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Folter in Irak an der Tagesordnung / The right to rule ourselves

Irak: Unterstützung für Widerstand wächst / Support for the Iraqi resistance is growing

Im Folgenden dokumentieren wir die deutsche Übersetzung eines Artikels, der am 19. November 2005 in der britischen Tageszeitung "The Guardian" erschienen war. Der Originalartikel folgt hinterher.



Von Haifa Zangana*

Irak: US-Armee mißhandelt Gefangene schwer, tötet Zivilisten und hindert Bagdader Machthaber nicht an Grausamkeiten. Unterstützung für Widerstand wächst

Das Foto eines älteren Irakers, der den verbrannten Körper eines Kindes aus Falludscha trägt, wurde in den vergangenen Tagen in der Debatte um den Einsatz chemischer Waffen oft gezeigt. Es wirkt wie die Kopie eines früheren Fotos, an das die Iraker sich erinnern, aus Halabja im März 1988. Beide Kinder waren Opfer chemischer Waffen: Das erste wurde von einem Diktator getötet, der weder Demokratie noch die Menschenrechte respektierte. Das zweite Kind wurde von US-Truppen umgebracht, die die prächtige Fahne eben dieser Prinzipien vor sich hertragen und gleichzeitig die Iraker mit weißem Phosphor und abgereichertem Uran überschütten und dabei von britischen Truppen unterstützt werden.

Das Bild aus Falludscha versinnbildlicht eine ungerechte Besatzung. Kürzlich konnten wir lesen, daß das, was die US-Truppen bei einer Razzia in einem Gebäude des Innenministeriums fanden, ihnen »die Sprache verschlagen hat«: Mehr als einhundert Gefangene, von denen viele »so aussahen, als seien sie brutal geschlagen« worden. Gefangene, die unterernährt waren. Und es gab Berichte über Tote, die »schwere Folterspuren« aufwiesen. Hussein Kamel, der stellvertretende Innenminister, war auch »sprachlos«. Diese zur Schau gestellte Verwunderung ist nur von der Lüge über angebliche Massenvernichtungswaffen zu überbieten. Folter in Untersuchungshaft, in Gefängnissen, Lagern und geheimen Zellen gibt es heute in Irak genauso wie zu Zeiten des Saddam-Regimes, weit über das Maß von Abu Ghraib hinaus.

Kampf ums Überleben

Während die US-amerikanische und die britische Regierung die 30 Monate der Besatzung damit verbracht haben, den Einsatz chemischer Waffen und von Folter zu rechtfertigen, waren die Iraker mit einem anderen Kampf beschäftigt: Sie mußten unter einer Besatzung überleben, die sich immer mehr verschärfte. Demokratie und Menschenrechte haben sie entsprechend dieser Situation definiert. Die Erfahrungen von kollektiver Bestrafung, von willkürlichen Festnahmen und Morden bestimmen das Bild.

Am 16. Oktober zum Beispiel stand eine Gruppe von Erwachsenen und Kindern um ein ausgebranntes Humvee-Fahrzeug am Stadtrand von Ramadi. Dort war ein Krater, den eine Bombe am Vortag hinterlassen hatte, als sie fünf US-Soldaten und zwei irakische Soldaten tötete. Einige der Kinder spielten Verstecken, andere lachten und bewarfen das Wrack mit Steinen, als ein US-amerikanisches F-15-Kampfflugzeug kam und in die Menge feuerte. Später erklärte das US-Militär, bei dem Luftangriff seien 70 Aufständische getötet worden, von zivilen Opfern habe man keine Kenntnis.

»Aufständische« Kinder

Unter den getöteten »Aufständischen« war auch der sechsjährige Muhammad Salih Ali, der in einer Plastiktüte beerdigt wurde. Darin hatten seine Angehörigen das zusammengetragen, was sie für Überreste seines Körpers hielten. Auch der vierjährige Saad Ahmed Fuad wurde getötet, ebenso seine achtjährige Schwester Haifa. Sie wurde nur mit einem Bein beerdigt, weil ihre Familie das andere Bein nicht mehr finden konnte.

Die US-Streitkräfte setzen immer häufiger die Luftwaffe ein, um ihre eigene Opferzahl zu verringern. Außerdem kooperieren sie mit den irakischen Streitkräften bei »Search and destroy«-Operationen (Suchen und Zerstören), mit denen sie sich für zuvor erfolgreich gegen sie durchgeführte Angriffe rächen. Oder sie wollen die Bevölkerung im Rahmen des US-inszenierten politischen Prozesses im Irak einschüchtern.

