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"Die USA haben den Irakkrieg verloren" / "The U.S. Has Lost the Iraq War"

Von Immanuel Wallerstein / by Immanuel Wallerstein

Es ist vorbei. Für einen Sieg der USA im Irakkrieg wären drei Dinge erforderlich: Sie müssten den irakischen Widerstand besiegen, eine stabile Regierung im Irak errichten, die den USA freundlich gesinnt wäre und sich die Unterstützung des amerikanischen Volkes erhalten, während die ersten beiden Aufgaben erledigt werden. Keine dieser drei Aufgaben scheint noch lösbar. Erstens glaubt das Militär selbst nicht mehr an einen Sieg über den Widerstand. Zweitens geht die Wahrscheinlichkeit, dass sich die irakischen Politiker auf eine Verfassung einigen können, gegen Null, wodurch auch eine zentrale Regierung mit einem Minimum an Stabilität so gut wie ausgeschlossen ist. Drittens wendet sich die US-amerikanische Öffentlichkeit gegen den Krieg, weil sie kein „Licht am Ende des Tunnels“ erkennen kann.

Im Ergebnis befindet sich das Bush-Regime in einer unmöglichen Lage. Gerne würde es in würdiger Form den Rückzug antreten und dabei den Anschein eines Sieges vortäuschen. Wenn es dies jedoch versucht, wird es sich den wilden Zorn und die Enttäuschung der Kriegsbefürworter zuhause zuziehen. Tut es dies nicht, zieht es den Zorn der Rückzugswilligen auf sich. Am Ende wird es keine der beiden Seiten zufrieden stellen und maßlos das Gesicht verlieren. Man wird sich seiner in Schande erinnern.

Schauen wir uns die Ereignisse an: General George Casey, der kommandierende General der US-Truppen im Irak, hatte diesen Monat vorgeschlagen, dass es möglich wäre, die US-Truppen im Irak im nächsten Jahr um 30000 Soldaten zu verringern, vorausgesetzt, die Truppen der irakischen Regierung hätten die Lage im Griff. Diese Haltung wurde auf der Stelle von den Vertretern der Kriegspolitik angegriffen, worauf das Pentagon die Aussage dahingehend änderte, dass dies möglicherweise nicht geschehen würde, denn die irakischen Truppen wären noch nicht in der Lage, die Situation zu bewältigen. Dies trifft sicher zu. Zur gleichen Zeit tauchten in den führenden Zeitungen Berichte auf, die darauf hindeuteten, dass sich das militärische Können der aufständischen Truppen mit der Zeit bemerkenswert erhöht habe. Die höhere Anzahl getöteter US-Soldaten weist jedenfalls in diese Richtung.

In der Debatte um die irakische Verfassung gibt es zwei Hauptprobleme. Zum einen geht es darum, in welchem Ausmaß die Verfassung die Regeln des Islam institutionalisieren wird. In dieser Frage wäre mit genügend Zeit und gegenseitigem Vertrauen ein Kompromiss denkbar, der die meisten Beteiligten mehr oder weniger zufrieden stellen würde. Das zweite Problem ist jedoch ziemlich unlösbar. Die Kurden wollen immer noch einen eigenen Staat, und sie werden sich nicht mit weniger als einem föderativen Staatsaufbau zufrieden geben, in dem ihre Unabhängigkeit, die Erhaltung ihrer Milizen, sowie die Kontrolle über Kirkuk als ihrer Hauptstadt und den Ölvorkommen als Beute garantiert werden. Bei den Schiiten gibt es zwei Gruppen: die einen möchten ebenso wie die Kurden einen föderativen Staatsaufbau, die anderen ziehen eine starke Zentralregierung vor, vorausgesetzt, dass sie sie mitsamt ihrer Ressourcen kontrollieren können und dass sie islamisch geprägt ist. Die Sunniten versuchen wiederum verzweifelt, einen Einheitsstaat aufrechtzuerhalten, und zwar einen, in dem sie zumindest ihren gerechten Anteil erhalten. Mit Sicherheit wollen sie keinen Staat, der von einer Auslegung des Islam nach der Glaubensrichtung der Schiiten geprägt ist.

