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Charles Graner wegen "Misshandlung" Gefangener zu 10 Jahren Haft verurteilt

Viele Fragen bleiben offen - Eine Chronik, Kommentare und ein Interview

Ein texanisches Militärgericht hat den US-Soldaten Charles Graner wegen der Misshandlung von Häftlingen im Gefängnis Abu Ghraib bei Bagdad am 15. Jan. zu zehn Jahren Haft verurteilt. Wegen physischer, psychischer und sexueller Misshandlungen verurteilten die Geschworenen den 36-Jährigen außerdem zur unehrenhafte Entlassung aus der Armee. Graner gilt als Rädelsführer einer Gruppe von Soldaten, die ihre Misshandlungen auf Video und Fotos dokumentiert hatten. Die zehn Geschworenen hatten ihn am Vortag in neun der insgesamt zehn Anklagepunkte der schweren Körperverletzung, Verschwörung, Misshandlung von Gefangenen, sexueller Nötigung und anderer Vergehen schuldig gesprochen. Ihm hatte eine Haftstrafe von 15 Jahren gedroht. Kurz vor der Verkündung des Strafmaßes äußerte sich Graner erstmals seit Beginn des Verfahrens am 7. Jänner persönlich zu den Vorwürfen. In einem langen Plädoyer ließ er Bedauern über sein Verhalten erkennen und erklärte, er habe bei der sexuellen Demütigung und Folter der Gefangenen nur Befehle befolgt. Er habe dem Druck anfänglich noch widerstanden, doch seine Vorgesetzten hätten ihm zu verstehen gegeben, dass man von ihm erwarte, den Befehlen der militärischen und zivilen Geheimdienstmitarbeiter in dem Gefängnis zu gehorchen. Graner gilt als Rädelsführer einer Gruppe von Soldaten, die ihre Misshandlungen auf Video und Fotos dokumentiert hatten. Die Bilder von Gefangenen, die sich unter der Aufsicht ihrer grinsenden Bewacher nackt zu Pyramiden auftürmen mussten und an Hundeleinen herum geführt wurden, hatten weltweit Entsetzen ausgelöst und dem Ansehen der US-Armee schweren Schaden zugefügt. Graner war der erste Soldat, der sich wegen der Vorwürfe vor Gericht verantworten musste. Laut Anklage hatte er unter anderem persönlich einen Gefangenen bewusstlos geschlagen und einen anderen mit einem Metall-Schlagstock verprügelt. Zwei weitere Soldaten müssen sich noch wegen der gleichen Vorwürfe wie Graner vor Gericht verantworten. Darunter ist auch die Soldatin Lynndie England.

Im Folgenden dokumentieren wir eine Reihe von Kommentaren aus der Tagespresse, die sich mit dem Urteil befassen. Im Anschluss daran erinnern wir an eine Interview, das der Militärhistoriker Prof. Dr. Wolfram Wette im vergangenen Jahr in den Tagesthemen gegeben hatte. Titel: "Unter Bush herrscht ein Rambo-Klima".

Doch wir beginnen mit einer kleinen Chronik des Folterskandals.




Chronologie der Folteraffäre in Abu Ghraib

13. Januar: Ein US-Militärpolizist meldet seinen Vorgesetzten Misshandlungen an Gefangenen. Bereits am nächsten Tag soll US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld informiert worden sein; Ende des Monats oder Anfang Februar auch Präsident George W. Bush.

3. März: Ein geheimer interner Ermittlungsbericht bestätigt Folterungen und ungesetzliche Verhörmethoden.

28. April: Im US-Fernsehen werden Bilder von Misshandlungen gezeigt, die international Empörung auslösen.

4. Mai: Rumsfeld und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice versprechen, dass die Schuldigen bestraft würden.

5. Mai: In Interviews mit zwei arabischen Fernsehsendern nennt Bush die Vorfälle "abscheulich". Rice und General Mark Kimmitt, Sprecher der US-Streitkräfte im Irak, entschuldigen sich.

