächsten "Präventivschlag" nicht abseits stehen

Von Knut Mellenthin*

Man sollte sich das Datum merken: Am 4. Februar 2006 hat die Internationale Atomenergiebehörde IAEA beschlossen, Iran beim UN-Sicherheitsrat der Verletzung des Atomwaffensperrvertrags anzuklagen. So steht es nicht explizit in der mit Hilfe Rußlands und Chinas zustande gekommenen Resolution, aber genau das ist ihr harter Kern. Um diese Klage vielleicht doch noch abzuwenden, müßte Iran sich diskriminierenden Bedingungen unterwerfen, von denen jeder Politiker mit ein bißchen Sachkenntnis weiß, daß Teheran sie keinesfalls akzeptieren wird.

Mit der IAEA-Resolution vom 4. Februar ist die US-Regierung ihrem Ziel einer von einem breiten Bündnis getragenen oder zumindest tolerierten militärischen Konfrontation mit dem Iran einen großen Schritt nähergekommen. Das bedeutet nicht automatisch, daß Angriffe in allernächster Zeit, vielleicht sogar schon im März, bevorstehen. Die Wahrscheinlichkeit spricht eher dafür, daß die USA, denen sich diesmal – anders als vor dem Irak-Krieg – die gesamte EU zugesellt hat, auch weiterhin schrittweise vorgehen. Das taktische Ziel, Rußland und China in die Konfrontationsstrategie einzubinden, dürfte auch in den kommenden Monaten Priorität behalten. Also wird es voraussichtlich zuerst eine »Ermahnung« des UN-Sicherheitsrats geben, dann ein Ultimatum, und anschließend wird man wohl einige Monate lang mit Sanktionen experimentieren. Diese werden aber sicher nicht zum Kniefall der Regierung in Teheran führen, sondern weitaus eher zu einer Solidarisierung der gesamten iranischen Nation. Am Ende aber steht dann fast »zwangsläufig« der nächste Krieg, mit oder ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats.

Zwar ist Iran nach US-amerikanischen Einschätzungen noch zehn Jahre von der Atomwaffe entfernt. Immer vorausgesetzt, die Iraner würden überhaupt an deren Entwicklung arbeiten oder morgen damit beginnen. Selbst israelische Politiker, Militärs und Geheimdienst-Analytiker gehen von etwa vier Jahren aus, was eine politisch motivierte Untertreibung sein dürfte. Auf der anderen Seite haben die NATO-Staaten und Israel mit ihrer eigenen Propaganda einen akuten militärischen Handlungsbedarf konstruiert, dem sie sich nicht einmal mehr entziehen könnten, wenn sie es wollten. Spätestens wenn Iran soweit ist, die industriemäßige Urananreicherung in Natanz aufzunehmen, was in ungefähr zwei Jahren der Fall sein könnte, führt kaum noch ein Weg an militärischen »Präventivschlägen« vorbei.

Kaum noch ein Rückzugsweg

Die Bundesregierung scheint fest entschlossen, diesmal bis zur letzten Konsequenz mit dabeizusein. Also »notfalls«, wenn Iran sich nicht »freiwillig« unterwirft, auch mit eigenem militärischen Beitrag. Es wird ihr angesichts der maßlos aggressiven Töne, die insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel in diesen Tagen anschlägt, auch kaum noch ein passabler Rückzugsweg aus der »militärischen Mitverantwortung« bleiben.

Und die deutschen Medien? Überwiegend verbreiten sie vor dem aktuellen Hintergrund der moslemischen Proteste im Karikaturenstreit den Eindruck, nicht nur auf eine Konfrontation mit dem Iran, sondern auch auf einen »Krieg der Kulturen« versessen zu sein. Stimmen der Vernunft sind kaum noch zu vernehmen.

Dabei ist absolut absehbar, daß ein Krieg gegen Iran noch weitaus katastrophalere Folgen haben wird als der im März 2003 begonnene Irak-Krieg: Er wird einen Flächenbrand in der gesamten Region und eine kaum noch umkehrbare Konfrontationsentwicklung auslösen. Die USA, mit der bei weitem stärksten Armee der Welt, können Iran zwar einen endlos langen Luftkrieg aufzwingen. Sie können das Land aber wahrscheinlich auf absehbare Zeit nicht im Bodenkrieg erobern – und ganz sicher können sie es nicht dauerhaft besetzt halten. Die Möglichkeiten Irans, der NATO durch Unterstützung und Förderung bewaffneter Widerstandsaktionen im Irak, im Libanon, in Afghanistan und auf der arabischen Halbinsel Schwierigkeiten zu machen, sind nahezu unbegrenzt. In der Zusammenarbeit Teherans mit der palästinensischen Hamas und mit Syrien deutet sich schon an, daß angesichts der manifesten Bedrohung durch USA und EU der traditionelle Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten überbrückbar wird.