Die USA haben versucht, einen Kompromiss zu fördern, es ist jedoch schwierig vorstellbar, wie dieser aussehen könnte. Zurzeit sind zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder übertünchen die Iraker ihre Differenzen für eine kurze Zeit oder die Verhandlungen brechen direkt zusammen. Keines dieser beiden Ergebnisse erfüllt die Bedürfnisse der USA. Natürlich gibt es einen Ausweg aus der festgefahrenen Situation: Die irakischen Politiker könnten sich mit einer anti-amerikanischen nationalistischen Offensive dem Widerstand anschließen und dabei wenigstens unter dem nicht-kurdischen Bevölkerungsteil eine Einigkeit erzielen. Einen solche Entwicklung ist nicht auszuschließen und natürlich vom Standpunkt der USA gesehen ein Alptraum.

Für das Bush-Regime ergibt sich jedoch das schlechteste Bild an der Heimatfront. Die Zustimmung zu Bushs Führung des Irakkriegs ist auf 36 Prozent zurückgegangen. Diese Ziffer sinkt seit einiger Zeit kontinuierlich, ein weiterer Rückgang ist zu erwarten. Denn der arme George Bush muss sich jetzt mit der Bewachung durch Cindy Sheehan auseinandersetzen, der 48-jährigen Mutter eines Soldaten, der vor einem Jahr im Irak getötet wurde. Erzürnt über Bushs Erklärung, die US-Soldaten seien für eine „gute Sache“ gestorben, ging sie nach Crawford in Texas und bat darum, den Präsidenten zu sprechen. Er sollte ihr erklären, für welche „gute Sache“ ihr Sohn gestorben sei.

George W. Bush hat natürlich nicht den Mut gehabt, sie zu treffen. Er schickte andere vor. Sie antwortete, dass ihr dies nicht genug sei, das sie Bush persönlich sprechen wolle. Sie hat jetzt erklärt, dass sie ihre Wache vor Bushs Haus entweder solange fortsetzen will, bis er sich mit ihr trifft oder bis sie verhaftet wird. Von der Presse wurde sie zunächst ignoriert. Jetzt haben sich jedoch andere Mütter von Soldaten im Irak ihr angeschlossen. Sie bekommt mehr und mehr moralische Unterstützung von Menschen, die vorher den Irakkrieg befürwortet hatten. Für die landesweite Presse ist sie eine Berühmtheit geworden. Einige vergleichen sie sogar mit Rosa Parks, der schwarzen Frau aus Montgomery im Staat Alabama, die sich vor einem halben Jahrhundert geweigert hatte, im hinteren Teil des Busses zu sitzen. Dies war der Funke, der dem Kampf für die Rechte der Schwarzen allgemeine Geltung verschaffte.

Bush will sich nicht mit ihr treffen, weil er weiß, dass er ihr nichts zu sagen hat. Es wäre ein aussichtloses Unterfangen, sie zu treffen. Das gleiche gilt aber, wenn er sich nicht mit ihr trifft. Die nachdrückliche Forderung nach einem Rückzug aus dem Irak wird zur vorherrschenden Meinung. Dies liegt nicht daran, dass die Öffentlichkeit in den USA das Bild einer imperialistischen Machtausübung der USA im Irak teilt. Es liegt daran, dass es am Ende des Tunnels kein Licht zu geben scheint. Das Licht könnte höchstens so aussehen, wie es ein Karikaturist der kanadischen Calgary Sun vor kurzem in einer treffenden Zeichnung darstellte: Ein US-Soldat in einem dunklen Tunnel nähert sich jemandem, an dessen Körper Sprengstoff befestigt ist. Das Licht kommt von dem Streichholz, das der Soldat an die Zündschnur hält. In den Monaten nach den Angriffen in London und nachdem eine hohe Anzahl von US-Soldaten im Irak getötet wurde, ist dies das einzige Licht, das die Öffentlichkeit der USA erkennen kann. Sie wollen heraus aus dieser Situation. Bush steckt in einem unlösbaren Dilemma. Der Krieg ist verloren.

Kommentar Nr. 167, 15. August 15 2005

Übersetzung ins Deutsche: Doris Werder


"The U.S. Has Lost the Iraq War"

Commentary No. 167, Aug. 15, 2005

by Immanuel Wallerstein

It's over. For the U.S. to win the Iraq war requires three things: defeating the Iraqi resistance; establishing a stable government in Iraq that is friendly to the U.S.; maintaining the support of the American people while the first two are being done. None of these three seem any longer possible. First, the U.S. military itself no longer believes it can defeat the resistance. Secondly, the likelihood that the Iraqi politicians can agree on a constitution is almost nil, and therefore the likelihood of a minimally stable central government is almost nil. Thirdly, the U.S. public is turning against the war because it sees no "light at the end of the tunnel."