Den meisten Irakern ist aber der politische Zeitplan, den die Besatzer vorgegeben haben, egal. Angefangen von der sogenannten Souveränitätsübergabe über das merkwürdige dreimonatige Konfessions- und Ethniengerangel um die Interimsregierung bis hin zur Verkündung eines »Ja« zum Verfassungsentwurf durch Condoleezza Rice nur wenige Stunden, nachdem die Wahllokale geschlossen hatten. Die meisten Iraker meinen vielmehr, daß all dies ihre Aufmerksamkeit nur von den wesentlichen Fragen ablenken soll: von der Besatzung, der Korruption, der Ausplünderung irakischer Ressourcen und dem Versagen der Interimsregierung in Sachen Menschenrechte.

Kürzlich waren in einem Bericht von Human Rights Watch neue Details über die Folterung von Gefangenen durch die US-Streitkräfte im Irak zu lesen. Danach wurde in der Militärbasis Mercury, in der Nähe von Falludscha, die Mißhandlung nicht nur geflissentlich übersehen, sondern manchmal sogar angeordnet. Der Bericht beschreibt schwere Prügel für die Gefangenen als Routine. Außerdem wurden auf ihre Augen und die Haut brennende Chemikalien aufgetragen, damit sie nachts leuchteten. Tausende waren mehr als ein Jahr in Haft, ohne Anklage, ohne Gerichtsverfahren.

Frauen werden von den US-Soldaten als Geiseln genommen, um ihre flüchtigen männlichen Angehörigen zur Aufgabe oder zum Eingeständnis zu zwingen, daß sie terroristische Straftaten verübt haben. Sarah Taha Al Dschumaili (20) stammt aus Falludscha, sie war zweimal inhaftiert. Am 8. Oktober beschuldigte man sie, die Tochter von Musab Al Sarkawi zu sein, obwohl ihr Vater, bekannt als Mitglied einer panarabischen Partei, schon seit mehr als zwei Monaten in US-Haft war. Am 19. Oktober wurde sie wieder festgenommen und beschuldigt, Terroristin zu sein. Hunderte demonstrierten, Arbeiter streikten für ihre Freilassung. Das Innenministerium hat erklärt, daß 122 Frauen in Haft bleiben würden. Die neuartige Anklage gegen sie lautet, sie seien »potentielle Selbstmordattentäterinnen«.

Legitimer Widerstand

Während die weiträumigen US-Militäroperationen anhalten, ist die irakische Gesundheitsversorgung am Ende. Ärzte, Krankenhauspersonal sind nicht mehr in der Lage, mit der sich verschärfenden humanitären Krise fertigzuwerden. Es ist kein Wunder, daß immer mehr Iraker den Widerstand unterstützen.

Bewaffneter Widerstand steht im Einklang mit der 1978 von der UN-Vollversammlung verabschiedeten Resolution, wonach der »Unabhängigkeitskampf der Völker (…) gegen eine fremde Besatzungsmacht (…) legitim« ist. Und zwar »mit allen vorhandenen Mitteln, insbesondere mit dem bewaffneten Kampf«. Der Nationale Irakische Gründungskongreß (INFC) ist eine Dachorganisation von Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft und führt den politischen Widerstand. Es gibt zivilen und gesellschaftlichen Widerstand, in Moscheen, in Frauenorganisationen, Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften, die sich international mit Antikriegsgruppen und der Bewegung gegen die Globalisierung verbünden.

Die meisten Iraker sind überzeugt, daß sie ein Recht auf mehr haben als auf den bloßen Schein von Unabhängigkeit. Was wir aus der Geschichte in Vietnam gelernt haben, ist, daß ein hartnäckiger, nationaler Widerstand die mächtigsten Armeen in die Knie zwingen kann. Das lernt man jetzt auch im Irak.

* Haifa Zangana ist irakische Schriftstellerin und war Gefangene unter dem Regime von Saddam Hussein.

(Übersetzung aus dem Englischen: Karin Leukefeld)

Aus: junge Welt, 30.11.2005



The right to rule ourselves

Faced with US torture, killing and collective punishment of civilians, support for the Iraqi resistance is growing

by Haifa Zangana

The photograph of an elderly Iraqi carrying the burned body of a child at Falluja, widely shown during the chemical weapons controversy of recent days, is almost a copy of an earlier one that Iraqis remember - from Halabja in March 1988. Both children were victims of chemical weapons: the first killed by a dictator who had no respect for democracy and human rights, the second by US troops, assisted by the British, carrying the colourful banner of those principles while sprinkling Iraqis with white phosphorus and depleted uranium.

