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Wikileaks bringt USA in Erklärungsnot

Öffentlichkeit erwartet Reaktion Washingtons *

Die Enthüllungen von 400 000 Dokumenten zum Irak-Krieg durch das Internetportal Wikileaks haben die USA in Erklärungsnot gebracht.

Der Golfkooperationsrat forderte Washington auf, eine Untersuchung zu möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuleiten. Die USA seien für »alle Übergriffe und Verbrechen ihrer Soldaten in Irak verantwortlich«, hieß es in einer Erklärung des Generalsekretärs des Rates, Abdulrahman bin Hamad al-Attija, aus der arabische Medien zitierten. Zum Golfkooperationsrat gehören Saudi-Arabien, Bahrain, Kuwait, Oman, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate - zumeist langjährige Partner oder Verbündete der USA.

Die Zeitung »China Daily« zog die Glaubwürdigkeit der US-Regierung als Verteidigerin der Menschenrechte in Zweifel. »Das Ausmaß der Verbrechen sollte jeden rechtschaffenen Menschen wütend machen«, schrieb die englischsprachige chinesische Zeitung. Es setze »wieder einmal ein großes Fragezeichen hinter das von den USA selbst verbreitete Bild als Weltmeister der Menschenrechte«.

Der Sprecher des britischen Premierministers David Cameron sagte am Montag (25. Okt.) in London, die Vorwürfe über die Misshandlungen von Gefangenen müssten untersucht werden. »Unsere Position ist eindeutig: Misshandlungen von Gefangenen darf es nicht geben, und wir werden den Vorwürfen natürlich nachgehen«, sagte der Sprecher. Am Sonntag (24. Okt.) hatte Vizepremier Nick Clegg die enthüllten Berichte als »schockierend« und »schwerwiegend« bezeichnet. Die Menschen erwarteten eine Reaktion der US-Regierung.

Wikileaks-Gründer Julian Assange sagte dem israelischen Channel 2, er sorge sich um seine Sicherheit. »Ich fürchte nicht um mein Leben, aber wir mussten zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen treffen«, sagte er dem Sender in London. Dem Kanal zufolge wurde das Gespräch in einem »muslimischen Kulturzentrum« geführt. Assange sei von Leibwächtern begleitet worden. Der Australier rechnet nach eigenen Worten damit, dass die USA versuchen könnten, ihn und andere zu ergreifen und der US-Gerichtsbarkeit zu unterstellen.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Oktober 2010


Wem nützt es?

Wikileaks-Dokumente zum Irak-Krieg

Von Rainer Rupp **


Die Auseinandersetzung zwischen der Internet-Enthüllungsseite WikiLeaks und dem Pentagon über die Veröffentlichung von 400000 angeblichen Geheimdokumenten hat in den letzten Tagen weltweit die Schlagzeilen dominiert. Inzwischen sollen 120 Experten für das Pentagon den für die US-amerikanische Sicherheit entstandenen Schaden bemessen. Der allerdings scheint eher vernachlässigbar, denn die WikiLeaks-Dokumente waren solche der niedrigsten Geheimhaltungsstufe, was etwa »nur für den Dienstgebrauch« entspricht. Auch die Namen der Akteure, die offensichtlich in die in den Dokumenten beschriebenen Kriegsverbrechen verwickelt waren, waren von WikiLeaks oder von dem Lieferanten geschwärzt. Daher kann niemand zur Verantwortung gezogen werden. Zudem stimmt es, wenn das Pentagon erklärt, daß es sich bei dem in den Papieren Dargelegten lediglich um Ereignisse handele, die bereits durch Nachrichtenmeldungen, Bücher und Dokumentarfilme bestens ausgeleuchtet worden seien.

Die Wiki-Veröffentlichungen führen in der Tat nicht zu einem neuen Verständnis der verbrecherischen Rolle der USA in Irak, sondern höchsten zu einer Aufbesserung ihres Ansehens in der Welt. So machten die Medien rund um den Globus großes Tamtam um die Meldung, daß durch die willkürliche Eskalation der Gewalt an den Straßenkontrollposten im Irak von 2003 bis 2009 etwa 750 Zivilisten von den US-Besatzern erschossen wurden. Die von seriösen westlichen Organisationen auf 500000 bis eine Million geschätzten zivilen Opfer des US-Krieges und der Okkupation scheinen plötzlich vergessen.

