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"Mit der kritiklosen Parteinahme für die westliche Strategie machen Sie sich mitschuldig"

Mohssen Massarrat schreibt an die Grünen-Abgeordneten Müller und Nouripour und warnt vor einer schärferen Sanktionen gegen Iran

In einem Offenen Brief an zwei politisch Verantwortliche der Partei Bündnis 90/Die Grünen warnt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Mohssen Massarrat vor einer der drohenden Eskalation im Iran-Atomkonflikt. Kerstin Müller, MdB, Sprecherin der Grünen für Außenpolitik, und Omid Nouripour, MdB, sicherheitspolitischer Sprecher der Grünen hatten sich sich in letzter Zeit für Sanktionen gegen Iran ausgesprochen und sich damit die "gefahrvolle Strategie von USA und EU zu eigen gemacht", wie Massarrat in einem begleitenden e-mail schreibt.
Wir dokumentieren im Folgenden den Offenen Brief Massarrats sowie eine Pressemeldung von Kerstin Müller, worin sie sich für schärfere Sanktionen aussprach [im Kasten].


Offener Brief

anlässlich des Iran-Atomkonflikts
06. März 2010

An
Kerstin Müller, MdB, Sprecherin der Grünen für Außenpolitik und
Omid Nouripour, MdB, sicherheitspolitischer Sprecher der Grünen

Sehr geehrte Frau Müller,
sehr geehrter Herr Nouripour,

Sie beide haben in diversen Stellungnahmen bzw. Zeitungsinterviews einen Krieg gegen den Iran anlässlich der Verschärfung des Atomkonflikts abgelehnt, gleichwohl sich aber für gezielte Sanktionen ausgesprochen, die nur das Regime, nicht aber die Menschen im Iran treffen sollen. Diese Differenzierung ehrt Sie zwar in humanistischer Hinsicht, sie lenkt aber die öffentliche Meinung vom eigentlichen Hintergrund des Konflikts ab. Fakt ist, dass es im Mittleren und Nahen Osten ein regionales Sicherheitsdilemma gibt, seit Israel mit seinem Atomarsenal die nukleare Vorherrschaft in der Region innehat. Eine Reduktion dieses m. E. unbestreitbaren Sicherheitsdilemmas allein auf Irans Atomprogramm ist nicht nur einseitig, sondern auch die Hauptursache dafür, dass der über 7 Jahre andauernde Atomkonflikt mit dem Iran bisher ungelöst geblieben ist. Die Fortsetzung dieser einseitigen Politik läuft aller Wahrscheinlichkeit nach darauf hinaus, dass der Konflikt weiter eskaliert.

Haben Sie sich, sehr geehrte Frau Müller und sehr geehrter Herr Nouripour, darüber Gedanken gemacht, was dann geschehen würde, wenn die geplanten Sanktionen wirkungslos blieben, was doch ziemlich wahrscheinlich ist? Aus Sorge, dass diese Eskalation in einer Bombardierung iranischer Atomanlagen und in einem Flächenbrand in der gesamten Region enden könnte, wende ich mich an Sie in der Hoffnung, dass Sie und Ihre Partei sich sehr ernsthaft mit der bisherigen Politik von USA und EU in dem gegenwärtigen Atomkonflikt mit Iran kritisch auseinandersetzen.

Die entscheidende Frage ist doch, warum USA und EU bisher die unbestreitbare Tatsache des Sicherheitsdilemmas im Mittleren und Nahen Osten systematisch ausgeblendet haben. Haben Sie für diese Haltung eine nachvollziehbare Erklärung? Ich bin auf Ihre Antwort sehr gespannt. Meine Erklärung dieser Politik ist, dass USA und EU Israels atomare Vorherrschaft nicht antasten sondern vielmehr aufrechterhalten wollen. In diesem Falle geht es ihnen eigentlich nicht ernsthaft darum, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Der NPT wird so gesehen lediglich als Vorwand benutzt. Leider hat auch die Islamische Republik Iran bisher genau so wie die westlichen Staaten konsequent das Sicherheitsdilemma ausgeblendet und an keiner Stelle Israels Atombomben zum Verhandlungsgegenstand erklärt. Stattdessen hat sie sich offensichtlich ebenfalls dafür entschieden, die Schaffung eigener nuklearer Kapazitäten hinter dem NPT und eigener nuklearer Energieversorgung zu verstecken.

