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Wo der Terror regiert

Jahresrückblick 2013. Heute: Irak. Nach der Invasion 2003 erlebt das Land die schlimmste Gewalt seit 2008

Von Joachim Guilliard *

»Noch ein Anschlag in Bagdad« so lautete die lapidare Überschrift der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) über einer kurzen Meldung des Bombenanschlags auf einen Markt nahe einer Kirche im Süden der irakischen Hauptstadt, bei dem am ersten Weihnachtsfeiertag 35 Menschen getötet und mehr als 50 verletzt wurden. In der Tat war er nur einer von vielen, die den Irak in den letzten Wochen und Monaten erschütterten und das laufende Jahr zum blutigsten seit 2008 machten. Insgesamt wurden bis Ende November bereits 8310 Tote registriert. Die Zahl der Opfer politischer Gewalt hat sich damit im Vergleich zu den keineswegs friedlichen Vorjahren mehr als verdoppelt. Da über einen großen Teil der Gewalttaten nicht berichtet wird, dürfte erfahrungsgemäß die tatsächliche Zahl um ein Vielfaches höher liegen.

Die humanitäre Situation im Land ist ebenfalls nach wie vor katastrophal. Auch zehn Jahre nach der Invasion gibt es keinen funktionierenden Staat, der die Grundversorgung sichern und die Basisdienstleistungen wiederherstellen könnte. »Land ohne Hoffnung« nannte der Südwestrundfunk Mitte November seine Reportage über die Unfähigkeit und Korruption des Staates sowie die ausufernde Gewalt.

Ursache für die erneute Eskalation ist zum einen der Krieg im Nachbarland Syrien, der längst grenzüberschreitend geführt wird. Zum anderen spitzt sich seit Ende letzten Jahres auch der Konflikt zwischen dem von den USA an die Macht gebrachten Regime Nuri Al-Malikis und seinen Gegnern, insbesondere unter den Sunniten, massiv zu.

Die Besatzungsmächte stützten sich von Beginn an auf schiitische und kurdische Kräfte und benachteiligten systematisch den sunnitischen Bevölkerungsteil. Maliki setzte diesen Teile-und-herrsche-Kurs nicht nur konsequent fort, sondern verschärfte ihn nach Abzug der US-Truppen weiter. Jeden Monat werden bei Großrazzien in sunnitischen Gebieten über 1000 Frauen und Männer gefangengenommen, darunter Bürgermeister, Abgeordnete und Angehörige von Provinzregierungen. Den Betroffenen drohen Folter, Isolationshaft, erpreßte Geständnisse, unfaire Gerichtsverfahren und Exekution. Allein bis Mitte Oktober wurden dieses Jahr 132 Todesurteile vollstreckt.

Auch gegen mehrere sunnitische Kabinettsmitglieder ließ Maliki von der von ihm kontrollierten Justiz Haftbefehle ausstellen. »Für viele sunnitische Araber hat das Gefühl, einer fremden Besatzung ausgesetzt zu sein, nicht aufgehört«, so die Nichtregierungsorganisation International Crisis Group. »Die US-Besatzung wurde nur durch eine schiitische ersetzt.«

Protestwelle

Ende letzten Jahres brachte eine Razzia von Malikis Sicherheitskräften in den Büros des Finanzministers Rafia Al-Issawi, bei der über 100 Angestellte und Sicherheitsleute festgenommen worden waren, das Faß zum Überlaufen. Ausgehend von dessen Heimatstadt Falludscha breitete sich rasch eine starke Protestwelle in den überwiegend sunnitischen Provinzen aus. Hunderttausende gingen nun Woche für Woche auf die Straßen, errichteten Camps in den Innenstädten und blockierten immer wieder die Fernstraßen nach Jordanien und Saudi-Arabien. Die Forderungen, die in regionalen Koordinierungsgremien formuliert wurden, reichen von Entlassung politischer Gefangener, Streichung der »Antiterror«- und »Entbaathifizierungs«-Gesetze, über die Wiederherstellung der Basisversorgung und staatlicher Dienstleistungen bis hin zu einem Ende des auf ethnischen und konfessionellen Grundlagen basierenden politischen Systems.

Maliki reagierte mit gewohnter Härte. Schon in den ersten Tagen wurden mindestens zehn Demonstranten erschossen und über 100 verletzt. Die Protestaktionen, denen sich viele prominente sunnitische Politiker und Stammesführer angeschlossen hatten, blieben dennoch bis zum 23. April überwiegend gewaltfrei. In den frühen Morgenstunden dieses Tages eröffneten Malikis Truppen beim Sturm auf ein Protestcamp in Hawidscha bei Kirkuk das Feuer, töteten über 50 Demonstranten und verwundeten 110.