The Falluja image is emblematic of an unjust occupation. We read last week that US troops were "stunned by what they found" during a raid on a ministry of interior building: more than a hundred prisoners, many of whom "appeared to have been brutally beaten" and to be malnourished. There were also reports of dead bodies showing "signs of severe torture". Hussein Kamel, the deputy interior minister, was "stunned" too. This feigned surprise is a farce second only to the WMD lie. Torture has continued as under Saddam's regime in detention centres, prisons, camps and secret cells well beyond Abu Ghraib.

While the US and British governments have spent the 30 months of occupation arguing for the legality of chemical weapons and the "usefulness" of torture to extract information, Iraqis have been engaged in a different struggle: to survive the increasingly harsh occupation, and to define democracy and human rights accordingly. Experiences of collective punishment, random arrest and killing are the defining features.

On October 16, for example, a group of adults and children gathered around a burned Humvee on the edge of Ramadi. There was a crater in the road, left by a bomb that had killed five US soldiers and two Iraqi soldiers the previous day. Some of the children were playing hide and seek, and others laughing while pelting the vehicle with stones, when a US F-15 fighter jet fired on the crowd. The US military said subsequently it had killed 70 insurgents in air strikes, and knew of no civilian deaths.

Among the "insurgents" killed were six-year-old Muhammad Salih Ali, who was buried in a plastic bag after relatives collected what they believed to be parts of his body; four-year-old Saad Ahmed Fuad; and his eight-year-old sister, Haifa, who had to be buried without one of her legs as her family were unable to find it.

US forces increasingly use air strikes to reduce their own casualties. They also work with Iraqi forces on search-and-destroy missions to retaliate after a successful attack on their troops, or to intimidate the population ahead of a US-choreographed political process.

Most Iraqis are indifferent to the political timetable imposed by the occupiers - from the nominal handover of sovereignty to the bizarre three months of sectarian and ethnic wrangling about the interim government and the declaration of a "yes" vote on the draft constitution by Condoleezza Rice within hours of the ballot boxes closing. They think the whole process is intended to divert their attention from the main issues: the occupation, corruption, pillaging of Iraq's resources, and the interim government's failure on human rights.

A recent Human Rights Watch report gave fresh details of torture of detainees by US forces in Iraq. At a military base near Falluja, Mercury, abuse was not only overlooked but sometimes ordered. The report describes routine, severe beatings of prisoners, and the application of burning chemicals to detainees' eyes and skin, to make them glow in the dark. Thousands have been kept for more than a year without charge or trial, including the writer Muhsin al-Khafaji, who was arrested in May 2003.

Women are taken as hostages by US soldiers to persuade fugitive male relatives to surrender or confess to terrorist acts. Sarah Taha al-Jumaily, 20, from Falluja, was arrested twice: on October 8 she was accused of being the daughter of Musab al-Zarqawi, despite her father, a member of a pan-Arab party, having been detained by US troops for more than two months; and on October 19 she was arrested and accused of being a terrorist. Hundreds of people demonstrated, and workers went on strike to demand her release. The interior ministry states that 122 women remain detained, charged with the novel crime of being "potential suicide bombers".

As large-scale US-led military operations continue, the health situation on the ground is at breaking point. The Iraqi health infrastructure, doctors and hospital staff are unable to cope with the deepening humanitarian crisis. No wonder more Iraqis are supporting the resistance.

Armed resistance is in accordance with the 1978 UN general assembly resolution that reaffirmed "the legitimacy of the struggle of peoples for independence ... from ... foreign occupation by all available means, particularly armed struggle". The Iraqi National Foundation Congress (INFC), an umbrella group of parties and civil society organisations, is leading political resistance. There is also civil and community resistance, involving mosques, women's organisations, human-rights groups and unions, which are linking up with international anti-war groups and anti-globalisation movements.

Most Iraqis believe that they have a right to more than a semblance of independence. The lesson history taught us in Vietnam, that stubborn national resistance can wear down the most powerful armies, is now being learned in Iraq.

Haifa Zangana is an Iraqi-born novelist and former prisoner of Saddam's regime

Saturday November 19, 2005, The Guardian



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