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Fatimes Haare sehnen sich nach frischer Luft

Zwar ist die iranische Hauptstadt durchaus farbiger geworden, doch die Wirklichkeit im Land der Ajatollahs bleibt widersprüchlich

Von Karin Leukefeld, Teheran*

»Harram! Harram!« Hilflos schwingt der kleine, alte Mann seine Plastiktüte durch die Luft und schimpft einem Taxi hinterher, das gerade vor ihm durch eine freie Lücke im morgendlichen Berufsverkehr gesaust ist. Nur durch einen Sprung zurück hatte sich der Mann in Sicherheit bringen können. Für Fußgänger ist es in Teheran bisweilen lebensgefährlich, eine Straße zu überqueren. Die Autofahrer scheinen nicht gelernt zu haben, wie und zu welcher Gelegenheit man eine Bremse betätigt. »Harram!« (Schande) Der Taxifahrer grinst und dreht gelassen am Lenkrad, um einem Mopedfahrer auszuweichen, der nur wenige Zentimeter vor der Motorhaube des Wagens von einer Spur zur anderen wechselt. Weitgehend unbeachtet bleibt ein modernes Ampelsystem, das an großen Kreuzungen hoch über der Straße hängt. 90 Sekunden haben die Autos Zeit, eine Kreuzung zu überqueren, dann ist die andere Seite dran. Wer sich daran hält, wird jedoch als Verkehrshindernis mit lautem Hupen bedacht.

Benzin ist billig, Hunderttausende fahren trotz permanenter Staugefahr lieber Auto als Omnibus. Buslinien bedienen vor allem Ministerien, Universitäten und Schulen, und eine vor wenigen Jahren fertiggestellte Metro bringt Zehntausende Arbeitskräfte aus dem Süden und Norden ins Zentrum Teherans.

Kein Rezept gegen das Verkehrschaos

Weil das Verkehrsaufkommen die räumlichen Kapazitäten übersteigt, sind einige Viertel der Innenstadt nur eingeschränkt zu befahren. An einem Tag dürfen nur Fahrzeuge mit gerader Kennzeichen-Endziffer fahren, am nächsten die Fahrzeuge mit ungerader Endziffer. Registrierte Taxifahrer unterliegen freilich keinen Beschränkungen. Wer beruflich zu tun hat oder Anwohner ist, muss sich jedoch ausweisen.

Das alles aber reicht nicht aus, des täglichen Verkehrschaos’ Herr zu werden. Die Luftverschmutzung in Teheran ist enorm, immer häufiger begegnet man Passanten mit Atemschutzmasken. Wenn die Menschen am Abend die Stadt wieder verlassen, verwandeln sich Schnellstraßen und Autobahnen in endlose Blechströme.

Eine genaue Einwohnerzahl von Teheran findet man nicht, inoffiziell liegt sie zwischen 12 und 17 Millionen. Das Statistische Zentrum Irans gab 2005 bekannt, dass von den insgesamt 67,5 Millionen Iranern zwei Drittel – rund 45 Millionen – in Städten leben.

Kerim Abassi wurde in Saveh, nordwestlich von Qom, geboren. Die Stadt ist bekannt für ihre köstlichen Granatäpfel, die auf der ganzen Welt ihresgleichen suchen, schwärmt er. Auf der Suche nach Arbeit kam Kerim als junger Mann nach Teheran, doch der Iran-Irak-Krieg (1980-88) machte ihm einen Strich durch die Rechnung: Er wurde zur Luftwaffe eingezogen und war für die Wartung der iranischen Kampfjets zuständig. Selber geflogen ist er nie, bedauert er. Heute bessert der pensionierte Luftwaffenleutnant seine bescheidene Rente als Fahrer auf. Mit politischen Einschätzungen hält er sich zurück, aus seiner religiösen Überzeugung hingegen und seiner Bewunderung für Imam Khomeini macht er keinen Hehl. »Khomeini hat uns vom Schah befreit«, sagt er stolz. »Wir jungen Leute waren damals alle für ihn.« Doch leider hätten schon bald »die Leute um ihn herum«, Berater und Sicherheitskräfte, die Oberhand gewonnen, viele seiner Pläne seien falsch ausgeführt worden.

