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Führt der Westen Krieg gegen Iran?

12 Thesen und acht Prämissen von Johannes M. Becker*

Ich argumentiere in 12 Thesen

1. Die Regierung des Iran hat bislang kein Gesetz, kein internationales Abkommen verletzt. Das Land hat den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet, und dieser gestattet ausdrücklich die sog. „friedliche“ Nutzung der Nuklearkraft. Viele andere Länder, u.a. die BR Deutschland, machen hiervon Gebrauch. Indien, Pakistan und Israel haben den Vertrag nicht unterzeichnet.

2. Dessen ungeachtet sehe ich bei einem Land, das über reiche Vorräte an Erd-Öl und –Gas verfügt, eine politische Komponente bei seinem Beharren an dem Auf- bzw. Ausbau seiner Nuklear-Anreicherungsanlagen: Es ist die nüchterne Einsicht, dass die USA und ihre jeweiligen Alliierten weder 1999 Jugoslawien, noch 2003 den Irak angegriffen hätten, hätten diese über Nuklearwaffen und die entsprechenden Trägersysteme verfügt. Nordkorea ist ein weiteres Beispiel für diesen (unguten) Beweis – auch hier wird Atomwaffen-Besitz vermutet.

3. Es besteht weder Grund zu Hektik, noch zu Panik: Der Iran ist noch lange Jahre entfernt von den technischen Möglichkeiten, eine A-Bombe zu bauen. Dennoch ist natürlich die Entwicklung hin zu einem Atomwaffenbesitzer des Iran nicht vernünftig. Sie destabilisiert den Nahen und Mittleren Osten u.U. weiter.

4. Eine massenpsychologische Frage stellt sich beim Umgang mit einem 66 Millionen-Volk, zudem einer Orientierungsnation der islamischen Bewegung: Mit welchem Recht will die nüchterne Weltöffentlichkeit dem Iran verwehren, was sie Indien, Pakistan, und nicht zuletzt Israel gestattet?

5. Wo liegen Interessen, Triebkräfte für das derzeit Sichtbare?

5.1 auf der Seite der USA und ihrer Verbündeten:
  • Die US-Strategie will eine Eskalierung erreichen
    a) über das Zitieren vor den Sicherheitsrat, dann
    b) die Erhöhung der Spannung durch eine weitere Konflikt-Eskalierung;
    c) am Ende sollen dann („chirurgische“) Luftschläge stehen.
  • Bei einem möglichen Angriff sollen sämtliche Nuklearanlagen Irans, an zehn bis fünfzehn Standorten also, zerstört werden.
  • Hiermit soll der Iran als regionale Mittelmacht zerstört werden, es liegt also nahe, dass mögliche Bombardierungen auch konventionelle Militäreinrichtungen betreffen werden, mindestens als "Kollateralschäden"…
    In den US-Plänen vom „Großraum Mittlerer Osten“ mit gesicherten Energieflüssen ("Wie kommt unser Öl unter deren Sand?") ist derzeit nach Afghanistan und Irak der Iran als störender Faktor übrig…
  • Durch ein Bombardement, einen Krieg, soll im Iran ein Chaos ausgelöst werden, das zu einer Revolte unzufriedener IranerInnen und ethnischer Minderheiten führen soll, um einen Regimewechsel herbeizuführen. Eine vorübergehende Schwächung der iranischen Ökonomie durch Bombardements von Öl- und Gasanlagen ist also nicht ausgeschlossen.
5.2 Auf iranischer Seite:
  • Der iranische Präsident Ahmadineschad hingegen mobilisiert die islamische Welt für den "Tag X", für einen möglichen Angriff gegen den Iran.
  • Hierbei gehen die westlichen Medien mit Veröffentlichungen, Willenserklärungen etc. der iranischen Regierung straflässig um, um es vorsichtig zu formulieren. Der iranische Präsident hat bspw. nicht die Beseitigung Israels gefordert, sehr wohl die Beseitigung der "Regime in Israel und in den USA", wie unlängst die New York Times mit Hilfe der Originale mehrerer seiner Reden feststellte. Und das ist etwas völlig Legitimes.
6. Eine offene Brüskierung ist die jüngste Entwicklung in den US-Beziehungen zu Indien; Die US-Administration Bush legitimierte vorletzte Woche die atomare Aufrüstung Indiens und heizte nicht nur das politische Feuer gegenüber Iran, sondern auch gegenüber der VR China an.

7. Die USA sind zu dieser Politik der Luftschläge in der Lage, die Kapazitäten sind um Iran herum aufgestellt.
Ein derartiger Krieg hätte in seiner Qualität nichts zu tun mit der fatalen aktuellen Lage im Irak (er würde eher von diesem Desaster ablenken), er hätte auch nicht zu tun mit einem möglichen Guerilla-Krieg gegen bspw. Venezuela – der ist nämlich nicht führbar derzeit!

8. Die Konsequenzen eines Luftkrieges wären fatal:
  • Der Persische Golf würde extrem unsicher,
  • die Schiiten im Irak könnten sich animiert sehen zu einem ORGANISIERTEN Aufstand gegen die Besatzungstruppen (was eine andere Qualität wäre als das derzeit Gesehene…),
  • die Schwelle zum Krieg würde wieder einmal herabgesetzt,
  • die UNO ein weiteres Mal delegitimiert.
9. Welche Politik sollte die EU hier führen? Es gibt keine Alternative zur Politik der Verhandlungen. Russlands Angebote zur Übernahme der Urananreicherung sind ernst zu nehmen.
Ich halte den Verbalradikalismus Chiracs nicht für bedrohlich – Chirac befindet sich im (Vor)Wahlkampf, anders als Äußerungen von GBs Blair.