Viele, vor allem junge Sunniten sahen nun keinen Sinn mehr darin, ihre Ziele mit ausschließlich friedlichen Mitteln zu verfolgen. Angehörige von Widerstandsgruppen, die sich bis dahin an den gewaltfreien Protesten beteiligt hatten, darunter die Baath-nahe »Armee der Männer vom Naqshbandi Orden« und die »Islamische Armee«, griffen wieder zu den Waffen. Die Stämme der Provinz Anbar begannen mit der Aufstellung einer eigenen Armee zum Schutz vor weiteren Angriffen. In der Folge nahm die Zahl der Attacken auf Armeeeinheiten und von auswärts kommende Sicherheitskräfte stark zu. Am 21.Dezember wurde der Kommandeur der Siebten Armeedivision, General Muhammad Al-Kurawi, der für das Massaker in Hawidscha verantwortlich war, getötet. Drei Tage später entkamen der geschäftsführende Verteidigungsminister wie auch der Kommandeur der Spezialeinheiten in Anbar nur knapp Bombenanschlägen auf ihre Konvois auf der Schnellstraße zwischen Bagdad und Falludscha und nahe Ramadi.

Spirale der Gewalt

Die Zuspitzung der Ereignisse vertiefte allerdings auch die Spaltung der Protestbewegung, die im wesentlichen in drei Strömungen zerfällt. Eine moderate, vor allem von sunnitischen Politikern und Stammesführern geführte Fraktion setzt auf Reformen im bestehenden politischen Rahmen und auf Bündnisse mit anderen Gegnern Malikis. Daneben wuchs innerhalb radikalerer Kräfte eine starke Bewegung für eine weitgehend unabhängige »Autonome sunnitische Region« nach dem Vorbild der kurdischen. Die Verfassung sieht dies durchaus vor, doch Widerstand dagegen gibt es nicht nur von der Regierung, sondern sogar von sunnitischen Nationalisten. Einige suchten nun wieder eine Verständigung mit Maliki, andere schlossen sich der dritten oppositionellen Strömung an, die die vollständige Abschaffung des von den Besatzern geschaffenen Systems anstrebt und der auch die erwähnten Widerstandsgruppen angehören.

Zu Beginn gab es durchaus auch aus anderen Landesteilen Unterstützung für die Proteste. Delegationen aus schiitischen und kurdischen Städten beteiligten sich an den Aktionen, und zahlreiche Organisationen und Persönlichkeiten stellten sich aktiv hinter die Bewegung, darunter Jawad Al-Khalesi, Präsident des Nationalen Gründungskongresses, dem größten Dachverband oppositioneller Gruppierungen, und der einflußreiche Geistliche Muktada Al-Sadr. Sadr kündigte zusammen mit dem Obersten Islamischen Rat, der wie die Sadr-Bewegung in der Regierung vertreten ist, Massendemonstrationen im Süden an.

In dieser explosiven Situation begannen die Al-Qaida-nahen Gruppen des »Islamischen Staats« jedoch ihre Angriffe auf Schiiten zu intensivieren. Die sunnitischen Hardliner, die von Beginn der Besatzung an von Saudi-Arabien gegen die pro-iranischen schiitischen Organisationen unterstützt worden waren und nun in Syrien gegen die säkulare Regierung kämpfen, hatten seit 2011 massiv vom Strom an Geld und Waffen an die Gegner der Assad-Regierung profitiert und nutzten nun die Situation, um auch ihre Aktionen im Irak wieder auszuweiten.

Im Gegenzug begannen nun auch schiitische Milizen ihre Aktivitäten zu intensivieren. Berichte über falsche Checkpoints, an denen sunnitische Gegner ausgesucht und entführt sowie über Leichen, die mit Folterspuren und gefesselten Händen gefunden wurden, häufen sich wieder und wecken Erinnerungen an die Jahre 2005 bis 2007, in denen sie mit ihrem Terror ganze Stadtviertel von Sunniten »säuberten«. Auch die Pläne der Regierung, aus schiitischen Milizen offizielle Bürgerwehren zu bilden, schüren die Angst vor einer erneuten Eskalation konfessioneller Gewalt.

Maliki reiste Anfang November nach Washington, um seinen Bitten um militärische Unterstützung, unter anderem in Form von Kampfhubschraubern und Kampfdrohnen, Nachdruck zu verleihen. Ihre Erfüllung scheiterte jedoch bisher am Widerstand der Hardliner im Kongreß, die sich nun – gegen die syrische Regierung und gegen den iranischen Einfluß in der Region allgemein – vollständig auf die Seite sunnitischer Islamisten gestellt haben. Maliki solle zuerst den »bösartigen Einfluß des Irans« auf die irakische Politik zurückdrängen, sunnitische Parteien an der Macht beteiligen und die Entbaathifizierung beenden.

* Aus: junge Welt, Samstag, 28. Dezember 2013


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