In der Kriegspropaganda spielen die Äußerungen des seit August 2005 amtierenden iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad gegen Israel und über den Holocaust eine herausragende Rolle. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese von der NATO zwar dankbar als Geschenk angenommen wurden, aber keineswegs die Ursache der Kriegspläne gegen den Iran sind.

Man weiß heute, daß die Entscheidung zum Überfall auf den Irak in Washington schon kurz nach dem 11. September 2001 fiel. Vielleicht wird man eines Tages auch definitiv wissen, daß die US-Regierung damals nicht hundertprozentig sicher war, ob sie nicht zuerst den Iran angreifen sollte, wie es ihr unter anderem von der israelischen Regierung ausdrücklich nahegelegt wurde. Israel begründete diese Empfehlung damals mit dem Argument, der Iran sei »weitaus gefährlicher« als Irak. Nachdem der Entschluß der US-Regierung feststand, zuerst Irak anzugreifen, sagte Ministerpräsident Ariel Scharon am 5. November 2002 im Interview mit der britischen Times, nach dem Sturz Saddam Husseins und der Besetzung Iraks müsse man »gleich am folgenden Tag« Iran als nächstes Ziel in Angriff nehmen.

Die »Achse des Bösen«

Grundsätzlich hatte Präsident Bush Iran schon in seiner Rede zur Lage der Nation am 29. Januar 2002 den Krieg erklärt. Damals benannte er erstmals Nordkorea, Iran und Irak als Teile einer »Achse des Bösen«, wobei er mit der Formulierung »und Staaten wie diese« die Option für weitere Kandidaten offenließ. Den Begriff »Achse des Bösen« hatte ihm sein damaliger Ghostwriter David Frum beschert – ein Ideologe der Neokonservativen. Anfang 2004 trat Frum als Mitverfasser eines Buches von Richard Perle, dem Vordenker der Neocons, in Erscheinung. Titel: »Wie man den Krieg gegen den Terror gewinnt«. Perle gab schon in diesem Buch das zukunftsweisende Motto »Sieg oder Holocaust« aus, das in der Kriegspropaganda gegen Iran wahrscheinlich noch eine zentrale Rolle spielen wird.

Doch zurück zur Präsidentenrede vom 29. Januar 2002. Bush kündigte damals an, Amerika werde »tun, was notwendig ist, um die Sicherheit unserer Nation zu gewährleisten«, und zwar schon sehr bald: »Die Zeit ist nicht auf unserer Seite. Ich werde nicht auf Ereignisse warten, während sich die Gefahren zusammenballen. Ich werde nicht danebenstehen, während das Unheil näher und näher kommt. Die USA werden es den gefährlichsten Regimes der Welt nicht gestatten, uns mit den vernichtendsten Waffen der Welt zu bedrohen.«

Diese als Bush-Doktrin bekannt gewordene Drohung impliziert die Absicht zu völkerrechtswidrigen »Präventivkriegen« gegen eine Reihe von Staaten. Vor allem gegen die als »Achse des Bösen« bezeichneten Irak, Iran und Nordkorea – aber keineswegs nur gegen sie. Offengehalten wurden von der US-Regierung lediglich die Reihenfolge, in der diese Staaten angegriffen werden sollen, und die in jedem Einzelfall zu verfolgende politische Strategie. Inzwischen weiß man: Nummer eins Irak, Nummer zwei Iran, und danach oder vielleicht auch zwischendurch Syrien.

Blickt man zurück in die Geschichte, so ist schon sehr oft versucht worden, Kriege als »präventiv« zu rechtfertigen. Bedeutendstes Beispiel: der deutsche Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941. Man wird jedoch in der gesamten Geschichte kaum einen Fall finden, in dem sich die Behauptungen, mit denen die Notwendigkeit eines »Präventivschlags« begründet wurde, nicht hinterher als ganz grobe Lügen herausstellten. Das trifft nachgewiesenermaßen, als jüngstes Beispiel, auch für den Irak-Krieg zu: Von Massenvernichtungswaffen bis zur unterstellten Zusammenarbeit mit Al Qaida entsprach rein gar nichts der Wahrheit.

