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Humanitäre Hilfe unter Kriegsbedingungen?

Kriegsverbrechen, zivile Opfer und die katastrophale Situation der Bevölkerung - Vier Beiträge

Im Folgenden dokumentieren wir
  1. eine Presseerklärung von amnesty international zur Bombardierung des irakischen Fernsehens,
  2. ein Gespräch mit Prof. Dr. Ulrich Gottstein (IPPNW) über die katastrophale medizinische Versorgung im Irak,
  3. ein Interview mit Andrea Hilger von der deutschen Hilfsorganisation Architects for People in Need (APN) über Iraks Elend, sowie
  4. einen grundsätzlichen Artikel von Katja Maurer über die Schwierigkeit der humanitären Hilfe in Kriegszeiten.

IRAK-KRIEG

amnesty international: Hinweise auf Kriegsverbrechen


London/Berlin, 26. März 2003 - Die US-Truppen und ihre Verbündeten haben den Angriff auf irakische TV-Sendeanlagen damit begründet, dass sie gegen die Informationspolitik der irakischen Regierung vorgehen und die Kontrolle der Regierung über das Land schwächen wollten. "Angriffe auf Sendeeinrichtungen der Medien, nur weil diese für Propagandazwecke genutzt werden, sind nicht mit dem internationalen Völkerrecht vereinbar", sagte die Generalsekretärin von ai-Deutschland, Barbara Lochbihler. "Der Angriff eines zivilen Objekts ist nur gerechtfertigt, wenn dieses nachweislich für militärische Zwecke missbraucht und der erwartete militärische Vorteil überproportional größer als die mögliche Gefährdung von Zivilisten ist."

Irakische Streitkräfte sollen Zivilisten in Basra absichtlich beschossen und militärische Ziele bewusst in die Nähe von zivilen Einrichtungen platziert haben. "Der direkte Angriff auf Zivilpersonen ist ein Kriegsverbrechen. Alle Konfliktparteien müssen sicherstellen, dass militärische Ziele in sicherem Abstand von Wohngebieten liegen. Zivilpersonen dürfen nicht als 'menschliche Schutzschilde' missbraucht werden." Außerdem wurde von irakischen Soldaten berichtet, die in Zivilkleidung militärische Angriffe vorgenommen haben. "Wer die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten aufhebt, unterläuft die Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts ", sagte Barbara Lochbihler weiter.

Alle Vorfälle, bei denen es zum mutmaßlichen Bruch des humanitären Völkerrecht gekommen ist, müssen ermittelt und aufgeklärt werden. Sollten sich Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht bestätigen, müssen die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

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GESUNDHEITSWESEN IM IRAK

Ulrich Gottstein (IPPNW Deutschland) über den drohenden medizinischen Kollaps im Irak
Interview in der Wochenzeitung "Freitag"


FREITAG: Haben Sie derzeit Kontakte zu Ihren Partnern im Irak?

ULRICH GOTTSTEIN: Ich stehe in telefonischer Verbindung mit Kollegen, die gerade von dort zurückgekehrt sind. Ich habe aber auch mit irakischen Ärzten gesprochen, die ihre Familien in Bagdad haben. Aus alldem geht hervor, dass es eine große Angst vor den Bomben und Raketen gibt, vor allem aber vor einem zu erwartenden Häuserkampf in der Stadt. Außerdem besteht die Gefahr einer akuten Luftvergiftung durch die Gebäude- und Ölbrände.

Sie kennen den Zustand des irakischen Gesundheitswesens aus eigener Anschauung, man weiß dank vieler Augenzeugenberichte, wie die medizinische Versorgung durch die Jahre des Embargos gelitten hat. Ist es für die Hospitäler im Irak überhaupt möglich, sich binnen kurzem auf Kriegsverhältnisse umzustellen?