Ein solcher Fehler sei zum Beispiel der Kopftuchzwang gewesen, erinnert sich Fatime, eine Cousine von Abassi. Fatime unterrichtet Computerwissenschaften an der Universität. Während die Studentinnen das Kopftuchgebot immer freizügiger auslegten, sei sie als staatlich angestellte Lehrkraft gezwungen, weiterhin ein schwarzes, eng anliegendes Tuch zu tragen. »Ich bin es leid«, jammert sie, »und meine Haare auch! Das Kopftuch drückt sie platt, sie sehnen sich nach frischer Luft!«

Für viele junge Frauen kommt die schwarze Haube nicht mehr in Frage. Stattdessen bedecken hauchdünne Schals nachlässig ihre Haare. Unter dem figurbetonten kurzen Mantel, dem »Manto«, tragen sie Jeans oder Dreiviertelhosen, aus denen unbedeckte Knöchel hervorlugen. Teheran ist bunt geworden. Wo früher die Frauen fast ausnahmslos wie schwarz-graue Schatten über Straßen und öffentliche Plätze huschten, gibt es heute eine Fülle bunter Farbkleckse. Wie ein Regenbogen, der bei abziehendem Gewitter den Himmel erleuchtet.

»Nationale Kleidung« gegen westliche Mode

Doch die iranische Realität bleibt widersprüchlich. Mitte Mai beschloss der Majlis, das Parlament, eine Gesetzesvorlage über die Kleidervorschrift. Danach soll ein iranisch-islamischer Kleidungskodex in Zukunft die nationale Identität der Perser widerspiegeln. »Nationale Kleidung« solle die zunehmend westlich geprägte Mode ersetzen, hieß es in den staatlich kontrollierten Medien, um »Irans nationale und islamisch-kulturelle Eigenheiten« hervorzuheben. Die mehrheitlich vom asiatischen Markt stammenden Textilien, die man heute in den Geschäften kaufen kann, sollten durch eine zusätzliche Einfuhrsteuer verteuert werden, während irakische Modegestalter, Textilfabriken und Händler durch günstige Kredite unterstützt werden sollten. Iranisch-islamische Kleiderordnung als ökonomische Maßnahme?

Im Ausland wurde der umstrittene Gesetzesentwurf für anti-iranische Propaganda genutzt. Ein in Kanada lebender Exiliraner verbreitete in der »National Post« die Falschmeldung, dass im Zuge der neuen Kleiderordnung in Iran die religiösen Minderheiten, ähnlich wie in Hitler-Deutschland, durch farbige Bänder gekennzeichnet werden sollten: Juden durch ein gelbes, Christen durch ein rotes, Zoroastrier durch ein blaues Band. Das Simon-Wiesenthal-Institut bestätigte die Ungeheuerlichkeit und protestierte umgehend. Der jüdische Parlamentsabgeordnete in Teheran, Maurice Motammed, wies die Lüge jedoch empört zurück: »Die das aufgebracht haben, verfolgen politische Ziele.« Die Lüge sei eine »Beleidigung für das iranische Volk und die religiösen Minderheiten in Iran.«

In Iran protestierten vor allem Frauen gegen das Gesetzesvorhaben. Es sei allein deren Entscheidung, wie sie sich kleiden möchten, sagte Monir Amadi vom Teheraner Institut für Frauenforschung und Entwicklung im ND-Gespräch. »Das geht die Regierung gar nichts an.« Als sich auch Großajatollah Saanei aus Qom zu Wort meldete und meinte, die Iraner sollten mehr Freude am Leben haben, wozu auch farbige Kleidung gehöre, geriet die Regierung in Erklärungsnot. Die Frauen bräuchten sich keine Sorgen zu machen, beruhigte Präsident Mahmud Achmadinedschad persönlich.

Bettler und Obdachlose wurden eingesammelt

Junge Männer bringen mit eigenwilligen Frisuren ihren Wunsch nach mehr persönlicher Gestaltungsmöglichkeit zum Ausdruck. Manche haben ihre Haarpracht geradewegs gen Himmel gebürstet, wo sie dank Haarfestiger auch verweilt, andere leihen sich die Lockenwickler der Mutter und verzieren ihren Pony mit glänzenden Stirnlocken. 15 Minuten dauert der Spaß am Morgen, erklärt Reza etwas verlegen. Die Eltern hätten keine Einwände.