7. Mai: Rumsfeld erklärt vor dem US-Senat, er übernehme die volle politische Verantwortung und entschuldige sich "zutiefst".

12. Mai: Die Enthauptung des entführten Amerikaners Nick Berg wird von den Tätern als Reaktion auf die Folterungen bezeichnet.

14. Mai: Der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz räumt mögliche Verstöße gegen die Genfer Konventionen ein.

19. Mai: Im ersten Prozess um den Skandal wird der Militärpolizist Jeremy Sivits zur Höchststrafe von einem Jahr Haft verurteilt.

25. Mai: Das Pentagon bestätigt, dass der Oberkommandierende der US-Truppen im Irak, General Ricardo Sanchez, und die für Abu Ghraib zuständige Generalin Janis Karpinski abgelöst werden.

12. Juli: Die Anhörung gegen die Soldatin Lynndie England, die auf zahlreichen Fotos mit misshandelten irakischen Gefangenen zu sehen ist, wird für den 3. August angesetzt.

23. Juli: Heeresinspekteur Paul Mikolashek legt dem US-Senat einen Bericht vor, im Irak und in Afghanistan seien 94 Fälle von erwiesenen oder möglichen Gefangenenmisshandlungen registriert worden.

17. Januar 2005: Ein texanisches Militärgericht hat den US-Stabsgefreiten Charles Graner wegen der Misshandlungen von Häftlingen im Gefängnis Abu Ghraib bei Bagdad zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die Geschworenen verurteilten den 36-Jährigen außerdem zur unehrenhaften Entlassung aus der Armee. Das Militärtribunal befand Graner in neun der insgesamt zehn Anklagepunkte für schuldig, unter anderem wegen physischer, psychischer und sexueller Misshandlungen. Lediglich in einem Fall erkannte es auf den geringeren Vorwurf der Körperverletzung statt eines tätlichen Angriffs mit wahrscheinlicher Todesfolge. Die Geschworenen bezeichneten Graner als Rädelsführer bei den Misshandlungen.

Quelle: www.tagesschau.de



Kommentare

Für Arndt Festerling wirft das Urteil mehr Fragen auf als es beantworten kann. Die wichtigste Frage: Was ist mit den Vorgesetzten des Verurteilten?

(...) Eine kurze Antwort auf viele Fragen. Warum hat Graner nicht die Höchststrafe von fünfzehn Jahren bekommen? Fand die Jury mildernde Umstände? Welche? Reue hat der Soldat nicht gezeigt, bestenfalls Bedauern; Graner hat sich darauf berufen, nur Befehlen gefolgt zu sein.

Befehle, die es gar nicht gab, sagt schon länger auch der oberste Oberkommandierende der US-Streitkräfte, US-Präsident George Bush. Das Gericht schweigt dazu. Schließlich wusste Bush bereits vor dem Verfahren, dass nur und ausschließlich die Verfehlungen weniger untergeordneter Soldaten zu dem Skandal in Abu Ghraib geführt haben.

An dieser offiziellen - sagen wir mal - Festlegung ändert sich nichts. Keiner der Vorgesetzten, die Graner im Prozess genannt hat, wurde überhaupt vor Gericht geladen. Kein einziger Offizier wurde bisher belangt. Einige Soldaten, das kam in Fort Hood ans Licht, wurden aus Abu Ghraib versetzt, nachdem sie sich entsetzt bei Vorgesetzten über die Zustände beklagt hatten. Mehr unternahmen diese Vorgesetzten offenbar nicht - und wussten wohl auch weiterhin von nichts.

Der Soldat Graner hält sich für einen Sündenbock. Anders als er meint, ist seine Schuld deswegen nicht geringer. Aber es sieht so aus, als könne er Recht haben.

Aus: Frankfurter Rundschau, 17. Januar 2005


Ähnlich argumentiert Olivia Schoeller in der Berliner Zeitung. Graner ist ein Sündenbock, gewiss, aber er trägt auch Verantwortung. Gleichzeitig wird hervorgehoben, dass viele der US-Soldaten, die im Irak Dienst tun, ihre Sache gut machen und die Inhaftierten Gegner "human behandeln".

