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Eine Verfassung, die den normalen Irakern nichts bedeutet / A Constitution That Means Nothing To Ordinary Iraqis

Von Robert Fisk / by Robert Fisk



Gestern rangen die Leute, die zwischen Betonbarrieren und Stacheldrahtzaun die neue irakische Verfassung ausarbeiten, noch darum, eine Föderalisierung des Irak zu verhindern - beziehungsweise diese herbeizuführen, je nachdem. Ihre Landsleute auf der heißen, stinkenden Straße scherte dies wenig.

Laut Präsident Bush und den Übrigen, die 2003 illegal in das Land einmarschierten, ist heute 'C-Day', der Tag der Verfassung. Im "realen" Bagdad, in das weder der irakische Präsident, noch sein Premierminister, noch das Verfassungskomitee je einen Fuß setzen, fragen die Menschen nach Sicherheit, nach Strom, nach Wasser und wann die Besatzung endlich endet. Wann hört das Morden, hören die Vergewaltigungen auf?

Die Regierung Jaafari - von Schiiten und Kurden im Januar so hoffnungsvoll ins Amt gewählt -, sei "gescheitert", sagen die Leute, und das Wort geht ihnen leicht von den Lippen. Sie ist "gescheitert", weil sie die eigenen Menschen nicht beschützen konnte, "gescheitert", weil sie unfähig ist, die eigene Hauptstadt wiederaufzubauen (eine Stadt, die von der Regierung im Gebäudekomplex durch die Mauerschlitze für die Maschinengewehre (die Scharten erinnern an die Kreuzfahrerzeit) wahrgenommen wird), sie ist "gescheitert", weil die Regierung die Bedürfnisse der "Straße" nicht begreift, geschweige denn befriedigt.

Bush, Blair, viele Journalisten und auch die gewählte irakische Regierung bzw. die Mitglieder des Verfassungskonvents leben in einer Art Alice-im-Wunderland-Irak, in dem es all diese Probleme nicht gibt. In ihrer Welt funktioniert das Airconditioning (mittels Generatoren, die 24 Stunden am Tag Strom liefern). Fast alle hohen Beamten haben ihre Villa in der massiv gesicherten "Grünen Zone". Früher stand hier Saddam Husseins Palastkomplex. Diese Leute kennen keine Stromunterbrechungen, keine Benzinschlangen, und sie werden auch nicht gekidnappt oder ermordet.

Ein soeben aus Paris bzw. Brüssel heimgekehrter irakischer Akademiker sagte gestern zu mir: "Die Europäer sehen die (irakische) Politik mit den Augen der "Grünen Zone". Sie habe keine Ahnung, dass der Rest des Irak - außer Kurdistan - ein Ort des Chaos und des Todes ist. Einer hat mich mal gefragt: "Meinen Sie, der Föderalismus ist tatsächlich eine Gefahr für die Sunniten?" Ich habe geantwortet: "Sind Sie nicht der Meinung, dass die Sunnis, Schiiten und Kurden permanente Todesangst als Gefahr empfinden müssen?" Er bekam große Augen. Das war nicht das Thema, über das er reden wollte. Aber wir wollen darüber reden".

Es gibt nicht viele Iraker, die sich die Mühe machen, die Bagdader Regierungspresse zu lesen. Deren schwache Auflagen spiegeln ein Phänomen aus Saddams Zeiten: Misstrauen. Die heutigen Regierungsblätter drucken jede noch so kleine Nuance der Verfassungsdebatte. Man hat sich auf einen Namen für den neuen Staat geeinigt: 'Die Irakische Republik'. Man hat sich darauf verständigt, nach welchen Kriterien die Finanzmittel verteilt werden sollen (nach demographischen Zonen, nicht nach Provinzen. Pech für die Kurden). Man hat sich darauf geeinigt, dass der Islam "eine" Quelle der Gesetzgebung sein soll (Pech für alle, die eine islamische Republik wollen).

Es gibt den Begriff "Verfassungskomitee" und die sogenannte "Verfassungskommission" (55 gewählte Parlamentsabgeordnete), der zudem 15 nichtgewählte Sunnis angehören, da die sunnitische Bevölkerung die Januar-Wahlen überwiegend boykottierte. Jedes Komitee hat fünf Unterkomitees. Jedes Unterkomitee hatte sich ein Kapitel des Verfassungsentwurfs vorgenommen. Die Autoren des voluminösen Dokuments - angeblich haben auch mindestens zwei Professoren daran mitgewirkt -, bleiben anonym, "aus Sicherheitsgründen", wie es heißt. All diese Leute leben - mehr oder weniger sicher vor den Aufständischen - in der massiv bewachten Grünen Zone. Noch wichtiger, sie sind geschützt vor dem einfachen Volk, das unter der Brutalität der amerikanischen Besatzung zu leiden hat, unter den Aufständischen sowie unter der täglichen Bedrohung durch das massiv auftretende organisierte Verbrechen.

