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Alarmmeldungen

Spekulationen über das iranische Atomprogramm verfälschen die Tatsachen

Von Knut Mellenthin *

Am Freitag ist der vierte Quartalsbericht der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) über das iranische Atomprogramm bekanntgeworden. Viele Mainstream-Medien reagierten, wie schon in der Vergangenheit, mit reißerischen Überschriften und einer verfälschenden Wiedergabe des Inhalts. So titelte beispielsweise die Nachrichtenagentur AP: »UN-Atombehörde: Iran ist im Begriff, die Produktion von Material zu verdoppeln, das rasch für Nuklearwaffen verwendet werden kann.« Im Text hieß es, daß sich dadurch die Zeit, die der Iran für die Herstellung von waffenfähigem Uran benötigt, auf nicht viel mehr als drei Monate verkürzen würde.

Das steht allerdings nicht in dem 13 Seiten umfassenden Report, den vermutlich kaum ein Journalist wirklich gelesen hat, sondern ist politisch motivierte Spekulation. Diese gehört jedoch nicht zu den Aufgaben der in Wien ansässigen IAEA. Der Generalsekretär der Behörde läßt die Berichte regelmäßig vier Mal im Jahr erstellen, jeweils etwa zwei Wochen vor der nächsten Sitzung des sogenannten Board of Governors, in dem jährlich wechselnd 35 Mitgliedstaaten der IAEA vertreten sind. Nach den Statuten der Behörde sind die Berichte vertraulich, solange das Board nicht ihre Freigabe beschließt. In der Praxis sickern die Iran-Reports aber schon seit Jahren sofort durch, sobald sie fertiggestellt sind. Von diesem Moment an sind sie auch im Internet zugänglich. Zuerst meist auf der Website des US-amerikanischen Institute for Science and International Security (ISIS). Die nächste mehrtägige Sitzung des Board, auf deren Tagesordnung der jetzt bekanntgewordene Bericht steht, beginnt am 29. November. Ihr Verlauf könnte Signale setzen, wie der Streit um das iranische Atomprogramm weitergehen soll.

Iran betreibt die Anreicherung von Uran auf zwei Stufen: Auf 3,5 Prozent und auf 19,75 Prozent. Ersteres dient als Brennstoff für normale Atomkraftwerke. Das höher angereicherte Material wird für einen bereits 1967 mit Hilfe der USA gebauten Reaktor in Teheran benötigt, mit dem Isotope zur Behandlung von Krebspatienten hergestellt werden. Für Nuklearwaffen müßte das Uran auf über 90 Prozent angereichert werden. Iran hat unzählige Male versichert, daß es daran aus ethischen, religiösen, politischen und militärischen Gründen absolut nicht interessiert ist. Sogar zu der Anreicherung auf 19,75 Prozent sah Iran sich erst gezwungen, nachdem es die für den Betrieb der Teheraner Anlage benötigten Brennplatten aufgrund des westlichen Widerstands nicht auf dem internationalen Markt kaufen durfte. Da das gesamte iranische Atomprogramm unter ständiger intensiver Beobachtung der IAEA steht, würde jeder Versuch, waffenfähiges Uran zu produzieren, sofort bemerkt werden.

Den aktuellen Alarmmeldungen liegt die Feststellung der IAEA zugrunde, daß Iran die Zahl der Gaszentrifugen in seiner unterirdischen Anreicherungsanlage bei Fordow in den letzten drei Monaten von 2140 auf 2784 erhöht und damit nahezu die dort geplante Kapazität von rund 3000 Zentrifugen erreicht hat. Von insgesamt 16 Zentrifugenreihen, sogenannten Kaskaden, sind allerdings nach wie vor nur vier wirklich in Betrieb. Vier weitere befinden sich lediglich im Testlauf, und die übrigen acht sind nicht angeschlossen und noch nicht einmal voll ausgerüstet. Das Bild, das sich aus den IAEA-Berichten schon seit längerer Zeit ergibt, ist, daß Iran die Anreicherung bewußt nicht mit voller Kraft betreibt, um eine politische Lösung des Streits zu erleichtern. Dafür spricht auch, daß immer noch ausschließlich Zentrifugen des mehrere Jahrzehnte alten, hochgradig störanfälligen und wenig effektiven Typs IR-1 verwendet werden, obwohl in einer ebenfalls von der IAEA überwachten Testanlage bereits vier neuere Modelle laufen, mit denen die Anreicherung mindestens verdreifacht werden könnte.

* Aus: junge Welt, Montag, 19. November 2012


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