Das Gesundheitssystem ist durch die fast 13 Jahre des Embargos dermaßen geschwächt und ausgelaugt, dass man der Extremsituation Krieg nicht gewachsen sein kann. Eine angemessene medizinische Hilfe, die ja neben der Versorgung von Kriegsopfern auch für andere Patienten weiterhin gebraucht wird, ist derzeit auch deshalb in Frage gestellt, weil alle verfügbaren Betten für Verwundete zur Verfügung stehen müssen - besonders katastrophal scheint in dieser Hinsicht die Lage in Basra zu sein. Infolge des Embargos fehlen außerdem Röntgenfilme. Die sind aber unabdingbar bei Verwundungen von Lungen, Bauchraum und Skelett.

Gibt es in den Krankenhäusern überhaupt Schutzräume für die Patienten und das medizinische Personal, wenn bombardiert wird?

Nein, nichts dergleichen existiert.

Haben Sie aus Ihrer Kenntnis des irakischen Gesundheitswesens eine Ahnung davon, wie sich unter den jetzigen Umständen die Versorgung mit Wasser und Energie für die Krankenhäuser aufrechterhalten lässt?

Die Hospitäler haben zum Teil mit Diesel betriebene Generatoren, um Stromausfälle zu kompensieren. Aber die sind äußerst störanfällig und werden kaum lange hintereinander arbeiten können. Trinkwasservorräte sind vorhanden, aber die dürften nicht länger als einige Tage reichen. Man muss auch den großen Bedarf in Betracht ziehen, der durch eine ständig wachsende Zahl von Patienten entsteht. Ich glaube, daraus wird ersichtlich, was ein Zusammenbruch der Wasserversorgung bedeuten würde. Bei Temperaturen in Bagdad von bis zu 30, teilweise 40 Grad Celsius muss jeder Mensch mindestens drei bis vier Liter pro Tag trinken.

Welche Defizite, die es im irakischen Gesundheitswesen ohnehin gibt, könnten sich derzeit bei der Versorgung von Bombenopfern besonders nachteilig bemerkbar machen?

Bombenopfer brauchen eine Versorgung von Wunden und Verbrennungen, also sind teilweise große Operationen nötig. Dazu wiederum braucht man Antibiotika, Narkosen, Verbandsmaterial in großen Mengen, Blut- und Plasma-Transfusionen - das ist nicht in dem Maße vorhanden, wie es gebraucht wird. Außerdem sind funktionstüchtige Röntgengeräte knapp, da sie vom UN-Sicherheitsrat wegen des Verdachts auf »dual use« nur in einem sehr geringen Umfang genehmigt wurden. Ich bitte Sie gleichfalls zu bedenken, dass mit Beginn des Krieges sämtlicher Transfer aus dem »Oil for Food«-Programm entfallen ist - also auch sämtlicher Hospitalbedarf. Die Iraker leben nur noch von der Substanz und das bei Luftangriffen, die offenbar von Tag zu Tag heftiger werden. Nur das Internationale Rote Kreuz, das in Bagdad geblieben ist, kann augenblicklich noch helfend eingreifen.

Da die Kampfhandlungen von Bodentruppen, wie man hört, größtenteils noch außerhalb der Städte stattfinden - welche Möglichkeiten gibt es für ärztliche Hilfe im ländlichen Raum, falls es dort zu zivilen Opfern kommt?

Neben den über 150 Krankenhäusern Iraks gibt es etwa 300 kleine Ambulatorien, in denen stundenweise Ärzte für Untersuchungen, Impfungen und kleine Behandlungen zur Verfügung stehen. Man kann dort aber nicht operieren, sondern muss die Patienten in Krankenhäuser verlegen. Dazu sind Ambulanzen, vor allem befahrbare Straßen und Brücken notwendig. Man weiß nicht, wie viel der Krieg davon übrig lässt.

Was können Sie bei all dem, was wir jetzt zur Beschreibung der Kriegssituation im Irak zusammengetragen haben, als IPPNW an konkreter Hilfe leisten?

Wir können nur Kontakte halten und Hilfen vorbereiten. Dazu sind wir allerdings auf Spenden angewiesen, um wieder wie zwischen 1991 und 1996 Hilfstransporte zu den Krankenhäusern bringen zu können. Wir werden dazu mit den österreichischen, britischen und kanadischen IPPNW kooperieren.

