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Sehnsucht nach dem Wechsel

Die gepeinigten Menschen Iraks verbinden mit der Wahl Hoffnungen

Von Karin Leukefeld, Sulaimaniya *

Vier Tage vor der Parlamentswahl im Irak sind am Mittwoch (3. März) bei drei Anschlägen in der mittelirakischen Stadt Baakuba mindestens 33 Menschen getötet worden. Regierungschef Nuri al-Maliki sagte, die »Terroristen« wollten die Wahlen »torpedieren«. Im kurdischen Norden dagegen ist es vergleichsweise ruhig.

Zum ersten Mal seit Tagen scheint wieder die Sonne in Sulaimaniya. Die Hauptstadt der gleichnamigen nordirakischen Kurdenprovinz zählt rund eine Million Einwohner und gilt als die intellektuelle und liberale Metropole der autonomen Kurdenregion in Irak. Mindestens 41 Abgeordnete werden die drei Kurdenprovinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniya im neuen Parlament in Bagdad vertreten, 17 davon kommen aus Sulaimaniya.

»Das müssen nicht alles Kurden sein«, betont Mohammed Taher, der das Büro der örtlichen Wahlkommission leitet. Etliche der neun Parteien, die in Sulaimaniya antreten, hätten arabische oder christliche Kandidaten aufgestellt. Die Auswahl auf dem Stimmzettel reicht von der Turkmenen-Partei über zwei Islamische und verschiedene Irakisch-Nationale Listen bis zur Kurdistan-Allianz. Letztere besteht aus den beiden größten und ältesten Parteien in den Kurdengebieten, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP, Vorsitzender Masud Barzani) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK, Vorsitzender ist Staatspräsident Dschalal Talabani). Sie koaliert mit den kleineren Parteien von Kommunisten und Sozialisten. Hinzu kommen sechs christliche Parteien, die auf den Stimmzetteln aller 18 Provinzen Iraks zu finden sind. So soll sichergestellt sein, dass Christen überall wählen können.

Häuser, Wände, Autos und Schaufenster sind mit Plakaten und Fahnen der verschiedenen Parteien und Kandidaten geschmückt. Über den Straßen hängen Leinen mit Parteifähnchen kreuz und quer: grün für die PUK, gelb für die KDP, rot für die Kommunisten, weiß oder braun für die Islamisten und blau für Goran.

Bisher sei der Wahlkampf ruhig verlaufen, betont Taher. Einige jugendliche Hitzköpfe konkurrierender Parteien hätten sich geprügelt, manche überklebten Plakate der anderen, was jeweils mit Geldstrafen geahndet wird.

Besonders scharf ist die Auseinandersetzung zwischen der PUK und der neuen Oppositionsbewegung Goran (Wechsel), die bei den Wahlen zum autonomen Kurdenparlament im Sommer in Sulaimaniya auf Anhieb 25 Sitze erringen konnte. Bis dahin beherrschten KDP und PUK die Region, die Widerspruch weder kannten noch duldeten.

PUK ist nur an ihren Geschäften interessiert

Doch der Wind hat sich gedreht. Goran ist heute Hoffnungsträger für viele Kurden, die sich von der kurdischen Politelite in Bagdad und Erbil vergessen und verraten fühlen. Ein selbstherrlicher Führungsstil, Vetternwirtschaft und dreiste Selbstbedienungspolitik, die nicht nur in Bagdad, sondern auch in der Kurdenregion um sich greift, hatten 2006 zum Bruch in der PUK und 2007 zur Gründung von Goran geführt. Mit ihrer Kritik trifft die Bewegung so sehr ins Schwarze, dass sich ihr viele ehemalige PUK-Funktionäre angeschlossen haben. Auch im Ausland hofft man auf Zuspruch.

»Die Sonne ist gerade richtig für unsere Kundgebung«, freut sich Sarko Osman, Kandidat der Goranliste von Sulaimaniya, als er in seinen Wagen steigt. Ein Bus mit meist jungen Anhängern folgt ihm, ebenfalls mit blauen Fahnen geschmückt. Auf der Fahne ist eine Kerze zu sehen, darunter steht in kurdischer, arabischer, englischer und kurdischer Schrift der Name der Bewegung.