Diese Sicht der iranischen Seite, ohne dass ich mir diese selbst zueigen mache, ist m. E. vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Islamischen Republik mit der westlichen Parteinahme gegen sie durchaus erklärbar. Während des iranischirakischen Krieges in den 1980er Jahren haben beispielsweise USA und EU Saddam Husseins eindeutige Aggression nicht nur nicht verurteilt, nein, sie haben ihn unterstützt und sogar den Einsatz von chemischen Waffen geduldet. Daraus zieht die Islamische Republik nun eigene Konsequenzen und folgt dabei voll und ganz der westlichen Logik der Machtvermehrung. Sie glaubt nunmehr - genauso konsequent wie die westliche Seite und Israel ihr Projekt der Vorherrschaft im Mittleren und Nahen Osten aufrechterhalten wollen - ihr eigenes Atomprogramm durchziehen zu müssen, um irgendwann das eigene Sicherheitsdilemma durch das „Gleichgewicht des Schreckens“ in der Region zu beseitigen. Aus diesem Blickwinkel treiben USA und EU mit ihrer Ignoranz des Sicherheitsdilemmas die Islamische Republik geradezu zu dieser gefährlichen wie zwielichtigen Atompolitik. Die Politik von USA und EU läuft letztlich darauf hinaus, entweder Irans Atombomben durch einen Krieg zu verhindern oder im Falle des Scheiterns dieser Option das atomare Wettrüsten in der Region erst richtig loszutreten. In beiden Fällen sind die Folgen für die Menschen, die Wirtschaft und die Umwelt in der Region verheerend. Nicht zuletzt würde auch die Demokratiebewegung im Iran und in der Region auf Jahre oder Jahrzehnte zum Erliegen gebracht.

Mit der kritiklosen Parteinahme für die westliche Strategie der Ausblendung des sicherheitspolitischen Konfliktkerns machen Sie und die Partei Bündnis 90/Die Grünen sich mitschuldig. Obendrein machen Sie die Solidarität der Grünen mit der iranischen Demokratiebewegung, wie beispielsweise das leidenschaftliche Engagement von Claudia Roth für Irans grüne Bewegung, zunichte. Auch Ihre Forderung, „man solle die Atomfrage von der Menschenrechtsfrage“ abkoppeln, wird so zu einer Leerformel.

Wer wirklich die Weiterverbreitung von Atomwaffen verhindern will – und ich gehe davon aus, dass dies Ihr Anliegen ist -, der darf nicht zu Artikel 6 des NPT schweigen, der die Atommächte zur Abrüstung verpflichtet. Die offensichtliche und rigorose Einseitigkeit, eigene Abrüstungsverpflichtungen zu missachten und Israels Atomarsenal außen vor zu lassen, aber Irans Atomprogramm willkürlich für Tabu zu erklären, würde Irans grüner Bewegung im Atomkonflikt letztlich keine andere Wahl lassen, als sich hinter die Regierung Ahmadinedschad zu stellen.

Der Iran-Atomkonflikt ist der beste Beweis für die Untrennbarkeit der friedlichen von der militärischen Nutzung der Atomtechnik. Nur ein Ausstieg aus dieser Technologie kann dieses Menschheitsproblem lösen. Diese Sicht war ein wesentlicher Grund, der zur Entstehung der Grünen geführt hat. Es wäre an der Zeit, dass sich die Grünen als einer Anti-Atompartei, gerade anlässlich des Iran-Atomkonflikts, auf ihre eigenen Wurzeln besinnen.