10. Mittel- und langfristig gibt es jedoch nur eine Perspektive: Die Lösung kann nur darin liegen, dass die iranischen Nachbarstaaten ihre Atomwaffen nach und nach abrüsten und dass im Gegenzug entweder die EU oder die USA eindeutige Sicherheitsgarantien für die abrüstenden Staaten abgeben. Diese werden freilich nur dann glaubwürdig, wenn der abgebrochene Prozess der atomaren Abrüstung auch der Großmächte, der USA und Russlands also, wieder aufgenommen wird. Mit Drohgebärden jedenfalls ist der Sache nicht gedient.

11. Die Bundesrepublik mit Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier spielen eine ungute Rolle. Weder die Vergleiche von Präsident Ahmadineschad mit Hitler, noch die Rede vom Überschreiten einer "roten Linie" entsprechen dem Gebot der Stunde. Merkel bereitet hier psychologisch den Angriffskrieg vor und liefert Ahmadineschad weitere Vorwände für seine verbalradikalen Attacken gegen Israel und für seine Holocaust-Leugnung. Merkel bedient sich - in Schröders Tradition - imperialen (Czempiel) Gehabes.

12. In welcher Welt wollen wir eigentlich leben? Und: Wie kommen wir diesen Vorstellungen näher? Wieso lassen wir zu, dass nach wie vor 30 Milliarden € für Militär ausgegeben werden in einem Land, das "von Freunden umzingelt" ist (H. Kohl)? Wieso lassen wir zu, dass dieses Land sich sehr wohl für diese Ausgaben weiter verschuldet, dies aber nicht tut bspw. bei der Vorsorge um die Zukunft unserer Jugend? …


Folgende Prämissen liegen meinen Ausführungen zu Grunde:
  1. Mit Militär können keine politischen oder sozialen Probleme gelöst werden; Militär schafft in aller Regel nur neue. Wo der Einsatz von Militär notwendig war, schaue man in die Vorgeschichte des Konflikts: Wäre er vermeidbar gewesen?
  2. Es ist eine Illusion, gerade mit waffenstarrendem Militär Frieden "stiften" zu wollen oder Frieden zu "erhalten". Der gegenteilige Effekt wird erreicht. Militärische Ausbildung hat andere Ziele.
  3. Deutschland, die EU wie auch alle hoch industrialisierten Staaten sind militärisch nicht zu verteidigen, nicht gegen "Terror" (sh. "9/11"), nicht gegen militärische Angriffe (diese Staaten sind wegen ihrer AKW, wegen der gesamten Computer- und Transistoren-Infrastruktur u.v.m hoch verwundbar). In den USA ist SDI gescheitert und scheitert derzeit NMD. Vor ihrem Scheitern ruinieren sie indes noch die eigenen Volkswirtschaften und die anderer Länder.
  4. Die hoch industrialisierten Staaten sind nur gewaltfrei und sozial (im weitesten Sinne des Wortes: Die EU-Länder müssen auch innerhalb ihrer eigenen Grenzen sozialen Ausgleich schaffen – derzeit läuft der Trend in die entgegen gesetzte Richtung) zu verteidigen.
  5. Auch Angriffskriege scheinen heute nicht mehr gewinnbar - die letzten drei sind kläglich gescheitert: Jugoslawien 1999, Afghanistan 2001, Irak 2003ff. Zudem haben die genannten Kriege zu enormen volkswirtschaftlichen, physischen wie psychischen Schäden geführt.
  6. Das Gewaltmonopol muss auf die UNO konzentriert, d.h. nationalen oder Bündnis-Interessen entzogen werden. Freilich muss die UNO demokratisiert werden: Anstatt jedoch der Bundesrepublik Deutschland und Japan einen Ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu übertragen, sind unbedingt die Länder Afrikas, Lateinamerikas, Asiens, ja auch Vertreter der islamischen Staaten zu repräsentieren.[1]
  7. Zum Argument der angeblich erhaltenswerten Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie: ein Arbeitsplatz in der Rüstungsindustrie kostet den Steuerzahler ca. 130.000 € im Jahr, von denen etwa ein Drittel als Bruttolohnsumme in den Konsum geht; ein Arbeitsplatz einer Lehrerin hingegen kostet 57.000 €, von denen ca. 90 % in den Konsum gehen.
  8. Aus dem hier Genannten ergeben sich für die ökonomisch und politische ungemein einflussreiche EU besondere Chancen, auch besondere Verantwortungen.
Fußnote:

[1] Eigenartig in diesem Zusammenhang: Die OSZE scheint nach ihrer wichtigen Rolle (damals als KSZE) im Kalten Krieg an Bedeutung verloren zu haben. Sie passt offenbar nicht in das interventionsbereite Denken der neuen westeuropäischen sicherheitspolitischen Identität hinein. Dabei wäre ihr Vorteil: Alle europäischen Staaten gehören ihr an, auch Russland. Auch die USA. Die OSZE hat allerdings keine militärische Komponente.


* PD Dr. Johannes M. Becker, Koordinator des Zentrums für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Der hier veröffentlichteb Text lag einem Vortrag zu Grunde, den der Autor bei der Friedensinitiative Gießen am 15. März 2006 hielt.


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