»Die Kerze soll zeigen, dass wir für Aufklärung, Hoffnung und Zukunft stehen«, erklärt Sarko Osman in fließendem Englisch. Er hat Politikwissenschaften in Damaskus studiert, heiratete und ging nach London, bevor er 2003 wieder in seine kurdische Heimat zurückkehrte. Zwei Jahre arbeitete er in Bagdad im Pressebüro für den PUK-Vorsitzenden und irakischen Präsidenten Dschalal Talabani, 2007 schloss er sich der neuen Bewegung an. »Die PUK-Politiker kümmern sich nicht um die einfachen Leute, reden nicht mit den Leuten im Bazar, in den Dörfern, sie wissen überhaupt nicht, was für Probleme die Menschen haben. Alles, was sie interessiert, sind ihre Geschäfte und ihr Geldbeutel.«

Die Fahrt geht nach Chamchamal, etwa 40 km von Kirkuk entfernt. Die breite Straße Richtung Westen ist voller Schlaglöcher. Gelegentlich stoppen Viehherden den Verkehr, ziehen dann gemächlich am Straßenrand entlang und verschwinden über saftig grüne Wiesen hinter Dörfern und einzeln gelegenen Höfen. Der Winterregen lässt die Natur in der weiten, sanft hügeligen Landschaft farbenprächtig erblühen, auf den entfernt gelegenen Bergen strahlen schneebedeckte Gipfel in der Sonne.

Kurz vor Chamchamal geht es an Werkstätten und einfachen Häusern vorbei. Arbeiter schweißen und hämmern an Autos. Kinder und Frauen sitzen auf den Türschwellen. Vor einem mit Goran-Fahnen bedeckten Eingang wird Halt gemacht, Osman steigt aus, schüttelt Hände, schon geht es weiter zum nächsten Goran-Büro. Das liegt am Stadtrand von Chamchamal in einer ärmlichen Siedlung, die Bewohner sind Flüchtlinge aus Kirkuk.

Kirkuk muss Probleme im Dialog lösen

»Diese Häuser wurden 1991 ohne Genehmigung von den Leuten selber gebaut«, erklärt Osman zwischen Händeschütteln und Fragenbeantworten. »Vorher lebten sie in Zelten.« Die Menschen flohen nach dem Ende des Irak-Iran-Krieges 1988/89 aus ihrer Heimat Kirkuk, doch viele wollen heute nicht mehr zurückkehren, erzählt Sarko später auf der Fahrt zum Kundgebungsort. Während die Älteren Kirkuk vermissten und gerne wieder dort leben wollten, hätte die junge Generation keine Erinnerung an Kirkuk und fühle sich in Chamchamal und der Provinz Sulaimaniya zu Hause. »Wir müssen realistisch sein«, sagt der Goran-Kandidat, »die jungen Leute haben ihre Wurzeln hier, ebenso wie die junge Generation der Araber in Kirkuk ihre Wurzeln dort hat und nicht mehr in Basra oder Nassariya, von wo Saddam Hussein sie zwang, umzusiedeln.« Das in Artikel 140 der irakischen Verfassung verankerte Referendum, die Rücksiedlung von Arabern nach Südirak und die Rücksiedlung von Kurden nach Kirkuk ließe sich nicht umsetzen, ist Osman überzeugt und verweist auf die Forderung der Goran-Liste: »Die Leute von Kirkuk müssen ihre Situation im Dialog lösen, sie sollen selber entscheiden, welchen Status ihre Stadt in Zukunft haben soll.«

Inzwischen ist der Konvoi auf Dutzende Autos angewachsen und biegt auf die Straße zum Kundgebungsplatz ein, einem freien Feld vor der Stadt. Die Autos stehen schon dicht an dicht geparkt, ein Lastwagen ist zur Bühne umgebaut. Dutzende junge Männer tanzen ausgelassen zur lauten Musik, schwenken Fahnen und Tücher, immer wieder ertönt die Parole »Ay Gorin!«, »Wir wollen den Wechsel!« Für die wenigen Frauen und älteren Männer sind Stühle in einem Halbrund aufgebaut. Festlich gekleidet, betrachten sie das Treiben mit stoischer Ruhe.

Osman klettert auf die Bühne, neben ihm stehen zwei weitere Kandidaten, alle werden mit lautem Beifall und Parolen begrüßt. »Ich hoffe auf einen Wechsel«, sagt ein junger IT-Student in gutem Englisch. Seine Eltern wohnen in Chamchamal, er ist mit der ganzen Familie zur Kundgebung gekommen. »Die Regierung ist korrupt, sie bestiehlt uns und lässt die Menschen mit den Problemen allein.«

Ein anderer Mann mittleren Alters hofft auch auf den Wechsel, wie er sagt. Voller Zorn erzählt er, dass er viele Familienmitglieder während der Anfal-Operation in den 80er Jahren verloren habe. 1996 sei sein Bruder beim Kampf zwischen KDP und PUK gefallen. »Wir haben keinen Strom, kein sauberes Trinkwasser, und das Öl unter unseren Häusern stehlen sie uns.« Er sei wütend auf die beiden Parteien, darum unterstütze er jetzt Goran.

* Aus: Neues Deutschland, 4. März 2010


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