(...) Das Militärgericht hat ihm nicht die Höchststrafe gegeben, weil es ihn nicht in allen Punkten für schuldig hielt. Doch im Wesentlichen wurde klar gemacht: Das amerikanische Militär toleriert das Foltern von Gefangenen nicht - vor allem nicht, wenn fotografiert wird. Eine Garantie für die humane Behandlung von Gefangen in amerikanischen Kriegsgefängnissen ist das Urteil nicht.

In einer Zeit, in der die amerikanische Regierung Gefangene als "feindliche Kämpfer" bezeichnete, ein internationales Abkommen wie die Genfer Konvention ignoriert, Gefangene all ihrer Rechte beraubt, ist es schwer sich vorzustellen, dass nicht auch andere Wärter von dieser Atmosphäre so beeinflusst werden, dass auch sie Gefangene nicht als Menschen, sondern als minderwertige Kreaturen sehen.

Ein Außenstehender kann sich schwer vorstellen, wie ein Wärter in einem amerikanischen Militärgefängnis lebt. In den Straßen von Bagdad sterben täglich Kameraden durch Anschläge, und einer der Gefangenen mag verantwortlich dafür sein. Hinzu kommt die Haltung der eigenen Regierung. Angesichts dessen ist es eigentlich überraschend, dass sich nicht alle US-Soldaten in Abu Ghoreib wie Graner verhalten haben. Es gibt offenbar doch viele, die die Inhaftierten human behandeln. Graner ist der Sündenbock für seine Vorgesetzten und auch für Donald Rumsfeld. Aber er wusste, dass er Unrecht tat und muss dafür die Verantwortung tragen.

Aus: Berliner Zeitung, 17. Januar 2005


So sieht auch Christoph Winder im österreichischen "Standard" bei der Urteilskommentierung "Schatten und Licht".

Zehn Jahre Haft, unehrenhafte Entlassung aus der US-Army: Das Militärgericht in Fort Hood hat den Höchststrafrahmen nicht ausgeschöpft, aber es hat trotzdem zu einem klaren Urteil gegen den Abu-Ghraib-Folterer Charles Graner gefunden. Die Schattenseite des Richterspruchs: Den Verdacht, dass hier nur ein Kleiner "gehängt" wurde, hat er nicht beseitigt. Bis zuletzt hat Graner beteuert, er habe auf höheren Befehl gehandelt. Selbst wenn dies nicht stimmt - und Graners Verteidigung war wackelig, weil er sich um Befehle auch sonst nicht viel scherte -, gibt es genug Indizien, die zeigen, dass seit dem 11. 9. 2001 bis in die Spitzen der US-Regierung hinauf ein laxer Umgang mit Menschenrechten getrieben wird.

Justizminister Alberto Gonzáles hat sich bei seinen Senatshearings als Gegner der Folter dargestellt - doch in einem Memorandum an den Präsidenten verunglimpfte er die Genfer Konventionen als überholten Kram. In Guantánamo werden rechtsstaatliche Prinzipien mit Füssen getreten. Die Affäre Graner sollte wieder den Blick dafür schärfen, was auf dem Spiel steht. Das Überleben der westlichen Demokratien und ihrer Grundwerte hängt davon ab, dass sie angesichts einer barbarischen Bedrohung nicht selbst in die Barbarei verfallen.

Das Urteil hat auch seine Lichtseite. Es zeigt, dass es in der US-Army genug anständige Menschen gibt, die sich durch fadenscheinige Notstandsargumentationen nicht beirren lassen und Menschenrechtsverletzungen unmissverständlich als solche wahrnehmen. Dass es überhaupt zu dem Verfahren kam, ist einem Kameraden Graners zu verdanken. Der sah, im Gegensatz zu anderen, in den Fotos kein belustigendes Souvenir. Sondern Dokumente von brutalen, sadistischen Übergriffen, die an die Öffentlichkeit gebracht werden mussten. Auch wenn es ihm nicht leicht gefallen sein mag, nach seinem eigenen Gewissen und gegen stillschweigendes Einverständnis zu handeln.