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß Bundeskanzlerin Merkel auf der »Konferenz für Sicherheitspolitik« in München am vergangenen Wochenende ausdrücklich und ausgerechnet die Politik des »Präventivkriegs« als einen der militärstrategischen Punkte hervorhob, in denen sich zwischen Deutschland und den USA ein »erstaunliches Maß an Übereinstimmung« entwickelt habe. Leider wurde Merkel an dieser Stelle nicht konkret. Anderenfalls hätte sie vielleicht doch Probleme mit einem wagemutigen Staatsanwalt bekommen. Denn die Vorbereitung oder Propagierung von Angriffskriegen ist in Deutschland, gerade auch vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen mit dem »dritten Reich«, aus gutem Grund immer noch ein Gegenstand des Strafgesetzbuches.

Werbung für »Präventivkriege«

Das gilt auch für Michael Rühle, Leiter des Planungsreferats der Politischen Abteilung der NATO in Brüssel, der am 1. Februar in der FAZ um mehr Verständnis für die Notwendigkeit künftiger »Präventivkriege« warb. Eigentlich logisch, denn – wie Rühle richtig feststellt – es »ist die Wahrscheinlichkeit, daß es in Europa zu einer großen militärischen Auseinandersetzung kommt, zu gering geworden, um sie noch zum bestimmenden Merkmal eigener Rüstungsplanung zu machen«. Mit anderen Worten: Für ihren verfassungsmäßigen Auftrag, die Landesverteidigung, ist die Bundeswehr heute erklärtermaßen überflüssig geworden. »Verteidigungsbereitschaft« müßte man daher, so Rühle, »künftig anders definieren und primär an der militärischen Schlagkraft außerhalb des eigenen Landes messen.«

Praktische Schlußfolgerung: »Die Regierungen müssen ihrer Bevölkerung einen neuen Gesellschaftsvertrag abringen.« Das heißt, laut Rühle: Sie »brauchen von den Bürgern das Einverständnis, Waffengewalt frühzeitiger und umfassender einzusetzen, als dies überkommene Vorstellungen von Selbstverteidigung nahelegen. Die massiven Probleme, die eine solche, letztlich auf Verdachtsmomente gründende Strategie der Prävention mit sich bringt, sind am Irak-Krieg eindringlich deutlich geworden. An der Logik der Prävention ändern sie gleichwohl nichts.« Denn angesichts des internationalen Terrorismus könne »der Staat seiner Schutzverpflichtung gegenüber seinen Bürgern nur noch durch präventives Handeln nachkommen«.

Einfach gesagt: Die Hauptaufgabe der Bundeswehr besteht künftig darin, weit entfernt von Deutschlands Grenzen im Rahmen der NATO »Aufträge wahrzunehmen«, bei denen es sich vielfach um Angriffskriege handeln wird, die durch demokratisch nicht mehr kontrollierbare, beliebig konstruierte »Verdachtsmomente« nur noch allernotdürftigst kaschiert werden.

Daneben wird die langfristige militärische Unterstützung neokolonialistischer Regimes treten, die in Folge von Angriffskriegen entstanden sind und die sich auf viele Jahre hinaus nicht aus eigener Kraft an der Macht halten könnten. In Afghanistan wird die Bundeswehr demnächst im Zuge der Ausdehnung der NATO-Truppen auf den Süden des Landes den frommen Anschein aufgeben müssen, sie nehme eigentlich nur menschenfreundliche Aufgaben wahr, für die man aber vernünftigerweise keine Soldaten, sondern ausgebildete Polizisten, Handwerker oder Sozialarbeiter einsetzen müßte.

Deutschland gibt bisher für Auslandseinsätze der Bundeswehr etwa eine Milliarde Euro im Jahr aus. Das ist weniger als die Kriegskosten der USA in einer einzigen Woche. Dem amerikanischen Drängen auf eine weitaus stärkere »Lastenteilung« als bisher wird sich die Bundesregierung angesichts ihrer eigenen scharfmacherischen Rhetorik längerfristig kaum glaubwürdig entziehen können. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wies auf der Münchner Tagung der Militärstrategen am vergangenen Wochenende darauf hin, daß die USA 3,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für den Militäretat aufwenden, der Rest der NATO hingegen nur 1,8 Prozent. »Es ist unwahrscheinlich, daß dieses Ausgabenniveau ausreichen wird, um die freien Völker unserer NATO-Nationen in den vor uns liegenden Jahrzehnten zu schützen.« – Was er nicht ausdrücklich erwähnte: In Deutschland sind es sogar nur 1,4 Prozent.