As a result, the Bush regime is in an impossible position. It would like to withdraw in a dignified manner, asserting some semblance of victory. But, if it tries to do this, it will face ferocious anger and deception on the part of the war party at home. And if it does not, it will face ferocious anger on the part of the withdrawal party. It will end up satisfying neither, lose face precipitously, and be remembered in ignominy.

Let us see what is happening. This month, Gen. George Casey, the U.S. commanding general in Iraq, suggested that it may be possible to reduce U.S. troops in Iraq next year by 30,000, given improvements in the ability of the Iraqi government's armed forces to handle the situation. Almost immediately, this position came under attack from the war party, and the Pentagon amended this statement to suggest that maybe this wouldn't happen, since maybe the Iraqi forces were not yet ready to handle the situation, which is surely so. At the same time, stories appeared in the leading newspapers suggesting that the level of military sophistication of the insurgent forces has been growing steadily and remarkably. And the increased rate of killings of U.S. soldiers certainly bears this out.

In the debate on the Iraqi constitution, there are two major problems. One is the degree to which the constitution will institutionalize Islamic law. It is conceivable that, given enough time and trust, there could be a compromise on this issue that would more or less satisfy most sides. But the second issue is more intractable. The Kurds, who still really want an independent state, will not settle for less than a federal structure that will guarantee their autonomy, the maintenance of their militia, and control of Kirkuk as their capital and its oil resources as their booty. The Shiites are currently divided between those who feel like the Kurds and want a federal structure, and those who prefer a strong central government provided they can control it and its resources, and provided that it will have an Islamic flavor. And the Sunnis are desperate to maintain a united state, one in which they will minimally get their fair share, and certainly don't want a state governed by Shia interpretations of Islam.

The U.S. has been trying to encourage some compromise, but it is hard to see what this might be. So, two possibilities are before us right now. The Iraqis paper over the differences in some way that will not last long. Or there is a more immediate breakdown in negotiations. Neither of these meets the needs of the U.S. Of course, there is one solution that might end the deadlock. The Iraqi politicians could join the resisters in a nationalist anti-American thrust, and thereby unite at least the non-Kurd part of the population. This development is not to be ruled out, and of course is a nightmare from the U.S. point of view.

But, for the Bush regime, the worst picture of all is on the home front. Approval rating of Bush for the conduct of the Iraqi war has gone down to 36 percent. The figures have been going steadily down for some time and should continue to do so. For poor George Bush is now faced with the vigil of Cindy Sheehan. She is a 48-year-old mother of a soldier who was killed in Iraq a year ago. Incensed by Bush's statement that the U.S. soldiers died in a "noble cause," she decided to go to Crawford, Texas, and ask to see the president so that he could explain to her for what "noble cause" her son died.

Of course, George W. Bush hasn't had the courage to see her. He sent out emissaries. She said this wasn't enough, that she wanted to see Bush personally. She has now said that she will maintain a vigil outside Bush's home until either he sees her or she is arrested. At first, the press ignored her. But now, other mothers of soldiers in Iraq have come to join her. She is getting moral support from more and more people who had previously supported the war. And the national press now has turned her into a major celebrity, some comparing her to Rosa Parks, the Black woman whose refusal to move to the back of the bus in Montgomery, Alabama a half-century ago was the spark that transformed the struggle for Black rights into a mainstream cause.

Bush won't see her because he knows there is nothing that he can say to her. Seeing her is a losing proposition. But so is not seeing her. The pressure to withdraw from Iraq is now becoming mainstream. It is not because the U.S. public shares the view that the U.S. is an imperialist power in Iraq. It is because there seems to be no light at the end of the tunnel. Or rather there is a light, the light an acerbic Canadian cartoonist for the Calgary Sun drew recently. He shows a U.S. soldier in a dark tunnel approaching someone to whose body is attached an array of explosives. The light comes from the match he is holding to the wick that will cause them to explode. In the month following the attacks in London and the high level of U.S. deaths in Iraq, this is the light that the U.S. public is beginning to see. They want out. Bush is caught in an insoluble dilemma. The war is lost.

Source: http://fbc.binghamton.edu


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