Aus: DER STANDARD, 17. Jänner 2005


Rainer Rupp in der "jungen Welt" empfindet die Strafe für Graner "relativ hart" - allerdings auch nur, wenn man sie mit anderen Fällen vergleicht, in denen angeklagte Soldaten wegen ebenfalls schwerwiegender Vergehen viel glimpflicher davon kamen. Ansonsten wird hier auch kritisiert, dass die militärische Befehlskette nicht Gegenstand des Verfahrens wurde.

Zehn Jahre Haft lautete am Samstag das Urteil gegen den Stabsgefreiten der US-Militärpolizei Charles Graner. Der Gefängniswärter, der als Reservist zum Irak-Krieg einberufen worden war, wurde auf der texanischen Militärbasis Fort Hood von einem Militärgericht für schuldig befunden, im irakischen Abu Ghraib »mißhandelt« zu haben. Von »Folter« war keine Rede. Graner, der während des Prozesses zur Sache geschwiegen hatte, wehrte sich in seinem »letzten Wort« gegen den Versuch, ihn als Sündenbock hinzustellen. Er habe lediglich Befehle ausgeführt, die ihm seine Vorgesetzten direkt erteilt hätten, so Graner. Er nannte auch die Anweisungen von Oberstleutnant Steven Jordan, ranghöchster Offizier des Militärischen Nachrichtendienstes (DIA) in Abu Ghraib, die Gefangenen vor den Verhören »hart ranzunehmen«.

Graners Mitangeklagte und sogar eines ihrer ehemaligen irakischen Opfer hatten am vergangenen Mittwoch in ihren Zeugenaussagen dessen Version bestätigt, wonach die US-Militärpolizisten in Abu Ghraib von den DIA-Offizieren angewiesen worden sind, die Gefangenen vor den Verhören »weichzuklopfen«. Eine Mitschuld höherer Offiziere oder gar der Schreibtischtäter in der Führungsmannschaft der Bush-Administration an den Folterungen wurde vom Militärgericht gar nicht erst erwogen, Zeugen aus diesen Bereichen nicht zugelassen. Charles Graner wurde als »Einzeltäter« verurteilt, ein »fauler Apfel in der großen Kiste voller guter Äpfel«, wie US-Präsident Bush im vergangenen Jahr die Folterer in Schutz nahm.

In diesem international stark beachteten Prozeß schien aus Sicht des Pentagon kein anderes Urteil möglich. Dazu gehörte auch die relativ harte Bestrafung Graners. In anderen Fällen war die US-Militärjustiz großzügiger. So wurde US-Sergeant Tracy Perkins vor Wochenfrist lediglich zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und in seinem militärischen Rang um einen Grad herabgestuft. Perkins hatte vor genau einem Jahr zum Spaß seiner Kameraden in der Nähe der irakischen Stadt Samarra den 19 Jahre alten Nichtschwimmer Saidoun Hassoun mit vorgehaltener Waffen dazu gezwungen, von einer Brücke in den Tigris – und damit in den Tod – zu springen.

Aus: junge Welt, 17. Januar 2005


In der taz (Bernd Pickert kommentiert) fällt die Urteilsschelte ebenfalls eindeutig aus. Die einzige Lehre, die man daraus ziehen müsse, bestünde darin, "sich nicht erwischen zu lassen". Gleichzeitig wird auch auf Deutschland und den Fall Daschner verwiesen, soll heißen: Die "Bereitschaft zur Missachtung von Menschenrechten ist keine Eigenart der USA."

(...) Seit die Folterbilder weltweit veröffentlicht wurden, hat die Bush-Regierung nichts unversucht gelassen, die Geschehnisse als bedauerliche, ja schockierende Einzelfälle darzustellen. Die Recherchen etwa des Journalisten Seymour Hersh zeigen jedem, der es wissen will, dass Abu Ghraib sicherlich ein Exzess war - und doch nicht mehr als eine logische Konsequenz dessen, was die oberste Führung von Pentagon, Justizministerium und Weißem Haus als Leitlinie für den Umgang mit Gefangenen im Krieg gegen den Terror ausgegeben hat.