In ihrer Rede sagte Merkel, ohne direkt und ausdrücklich auf Rumsfeld einzugehen, lediglich, daß Deutschland die Priorität derzeit auf Sanierung seiner Wirtschaft und seiner Finanzen legen müsse. »Das heißt, wir können und wollen Verantwortung übernehmen, aber wir werden an einigen Stellen vielleicht auch nicht die Erwartungen aller in das, was wir finanziell für Verteidigung ausgeben können, erfüllen.« – So billig wird sie, angesichts ihrer eigenen rhetorischen Kapriolen wie etwa der Gleichsetzung Irans mit dem deutschen Nazistaat, auf Dauer wohl nicht davonkommen.

»Dies ist der vierte Weltkrieg«

Rumsfeld sprach in München, wie auch bei anderen Gelegenheiten in diesen Tagen, davon, daß der sogenannte Kampf gegen den Terrorismus ein »langer Krieg« werde – länger, als man anfangs angenommen habe. Das Thema ist jedoch keineswegs neu. US-Vizepräsident Dick Cheney prognostizierte schon im Oktober 2001, kurz nach Beginn der Luftangriffe gegen Afghanistan, der von Bush ausgerufene Krieg »endet vielleicht niemals. Jedenfalls nicht zu unseren Lebzeiten«. Ihm schloß sich sogleich Generalstabschef Richard B. Myers an: Cheneys Einschätzung über die Dauer des Krieges »könnte richtig sein«. »Daß er mehrere Jahre oder viele Jahre oder vielleicht unser Leben lang dauern könnte, würde mich nicht überraschen.«

Ebenso argumentiert der frühere CIA-Chef James Woolsey, einer der prominentesten Neokonservativen: Der »vierte Weltkrieg« werde erheblich länger dauern als der Erste und der Zweite, nämlich mehrere Jahrzehnte. »Vierter Weltkrieg« sagen viele Neocons, weil sie den Kalten Krieg gegen die sozialistischen Staaten als dritten mitzählen.

Als Erfinder des Begriffs gilt der neokonservative Militärstratege Eliot Cohen, der am 20. November 2001 im Wall Street Journal, das derselben politischen Richtung angehört, schrieb: »This is World War IV«. Als Gast der Münchner Militärkonferenz am Wochenende lobte Cohen jetzt, daß sich Merkels Äußerungen »sehr von dem unterscheiden, was wir hier früher hörten«.

Der konzipierte Gegner des »vierten Weltkriegs« ist, so sagen die amerikanischen Neokonservativen, der »militante Islam«. »Der militante Islam will unsere Zivilisation stürzen und die Nationen des Westens in moslemische Gesellschaften umwandeln«, schrieb Neocon-Vordenker Richard Perle in seinem Anfang 2004 erschienenen Buch »Wie man den Krieg gegen den Terror gewinnt«. Tatsächlich faßt er den Gegner aber noch sehr viel weiter: »Religiöse Extremisten und laizistische Militante, Sunniten und Schiiten, Kommunisten und Faschisten – im Nahen Osten verschmelzen diese Kategorien miteinander. Sie alle strömen aus demselben enormen Reservoir an leicht entflammbarer Leidenschaft.«

Soweit eine solche traditionelle Widersprüche überwindende breite Front tatsächlich entsteht oder entstehen könnte, ist sie jedoch Ergebnis und Folge der von der US-Regierung nach dem 11. September 2001 ausgesprochenen Kriegserklärung und deren praktischer Umsetzung. Wie beispielhaft im Irak drei Jahre nach Kriegsbeginn zu erkennen ist, konstituiert der US-Imperialismus selbst überhaupt erst den Gegner, den er bekämpfen will. Aus einem laizistisch geprägten Land, daß bis dahin dem »militanten Islam« kaum einen einzigen Kämpfer zugeführt haben dürfte, wurde seit dem amerikanisch-britischen Überfall im März 2003 ein Rekrutierungs- und Ausbildungsfeld des bewaffneten Widerstands – mit jetzt schon erkennbaren internationalen Auswirkungen. Die Folgen eines militärischen Angriffs gegen Iran würden noch weitaus schwerwiegender und weitreichender sein. Samuel P. Huntingtons 1996 erschienener »Clash of Civilizations«, im Deutschen ungenau mit »Kampf der Kulturen« übersetzt, wird zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Das ist auch die eigentliche Warnung, die von den heftigen Protesten in der moslemischen Welt gegen die in einer dänischen Zeitung erschienenen Karikaturen ausgeht.

* Aus: junge Welt, 8. Februar 2006


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