Das Gespräch führte Lutz Herden

Dr. Ulrich Gottstein ist Professor für Innere Medizin in Frankfurt a. M. und Mitbegründer der Deutschen Sektion der IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung von Atomkrieg/Ärzte in sozialer Verantwortung)

Aus: Freitag 14, 28.03.2003

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Andrea Hilger von der deutschen Hilfsorganisation Architects for People in Need (APN) im Interview mit dem "Neuen Deutschland"

ND: Ihre Organisation ist eigentlich nach Irak gegangen, um Wasserleitungen zu bauen. Was ist denn mit diesen Projekten im Moment?

Ja. Wir haben in der Gegend nahe der syrischen Grenze gearbeitet. Die Projekte ruhen jetzt natürlich. Dafür haben wir bereits vor Wochen begonnen, ein Hilfsnetzwerk in Bagdad aufzubauen, um die akute Not etwas lindern zu helfen.

ND: Wie muss man sich die Not im bombardierten Bagdad vorstellen? Wovon leben die Einwohner?

Das größte Problem sind fehlende Lebensmittel. Die Menschen haben zwar ihre Rationen bis Juni bekommen. Nur, viele können sie nicht richtig lagern. Und nicht wenige mussten sie in ihrer bitteren Armut verkaufen.

ND: Was gehört denn zu so einer Ration?

Grundnahrungsmittel: Reis, Mehl, Öl, Seife, Salz, Zucker, Tee. Auch einige Hygieneartikel. Unsere Mitarbeiter und andere Helfer schätzen, dass sich die Menschen vielleicht zwei, drei Wochen noch einigermaßen über Wasser halten können. Aber dann ist es vorbei. Wir stellen jetzt in Amman einen Nahrungsmittel-Konvoi zusammen und hoffen, dass er bald aufbrechen kann. Am Mittwoch haben Kollegen von »Ärzte ohne Grenzen« Lkw losgeschickt. Quasi als Test. Wenn sie durchkommen, versuchen wir es auch.

ND: Sie versuchen derzeit Hilfe von Amman aus zu organisieren. Sind die Behörden kooperativ?

Die sind sehr kooperativ. Von jordanischer Seite gibt es überhaupt keine Probleme. Und die irakisch-jordanische Grenze ist ja immer noch von normalem irakischen Personal besetzt. Daher sind dort für uns auch keine Probleme zu erwarten. Die werden sich dann unterwegs ins irakische Innere ergeben. Die Straße ist sehr sehr unsicher im Moment. Wenn man erst einmal Einschläge neben sich sieht, kann es zu spät sein.

ND: 60 Prozent der irakischen Bevölkerung lebten vom UN-Nahrungsmittelhilfe.

Jetzt wird einfach noch ein wenig von den Resten gelebt. Es müssen dringend Transporte rein, sonst gibt es neben den Kriegsschrecken auch noch eine riesige parallele Katastrophe. Allein in Bagdad leben derzeit zwischen fünf und sechs Millionen Menschen, davon drei Millionen in Saddam-City, das ist das große Armenviertel Bagdads. Wie ein Gürtel schließen sich Slum-Gebiete daran an. Die Hälfte der Einwohner hockt in diesen Elendsgebieten. Noch können wir über kirchliche Institutionen, kleine Kliniken und Waisenhäuser ein paar Lebensmittel an die Ärmsten verteilen.

ND: Ihre Mitarbeiter riskieren dabei derzeit das Leben.

Sie setzen es ein, vor allem, um den Kindern etwas Essen zu bringen. Natürlich haben unsere Helfer auch Angst. Inzwischen werden Bombardierungen nicht mehr mit Sirenen angekündigt. Die Bomben fallen einfach so vom Himmel...

ND: Funktioniert denn da noch die Infrastruktur der Millionenstadt?

Der Strom bleibt immer öfter aus. Das ist man gewohnt. Doch am Mittwoch war er acht Stunden weg. Dann gibt es natürlich auch kein Wasser mehr, denn das wird aus dem Tigris gewonnen, aufbereitet und in die Leitungen gepumpt.