Das Besondere an Abu Ghraib ist nur, dass Fotos davon an die Öffentlichkeit gelangt sind. Dadurch ist ein Handlungsdruck entstanden, der zu dem Urteil an Graner geführt hat und vermutlich auch die Gefreite Lynndie England ins Gefängnis bringen wird. Ihr Prozess beginnt in der kommenden Woche.

Das politische Verhalten der US-Regierung und die Belobigung von Alberto Gonzales aber zeigen, dass die Message der Urteile nur ist: Du sollst dich nicht erwischen lassen. Wie würde die Öffentlichkeit wohl reagieren, wenn sie Bilder davon sehen könnte, was mit den geheimen Gefangenen der CIA geschieht, die noch immer in klandestinen Charterflügen in Folterländer verbracht werden? Was, wenn sie detaillierte Fotos vom Umgang mit den Gefangenen in Guantánamo zu Gesicht bekäme?

Während der größere Teil der US-Öffentlichkeit protestieren würde, nähme ein kleinerer Teil - auch das haben sowohl die Senatsanhörungen zu Abu Ghraib als auch der Graner-Prozess gezeigt - die Misshandlungen billigend in Kauf. Schließlich handelt es sich bei den Opfern doch um "den Feind".

Diese Bereitschaft zur Missachtung von Menschenrechten ist keine Eigenart der USA. Das hat die deutsche Debatte um den Fall Daschner gezeigt. Sie bleibt aber ein Armutszeugnis für eine Supermacht, die mit missionarischem Eifer die Welt demokratisieren will.

Aus: taz, 17. Januar 2005


"Unter Bush herrscht ein Rambo-Klima"

Der Militärhistoriker Prof. Dr.Wolfram Wette macht die US-Regierung für die Folterungen irakischer Gefangener durch US-Streitkräfte verantwortlich. Unter Präsident George W. Bush sei den US-Truppen der Eindruck vermittelt worden, sie dürften alles, kritisiert Wette im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Die Bilder von Misshandlungen irakischer Gefangener durch US-Soldaten und Soldatinnen in Irak sind schrecklich. Wie ist ihr Eindruck, kann so etwas passieren, ohne dass militärische Vorgesetzte davon Kenntnis haben?

Wette: Im Prinzip können Kriegsverbrechen geschehen, ohne dass Vorgesetzte davon Kenntnis haben. Aber hier scheint mir das nicht so zu sein. Das erinnert mich eher an rechtsradikale Vorkommnisse, die wir aus der Bundeswehr kennen. Da fühlten sich auch immer alle Minister bemüßigt zu sagen, das seien Einzelfälle. Natürlich waren sie das nicht, sondern sie haben ein gewisses Klima in der Bundeswehr offen gelegt. Im Irak ist es auch so: So was ist nicht denkbar, ohne dass Vorgesetzte das zugelassen, wenn nicht sogar befohlen haben - worauf ja einiges hindeutet. Folter in einem Gefängnis passiert ja nicht aus einer Kampf-Situation heraus. Im Gefängnis ist ja eigentlich Ruhe und Gelassenheit angesagt. Da findet nichts statt aus einem momentanen Impuls, sondern es gibt ein gewisses System.

tagesschau.de: Fördert der berühmte "Korpsgeist" solche Exzesse?