Kerim Abassi hat Verständnis für junge Leute, seine Töchter belehren ihn, sagt er knapp. Statt sich in politische Debatten einzulassen, übernimmt er lieber die Rolle des Stadtführers. Zu jedem Wandbild weiß er eine Geschichte zu erzählen, erklärt gewissenhaft, wer sich hinter einem Straßennamen verbirgt. »Yadegar-e Imam« – Erinnere dich an den Imam – heißt ein Neubauviertel im Nordwesten der Stadt. »Dieses Viertel erinnert an den Sohn von Imam Khomeini«, erklärt Abassi. Hodschat-ul-Islam Achmad Khomeini habe viel Gutes für die Kinder getan, sein Konterfei prangt – wie die Porträts vieler Berühmtheiten der jüngeren iranischen Geschichte – auf Haus- und Plakatwänden. »Yadegar-e Imam« ist bekannt für sein großes Krankenhaus, das umgeben von Grünanlagen in einem Gewirr von Schnellstraßen liegt. An einem Hang zeigt eine überdimensionale Blumenuhr die Zeit an. Gärtner klettern darin herum und prüfen, ob die Pflanzen auch gut bewässert sind.

Teheran ist – abgesehen von der schlechten Luft und einer Unmenge von Baustellen – eine erstaunlich saubere Stadt. In den frühen Morgenstunden und am späten Nachmittag sieht man Knirpse mit Leinensäcken, so groß wie sie selber, in denen sie Pappe und Papier einsammeln. An einer Abgabestelle erhalten sie einige Rial pro Sack. Bettler sieht man in Teheran nicht mehr. Anfang Mai hat die Stadtverwaltung alle Obdachlosen und Bettler eingesammelt und in Lagern außerhalb der Stadt untergebracht. Dort werden sie mit Essen und Kleidung versorgt, heißt es. Sie haben ein Dach über dem Kopf und eine Schlafstätte. Kinder und Minderjährige werden in eine Schule geschickt, mehr Freiheit gibt es nicht. Verlassen dürfen sie das Lager nur, wenn Verwandte sie abholen und glaubhaft für ihr Auskommen bürgen.

Foltergefängnis neben dem »Hotel Freiheit«

Im Norden zieht die Stadt sich immer weiter an den Berghängen empor. Während im Nordosten seit Generationen die besser Verdienenden wohnen, Minister und Professoren, Ärzte und Geschäftsleute, sind im Nordwesten Viertel für eine wohlhabende Mittelschicht entstanden. Stadtplanerische Weitsicht ist nicht zu erkennen. Futuristische Hochhäuser mit verspielten Fassaden und reflektierenden Glaswänden ragen bizarr vor den weißen Gipfeln des Darband empor. Eine noch zu Schah-Zeiten erbaute terrassenförmige Wohnanlage nahe der Vanak-Schnellstraße wirkt dagegen winzig. Hinter den Neubauten ragt auffällig ein kahler Hügel empor, um den sich eine dicke Steinmauer zieht. Abassi zeigt hinüber und sagt: »Dort ist das Evin-Gefängnis, es liegt völlig unter der Erde.«

Das Gefängnis ist bekannt für Folter und unmenschliche Gefangenenbehandlung schon zu Zeiten von Schah Reza Pahlevi. Shirin Ebadi, Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2003, war hier ebenso inhaftiert wie ungezählte Schriftsteller, Journalisten, Studierende, Professoren und Politiker. Als die kanadisch-iranische Fotografin Zahra Kazemi am 23. Juni 2003 dort eine Fotoreportage machte, wurde sie festgenommen und während des Verhörs durch Schläge so schwer verletzt, dass sie drei Wochen später starb.

Abassi kennt die Geschichte und wirkt verlegen. Diese hässliche Seite seiner Heimat ist ihm unangenehm. Schweigend zeigt er auf ein neben dem Gefängnishügel aufragendes Hotel. Wie eine Verspottung wirkt der Name, der weithin sichtbar zu lesen ist: »Azad-Hotel«, verkünden die großen Buchstaben über der obersten Etage, »Hotel Freiheit«.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Juni 2006


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