Das einzige Überraschende in den jüngsten Veröffentlichungen ist die Tatsache, daß sie sehr geschickt einen anderen Feind aus Washingtons »Achse des Bösen« in den Fokus des amerikanischen Volkszorns bringen. Die »Geheimdokumente« stecken nämlich voller angeblicher Belege für die Vorwürfe der US-Führung gegen Teheran, mit denen die Falken in Israel und Washington einen Krieg gegen Iran rechtfertigen wollen. So tauchen in dem WikiLeaks-Konvolut z.B. immer wieder Meldungen auf, Iran bilde irakische Aufständische militärisch aus und versorge sie mit Waffen und Material zum Kampf gegen die US-Truppen im Zweistromland. Das Mullah-Regime steckt demnach also hinter den Mördern »unserer« US-Boys, der Vorkämpfer für Demokratie. Wenn das kein Kriegsgrund ist, was dann? Die Tatsache, daß sich das Pentagon gegen die Veröffentlichung dieser Dokumente wehrte, macht sie natürlich besonders »glaubwürdig«, wie die New York Times stellvertretend für viele andere Medien weltweit hervorhebt.

Stellt man die Frage, »Cui bono?«, »Wem nützt es?«, dann bleiben die Kriegsbefürworter in Washington oder Israel, und der Verdacht, daß WikiLeaks-Gründer Julian Assange als nützlicher Idiot benutzt wurde. Da jedoch die Dokumente Washington zumindest in der Öffentlichkeit Ärger bereitet haben, richtet sich das Augenmerk auf falsche Freunde der USA in Israel.

** Aus: junge Welt, 26. Oktober 2010


WikiLeaks: 109,000 civilian deaths from US-led invasion of Iraq ***

In what is widely believed to be the biggest disclosure of secret information in history, WikiLeaks revealed about 400,000 secret war logs on Friday night.

The leaked documents touch upon a wide range of issues concerning the United States-led invasion of Iraq. They made public details of civilian deaths, torture of detainees and summary executions. For example, the deaths of Iraqi civilians are apparently much bigger than the numbers given by the US and British authorities. While both countries insist that no official record of civilian casualties exists, the leaked documents suggest that there were more than 109,000 violent deaths from all causes between 2004 and the end of 2009.

The magnitude of the crimes should make every righteous person angry. It again puts a big question mark against the US self-proclaimed image as the world human rights champion. For years, the US has been wielding the banner of human rights to criticize others, especially the developing countries. It regularly publishes reports on human rights records in other countries in the world.

However, the US refuses to either clarify or rectify its own human rights violations as recorded by the WikiLeaks documents. Instead, US officials expressed anger and condemnation at the leaks. Hours before being posted on the WikiLeaks website, the documents were made available to several international media organizations, including the Associated Press, which claimed that the documents appear to be authentic.

The leaked documents let the world see through the unilateralism and double standards the US has used to trumpet human rights worldwide. Instead of condemning the war crimes, the US authorities have done everything in their power to suppress public opinion. Days before Friday's disclosure, the Pentagon urged news organizations not to publish classified US documents due to be released by WikiLeaks.

The US will lose credibility if it cannot face its own human rights violations squarely.

On the other hand, the disclosure gives the world a chance to see the real picture of the US-led war in Iraq, which otherwise would have been covered up.

It increases international concerns about the future of Iraq. According to the secret war logs, Iraq, weak and divided, could drift into chaos once US forces pull out completely next year.

As instigator of the two wars, the US should adjust its strategies in Iraq and Afghanistan and make greater efforts to convince the rest of the world, as it claims, that the governments in the two countries will be fully capable of managing their own lands. The US also has moral obligations to help post-war reconstruction and provide financial support.

*** China Daily, 10/25/2010; www.chinadaily.com.cn


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