ND: Eine Folge ließe sich möglicherweise mit dem Begriff Seuche umschreiben?

Absolut. Das ist angesichts der generellen und durch die Kriegsereignisse verschärften Elendssituation zu erwarten.

Fragen: René Heilig

Andrea Hilger, geborene und eigentlich leidenschaftliche Münchnerin, hat APN vor drei Jahren gemeinsam mit ihrem Mann gegründet. Seit November 2001 arbeiten sie in Irak.
Spendenkonto von APN. Kennwort: »Menschen im Irak« Bank für Sozialwirtschaft Kontonummer: 88 62 404 BLZ: 700 205 00

Neues Deutschland, 27.03.2003

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Katja Maurer: Die gute Tat

Wie Helfer helfen, den Krieg zu humanisieren, und dabei ihre Unschuld verlieren


Um nicht den Eindruck zu erwecken, völkerrechtswidrige Kriege zu humanisieren und damit führbar zu machen, lehnt medico international Hilfen unter militärischem Kuratel, wie dem vom Pentagon geführten Humanitarian Operations Center (HOC) ab. Gleichzeitig kann und will sich medico international der Verpflichtung gegenüber den unter dem Krieg leidenden Menschen und den langjährigen Partnern im Nordirak nicht entziehen und hat deshalb für die akute Situation über 60.000 Euro für die Kurdish Health Foundation zur Verfügung gestellt. Die medico-Partner befürchten eine kurzfristige Versorgungskrise und bereiten sich auf die Unterstützung und medizinische Betreuung von Flüchtlingen aus dem Zentralirak vor. Mit der medico-Unterstützung werden Ambulanzen finanziert, in denen Notoperationen durchgeführt werden können und in denen eine Grundausstattung von Medikamenten vorhanden ist. Außerdem sind mobile Teams zur Unterstützung und Notfallversorgung der Bevölkerung und von Flüchtlingen gebildet worden. Darunter sind auch Spezialeinheiten, die für den Fall eines Chemiewaffeneinsatzes ausgebildet und ausgerüstet sind.

Unter allen Umständen will man den Opfern beistehen. In einer verwirrenden Welt, in der das Gute abhanden gekommen scheint, wenigstens etwas. »Tausend Fragen - eine Antwort: Helfen.« Dieses Motto einer großen Entwicklungsorganisation bringt es auf den Punkt. Ein Gipfel der Ratlosigkeit. Der eingängige Slogan kann nur mühsam verbergen, welche dubiosen Folgen ein solches kontextloses Hilfsverständnis hat. Denn bei Licht betrachtet wirkt diese Hilfe, auch wenn sie noch so neutral und selbstlos daher kommt, durchaus zweischneidig. Hier werden durch die Medialisierung der Politik und die Neoliberalisierung des Sozialen jene Fehler wiederholt, die man zumindest im entwicklungspolitischen Diskurs bereits vor zwanzig Jahren erkannt und gebannt zu haben glaubte.

Tausend Fragen - eine Antwort: Helfen

So brachten sich im Vorfeld des Irak-Krieges nicht nur die Militärs und die Medien in Stellung, erhöhten nicht nur die Mineralölkonzerne »vorsorglich« die Preise, rüsteten die Baufirmen für den Wiederaufbau. Auch die Hilfe wurde fast schon generalstabsmäßig für die zu erwartenden Flüchtlingsströme organisiert. Während professionelle Desasterexperten das Terrain sondierten und den Zugang zu den antizipierten Opfern erkundeten, kümmerten sich die Zentralen um Spenden und Zuschüsse.