Irans atomare Aufrüstung ist die schlechteste aller sicherheitspolitischen Lösungen für Iran und die Region, genauso wie Israels Atomwaffen die ungeeignetsten aller Alternativen sind, die Sicherheit der israelischen Bevölkerung vor realen Bedrohungen dauerhaft herzustellen. Diese kann auch niemals gegen die, sondern nur mit den islamisch-arabischen Nachbarstaaten erreicht werden. Gegenteilige Annahmen entspringen nicht der Vernunft, sondern purer Ideologie oder einem Überlegenheitswahn. Die unbestreitbare deutsche Verantwortung für Israels Sicherheit und Existenz steht in voller Übereinstimmung mit der Perspektive eines friedlichen Miteinanders aller Staaten und Völker im Mittleren und Nahen Osten. Es kann doch nicht sein – und hoffentlich stimmen Sie, sehr geehrte Frau Müller und sehr geehrter Herr Nouripour, mit mir darin überein -, dass Deutschlands Staatsräson nicht nur die Sicherheit Israels, sondern auch noch dessen atomare Vorherrschaft in der Region mit einschließt.

Die Lösung des Sicherheitsproblems aller Staaten und Menschen im Mittleren und Nahen Osten ist und bleibt die gemeinsame Sicherheit einschließlich einer atomwaffenfreien Zone und die Kooperation in der Region. Der aktuelle Iran-Konflikt könnte letztlich auch in dieser Perspektive eine gerechte Lösung finden. Als erste vertrauensbildende Maßnahme dazu müssten USA und EU sehr ernsthaft und konsequent Israel auffordern, dem NPT beizutreten, um auf dieser neuen Grundlage mit dem Iran zu verhandeln.

Neue Sanktionen gegen Iran brauchen die Geschlossenheit der internationalen Gemeinschaft – Militärische Option liegt nicht auf dem Tisch

Zum Atomkonflikt mit dem Iran erklärt Kerstin Müller, Sprecherin für Außenpolitik:

Der Auftritt des iranischen Außenministers Mottaki auf der Münchener Sicherheitskonferenz war ein großes Täuschungsmanöver, mit dem Iran die internationale Gemeinschaft ein weiteres Mal vorgeführt hat. Auch die am Sonntag erfolgte Anordnung des Präsidenten Ahmadinedschad zur Urananreicherung auf 20 Prozent, ist ein weiterer Schritt der Eskalation im sich zuspitzenden Konflikt um das Nuklearprogramm, anstatt auf das Angebot der internationalen Gemeinschaft zur Urananreicherung einzugehen. Der Iran hat sich mit seinem aggressiven Vorgehen selbst geschadet.

Jetzt müssen Sanktionen im UN-Sicherheitsrat angestrebt werden. Es kommt dabei aber darauf an gezielte Sanktionen zu vereinbaren, die das Regime treffen und nicht die Menschen im Iran. Die Menschen, die mit ihrem mutigen Eintreten für die Demokratie eine große Hoffnung für die weitere Entwicklung des Landes sind.

Allerdings ist klar: weitere Sanktionen haben nur Sinn, wenn alle an Bord sind – auch Russland und China. Deshalb muss die Bundesregierung jetzt gemeinsam mit den USA u. a. alles unternehmen, beide Staaten an Bord zu holen - statt wie Guttenberg und Westerwelle wertvolle Zeit mit starken Worten zu vertun.

Eine Koalition der Willigen aus Frankreich, Deutschland und den USA schwächt nur die internationale Gemeinschaft, die bisher im Atomstreit ihre Stärke aus dem gemeinsamen Vorgehen bezogen hat. Darauf darf die Bundesregierung sich nicht einlassen. Zudem würde etwa China mit Iran diese Sanktionen leicht unterlaufen können und damit letztlich wirkungslos machen.

Klar ist auch: die militärische Option liegt auf keinen Fall auf dem Tisch. Ein zweiter Krieg in der Region nach Irak hätte eine verheerende destabilisierende Wirkung. Im Gegenteil: Ein solches Säbelrasseln nutzt nur dem Regime und schwächt die Demokratiebewegung.

8. Februar 2010




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