Wette: Der Korpsgeist hat vor allem die Funktion, Verbrechen vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Ob der Korpsgeist auch dazu dient, Kriegsverbrechen hervorzubringen, ist eine andere Frage. Dazu ist aber ein gewisses Klima notwendig, wie man an der Geschichte der deutschen Wehrmacht sieht. Wenn die oberste Führung sagt: "Ihr dürft" - dann finden auch Exzesse statt. Wenn die oberste Führung dagegen sagt: "Haltet euch streng an die rechtlichen Vorschriften", in diesem Fall an das Kriegsvölkerrecht, oder an die Genfer Konventionen, dann passiert auch weniger. Aber ich habe den Eindruck, dass die amerikanische Führung unter Bush ein Rambo-Klima geschaffen hat, in dem die Soldaten der Auffassung sind, sie dürften alles. Bekanntlich ist die Regierung Bush nicht dem Internationalen Strafgerichtshof beigetreten. Auch das ist ein Signal, nicht nur weltweit, sondern auch für die eigene Truppe. Die Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte wissen: Vor ein internationales Gericht, wo es nach internationalen Gesichtspunkten gerecht zugeht, kommen wir nicht. Im Krieg sind die Gesetze der Demokratie außer Kraft

tagesschau.de: Heißt das, es gibt einen entscheidenden Unterschied im Verhalten der US-Streitkräfte im Vergleich zu anderen Armeen, etwa der Bundeswehr?

Wette: Es ist sicher eine Erfahrung der deutschen Geschichte, dass man im Soldatengesetz, das für die Bundeswehr gültig ist, gesagt hat: Wenn euch befohlen wird, ein Verbrechen zu begehen, müsst ihr den Befehl verweigern. Das ist ja eine ganz neue Entwicklung, die wir nach 1945 hatten. Ich habe doch die Hoffnung, dass Bundeswehrsoldaten in vergleichbaren Situationen anders reagieren würden, als wir das jetzt von Angehörigen der US-Streitkräfte im Irak hören.

tagesschau.de: Zeigt sich an diesem Beispiel, dass sich eine Demokratie im Kriegsfall verändert?

Wette: Wir sind ja geneigt zu glauben, die Streitkräfte einer Demokratie seien gleichsam zivilisierter als die Streitkräfte einer Diktatur. Da habe ich aber starke Zweifel. Sobald eine Regierung sich dazu entschlossen hat, in den Krieg zu ziehen, dann ist es gleich, ob es sich um eine demokratische oder diktatorische Regierung handelt. Denn dann treten die Gesetze des Krieges in Kraft, und die Gesetze der Demokratie sind außer Kraft gesetzt. Dann verselbstständigt sich die Gewalt und wird total.

tagesschau.de: Die militärische Führung kann solche Exzesse also gar nicht verhindern?

Wette: Doch, sie kann sehr viel dazu beitragen, dass solche Exzesse verhindert werden. Wenn die Soldaten permanent dazu angehalten werden, sich im Rahmen des Rechtes zu bewegen, passiert wesentlich weniger, als wenn man ihnen sagt: "Ihr dürft ja". Die Regierung eines Landes trägt eine große Verantwortung für das, was sein Gewaltinstrument macht.

tagesschau.de: Und die US-Regierung wird dieser Verantwortung nicht gerecht?

Wette: So sehe ich das. Erstaunlich ist jedoch: Heute regt man sich über die Folgen dieser Folterungen für das internationale Klima auf. Die verwerfliche Tat selbst ist gar nicht mehr Gegenstand internationaler Erörterungen.

tagesschau.de: Wie erklärt sich denn dieses Verhalten der US-Truppen gegenüber der arabischen Kultur?

Wette: Es gibt viele ähnliche Beispiele. Eine militärische Truppe wird in ein fremdes Land geschickt, ohne dass die Offiziere und Soldaten überhaupt eine gewisse Landeskenntnis haben. Mir fällt der so genannte Boxer-Aufstand in China ein, wo deutsche Truppen ja mit dem Segen von Kaiser Wilhelm II. hingeschickt wurden. Die hatten überhaupt keine Ahnung und haben sich wirklich wie die Axt im Walde als Kriegsverbrecher aufgeführt und reihenweise Menschen ermordet. Daran fühlte ich mich erinnert, als ich gelesen habe, dass der US-Verwalter im Irak, Paul Bremer, vor der internationalen Öffentlichkeit zugegeben hat, er habe im Grunde keine Landeskenntnis vom Irak.

Das Interview führte Frank Thadeusz, tagesschau.de
Stand: 11.05.2004 14:37 Uhr



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