Die Maßnahmen sind einleuchtend. Und doch ist darin bei allem guten Willen die Humanisierung des Krieges gleich mitgedacht. Die Perfektionierung der Hilfstechnik - das ist das Paradoxe - hat ungeahnte Nebenwirkungen. Die vermeintliche Humanisierung des Krieges scheint diesen wieder führbar zu machen, und die Hilfsorganisationen werden ungewollt zum Teil einer Strategie, in der kriegerische Einsätze als politische Option legitimiert werden. Auch wenn sie sich für neutral erklären und in Kriegszeiten keine Zuschüsse von kriegführenden Parteien nehmen, bleibt das Dilemma offenkundig. Eines, das traurige Tradition hat. Bis heute beschäftigt sich das Internationale Rote Kreuz mit der Aufarbeitung seiner Geschichte im Nationalsozialismus. Unter Wahrung strikter Neutralität hatte man sich Zugang zu den KZs verschafft, um den Preis des Schweigens über die dortigen Vorgänge. Die konkrete Hilfe für die Opfer stand in keinem Verhältnis zur Hilfe, die das IRK für sie hätte leisten können, wenn es sein Wissen über die Vorgänge in den KZs offengelegt hätte.

Erste Hilfe für die Opfer ist notwendig. Aber kann den Opfern nur dann geholfen werden, wenn die Helfer »ungehinderten Zugang« haben? Seit der ersten »humanitären Intervention« in Somalia, für die sich die amerikanische Hilfsorganisation »Care« stark gemacht hatte, schrecken manche Helfer nicht davor zurück, für die Hilfskonvois militärischem Geleitschutz zu fordern. Das desaströse Ende der Somalia-Operation hätte solchen Forderungen eigentlich den Boden entziehen müssen. Militärs und Hilfsorganisationen verließen nach einem tödlichen Angriff der warlords Somalia Hals über Kopf und überließen das Land und die Menschen sich selbst. Aber wer verfügt schon über mehr als ein mediales Kurzzeitgedächtnis? Und so lebt die Forderung, weil sie so plausibel erscheint, immer wieder auf, nach dem Motto: Tausend Fragen - eine Antwort: Helfen.

Militarisierung der Hilfe

Mittlerweile wird die Hilfe immer öfter vom Militär selbst erledigt. Damit erscheint die humanitäre Katastrophe nur als technisch-logistische Herausforderung. Dass viele Helfer wenig vom Irak und seinen Menschen wissen, ist kein Hindernis. Eine solche Hilfe folgt vor allem technisch-ökonomischen Kriterien und erhebt gar nicht erst den Anspruch, in Kriegsopfern mehr als Objekte einer möglichst effizienten Versorgung zu sehen. Kriege und andere menschengemachte Katastrophen werden als unausweichlich angenommen, deren Folgen zu lindern sind.

Dieser humanitäre Pragmatismus schenkt dem Kontext wenig Beachtung. So kam es, dass im Kosovo die unter der Verfolgung von Milosevic entstandene illegale zivile Struktur durch die massive Präsenz ausländischer Hilfsorganisationen zerstört wurde. Wer sich auskannte, gut gebildet war oder über Beziehungen verfügte, landete bei einer ausländischen Hilfsorganisation als Übersetzer, Fahrer, Putzfrau. Hier verdiente man allemal mehr als in der einheimischen Selbstverwaltung.

Derselbe Braindrain lässt sich in Afghanistan verfolgen, wo allein die horrenden Mietsteigerungen in Kabul den wenigen einheimischen Zivilstrukturen das Überleben fast unmöglich machen. Ähnlich war es auch nach dem Kurdenaufstand im Nordirak infolge des ersten Golfkrieges. Die kurdischen Flüchtlinge, die versuchten, vor Husseins Garde in die Türkei zu fliehen, wurden durch ein schnell entstandenes Netz kurdischer Selbsthilfe in der Türkei versorgt. Ganze Kommunen organisierten die Nothilfe aus eigener Kraft. Bis auf wenige Ausnahmen fanden sich jedoch keine ausländischen Organisationen, die diese Bemühungen unterstützt hätten. Stattdessen lief das eingeübte Routineprogramm ab, das die vorhandenen Strukturen der Selbsthilfe geflissentlich übersah.

