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"Wir haben aus dem Vietnam-Desaster nichts gelernt"

ND-Gespräch mit dem US-amerikanischen Pulitzer-Preisträger Seymour M. Hersh

Vom Massaker im vietnamesischen Son My (My Lai) bis zum Folterskandal im Abu-Ghoreib-Gefängnis in Bagdad – die Reportagen von Seymour M. Hersh sind der Inbegriff des investigativen Journalismus und wurden in über 40 Jahren publizistischer Tätigkeit mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht. In Berlin wurde der US-amerikanische Pulitzer-Preisträger jetzt von den Herausgebern der "Blätter für deutsche und internationale Politik" mit dem Demokratiepreis 2007 geehrt. Mit dem 70-Jährigen sprach für ND Dago Langhans.



ND: Kommen Sie nach Ihrer über 40-jährigen Publikationstätigkeit nicht gelegentlich zu dem Schluss, dass es heute noch schlimmer aussieht als damals, als Sie die Son-My-Reportage verfasst haben?

Hersh: Aber sicher. Es ist schon schwer zu begreifen, dass wir aus dem Desaster in Vietnam nichts gelernt haben und wieder in einem neuen Krieg stecken. Ein wichtiger Unterschied zur Vietnam-Zeit besteht darin, dass es keine einflussreiche Opposition gegen den Krieg gibt. Der Protest ist ruhig. Die Menschen haben zwar bei den letzten Wahlen überwiegend Demokraten gewählt, um den Krieg zu stoppen, nur legt sich diese Partei nicht eindeutig fest. Ein wichtiges Problem ist offensichtlich, dass Politiker niemals verraten, was sie wirklich denken, sondern sie sagen nur, was die Leute angeblich hören wollen.

Im vergangenen Jahr haben Sie in einem Artikel für den »New Yorker« die Planung diverser Kommandounternehmen dargestellt, mit denen die Situation in Iran destabilisiert werden soll. Wie wahrscheinlich ist heute ein Angriff auf Iran?

Eine einflussreiche, bedeutende Interessengruppe um Präsident Bush und seinen Vize Cheney brennt darauf, Iran anzugreifen. Die konkreten Planungen dazu werden weitergeführt. Das können Sie in der nächsten Ausgabe des »New Yorker« nachlesen. Letztlich spielt es keine Rolle, was Journalisten wie ich gerne hätten oder veröffentlichen. Auch wenn die politischen Konsequenzen solch eines Angriffs unvorstellbar sind. Die Konzepte der entscheidenden Kriegsplaner basieren auf Luftangriffen gegen Iran und dem simultanen Einsatz von geringen Bodenstreitkräften zum Ausschalten der iranischen Luftabwehr. Der letztgenannte Aspekt könnte jedoch militärisch recht problematisch werden. Aus politischer und militärischer Sicht und angesichts der internationalen Verantwortung sind alle bisher geäußerten Bedenken gegen einen Angriff berechtigt. Nur ist es so, dass diese Typen machen, was sie wollen.

Stimmt die These, dass das sogenannte Empire mittlerweile in seiner Machtausweitung überdehnt ist? Als Beispiel könnten ja Afghanistan und Irak gelten.

Gar keine Frage. Es wird zwar kaum problematisiert, militärisch steht die Kriegführung in Afghanistan aber am Rande zum Kollaps. Von einem Sieg der Koalitionsstreitkräfte oder der afghanischen Regierung kann überhaupt nicht mehr die Rede sein. Der Zerfall des brüchigen Bündnisses in der afghanischen Regierung ist nur eine Frage der Zeit. Ähnlich sieht es in Irak aus. Was dort geschieht, muss tatsächlich als ethnische Säuberung bezeichnet werden. Der fortgesetzte US-Militäreinsatz dort gleicht einer Beimischung von Brennstoff mit 200 Oktan in einen bereits entflammten Konflikt.

Eigentlich gibt es nur die Lösung eines vollständigen Rückzuges der US-Truppen. Entlang der vorherrschenden Stammesstrukturen in ihrem Land hätten die Iraker anschließend die Chance, sich einander anzunähern und zu gegenseitigen Vereinbarungen zu kommen. Auch wenn es danach noch gewaltsame Auseinandersetzungen geben sollte, der bisherige Blutzoll ist jedenfalls hoch genug und rechtfertigt den Abzug unserer Streitkräfte. Wir haben in dem Land eine letztlich irrsinnige Situation und eine furchtbare Misere verursacht.

Wie kann der sogenannte investigative Journalismus in einer Zeit der Medienkonzentration überleben? Gibt es denn überhaupt noch Chancen, den Schmutz wirklich aufzuwirbeln?

Es gibt da eine globale Tendenz. Zahlreiche Medien und Zeitungen in den USA sind von großen Unternehmen und Kapitalspekulanten aufgekauft worden, die hauptsächlich im Sinn haben, große Profite zu machen. Die Art von Journalismus, die ich betreibe, ist sehr kostspielig. Ich recherchiere mitunter Monate, ohne dass eine direkt verwertbare Geschichte dabei herauskommt. Das sind für ge-winnorientierte Herausgeber insgesamt nur Risikofaktoren. Darüber hinaus will kaum jemand mehr die schlechten Nachrichten veröffentlichen. Die Mehrheit verlangt gute Nachrichten. Inhaltlich geht die Entwicklung hin zum vereinfachenden Boulevard-Journalismus. In den Zeiten des Krieges will man mit schlechten Nachrichten nichts anfangen.

* Aus: Neues Deutschland, 29. September 2007


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