Care-Pakete für den Feind

Auch in den Vorbereitungen eines möglichen Irak-Krieges spielte die Frage nach ungehindertem Zugang eine entscheidende Rolle. Wurden ausländische Hilfsorganisationen bislang vom Hussein-Regime daran gehindert, ins Land zu kommen, so fürchten viele nun zu Recht, dass auch die kriegführenden Parteien unter der Ägide der USA wenig Interesse an unabhängigen Augenzeugen haben. Manche Hilfsorganisationen vermuten, dass die Militärs die Hilfsleistungen selbst übernehmen wollen, um in der irakischen Bevölkerung ihre Akzeptanz zu steigern. In Afghanistan wurde das bereits erprobt: Zuerst warfen amerikanische Flugzeuge gelbe Lebensmittelsäcke vom Himmel, die allerdings den tödlichen Clusterbomben zum Verwechseln ähnlich sahen. Inzwischen verteilen Soldaten im Osten Afghanistans, wo nach wie vor unbemerkt von der Weltöffentlichkeit Kämpfe stattfinden, unter vorgehaltenem Gewehr Lebensmittel.

So einleuchtend die Forderung vieler Hilfsorganisationen nach ungehindertem Zugang zu den Kriegsopfern ist, so problematisch ist sie auch. Nicht nur im Falle Irak bewegt sie sich in der herrschenden Logik, die zu erwartenden Flüchtlingsströme dirigieren und kontrollieren zu wollen; allerdings nicht zum Schutz der Betroffenen, sondern zum Schutz der Nachbarländer, die Menschen, die ohne Hab und Gut ins Land kommen, möglichst fernhalten wollen. Da viele Flüchtlinge in den Nachbarländern Familienangehörige besitzen, auf die sie sich stützen könnten, werden auf diese Weise auch Versuche zur Selbsthilfe unterbunden.

So haben alle Anrainerstaaten des Irak, darunter enge Verbündete der USA wie die Türkei, bereits erklärt, dass sie ihre Grenzen schließen und keine Flüchtlinge passieren lassen werden. Das widerspricht der UN-Flüchtlingskonvention, die allen Menschen, die vom Krieg bedroht sind, das Recht auf Flucht einräumt. Auch die Bundesregierung verweigert irakischen Flüchtlingen nach wie vor den gesicherten Flüchtlingsstatus mit dem Verweis auf »Binnenfluchtmöglichkeiten«.

Unter den gegebenen Umständen sind auch die Bedingungen für humanitäres Handeln gesetzt. Statt lokale Partner zu fördern, was sinnvoll und nachhaltig wäre, sind die internationalen Helfer gezwungen, mit eigenem Personal vor Ort tätig und in den Medien präsent zu sein. Aber nicht nur eine Medialisierung, sondern auch die Kommerzialisierung der Hilfe zeichnet sich ab. Fundraising und Zuschuss-Akquise droht zum ausschlaggebenden Effektivitätskriterium für Hilfsorganisation zu werden. Am Ende könnten Hilfsorganisationen stehen, die als - wenn auch professioneller - Reparaturbetrieb der herrschenden Machtbalance eingesetzt werden.

In den vergangenen 15 Jahren haben Hilfsorganisationen einen erheblichen Bedeutungszuwachs erlebt. Angesichts der Militarisierung in der Außenpolitik und der Kommerzialisierung des Sozialen könnten sie diesen Kredit schnell wieder verspielen. Letztlich stehen deshalb alle vor der Frage, ob sie sich an den ökonomischen und politischen Markt anpassen oder eigene Kriterien für eine sinnvolle Hilfe entwickeln. Einen solchen Verhaltenskodex gegen die scheinbar unüberwindliche Marktlogik durchzusetzen, könnte Hilfsorganisationen davor feien, zu reinen Hilfsabwicklern zu werden und damit ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Vom 28.-30. März 2003 führt medico international eine Konferenz unter dem Titel »Macht und Ohnmacht der Hilfe« in Frankfurt am Main durch, auf der die hier angerissenen Fragen ebenso diskutiert wie über Perspektiven einer anderen Hilfe nachgedacht werden sollen. Weitere Informationen unter www.medico.de

Katja Maurer ist Pressesprecherin von medico international

Aus: Freitag 14, 28. März 2003


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