Dabei ist jedem klar, um was es bei der neuen Verfassung eigentlich geht, nämlich um die Frage, ob sie den drei wichtigsten Gruppen im Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - einen eigenen föderalen Staat zugestehen wird. Falls ja, wird der Irak dann auseinanderbrechen? Natürlich sind die Sunniten gegen die Spaltung ihres Landes. Die Sunniten sind die einzige der drei Gruppen, auf deren Gebiet es kein Öl gibt. Für die Amerikaner und den übrigen Westen (die immer noch behaupten, der Irak wurde für die "Demokratie" befreit) würde eine Spaltung des Landes zunächst einmal bedeuten, dass man seine Öldeals mit zwei geschwächten Entitäten abschließen kann - anstatt mit einer potentiell einigen irakischen Nation.

Hinzu kommt folgender Punkt: Kurdistans Kurden fordern die demographische Umstrukturierung Kirkuks - und zwar, bevor die Verfassung niedergelegt wird. Die arabische Bevölkerung Kirkuks wurde ihnen von Saddam injiziert, der die kurdische Bevölkerung Kirkuks ins Exil trieb, und schließlich ist da noch die turkmenische Minderheit. Zählen Sie all das zusammen, und Sie wissen, weshalb selbst die Amerikaner langsam die Geduld verlieren. Die Kurden wollen die Ölstadt Kirkuk zur Hauptstadt Kurdistans machen. Ein Staat, der bereits existiert - wenngleich kein Iraker dies zugeben könnte. Würde Kirkuk zur Hauptstadt des Kurdenstaates, bedeutete dies einen weiteren (territorialen) Zugewinn (der Kurden) - an der Front "arabischer" Irak versus "kurdischer" Irak.

Das Problem ist nur, all diese Dinge werden nicht im realen Irak verhandelt sondern in der oben geschilderten Alice-im-Wunderland-Welt. Ein eigenartiger Ort, diese Wunderland - ein Ort, an dem ständig ausgerufen wird (bislang viermal), in zwei Monaten beginnt der Prozess gegen Saddam Hussein oder, in Kürze startet der Wiederaufbau des Irak oder, der Aufstand wird immer schwächer. Tatsache ist, die Amerikaner werden mittlerweile 70 mal am Tag von irakischen Partisanen angegriffen. Die Gefahr weiterer Angriffe wird von hochrangigen amerikanischen Offizieren so hoch eingeschätzt, dass sie die Veröffentlichung von 87 neuen Fotos und Videoaufnahmen über Folter und Misshandlungen in Abu Ghraib verbieten lassen wollen - zumindest ist diese Gefahr anscheinend der Hauptgrund.

All das spielt im realen Irak keine große Rolle. Für die "Straße" ist Saddam längst Geschichte. Die "Straße" weiß nichts von einem Wiederaufbau, und der Schmutz von Abu Ghraib hat die "Straße" nicht wirklich überrascht (die meisten Iraker wussten längst Bescheid - schon Monate bevor der Westen beschloss, jene Horrorbilder endlich wahrzunehmen).

Zum Thema Verfassung befragte ich gestern einen langjährigen irakischen Freund. "Natürlich ist sie wichtig", so seine Antwort. "Aber meine Familie hat Angst vor Entführungen. Ich habe Angst, meinem Vater zu sagen, dass ich als Journalist arbeite. Wir alle bekommen nur alle sechs Stunden eine Stunde Strom, selbst mit einem Kühlschrank können wir unsere Lebensmittel nicht vor dem Verderben retten. Föderalismus? Das ist doch nichts, was man essen kann, nichts, was man in den Tank stopfen kann, damit der Wagen läuft, und Föderalismus bringt meinen Kühlschrank nicht zum Funktionieren".

The Independent / ZNet 15.08.2005

Übersetzt von: Andrea Noll

Quelle: www.zmag.de

Einmischung

Von Karl Grobe
Chuck Hagel, Vietnamkriegs-Veteran und US-Senator, mahnt eine Strategie für den Rückzug aus Irak an. Der Spitzenmann der Republikanischen Partei, mithin Parteifreund des Präsidenten, sieht den Krieg als destabilisierenden Faktor für den gesamten Nahen Osten an und greift George W. Bush nicht gerade indirekt mit der Bemerkung an, Kurs zu halten sei keine Strategie. Bush fährt derweil Rad auf seinem texanischen Besitztum und betätigt sich handwerklich; er macht ungewöhnlich lange Ferien von der Politik
Tätig ist unterdessen sein Bagdader Botschafter Zalmay Khalilzad. Der aus Afghanistan stammende Diplomat ist in Kabul bei der Installation des dortigen Präsidenten höchst aktiv gewesen und mischt nun sehr im Vordergrund beim Verfassungsdisput in der ummauerten Grünen Zone von Bagdad mit. Dankbar registrieren das die von den USA nach Irak heimgeführten Politiker, weil, wie manche von ihnen meinen, ohne US-Druck eine Einigung gar nicht möglich wäre.
Die Besatzungsverwaltung hat schon das vorläufige Grundgesetz geschrieben. Sie kann sich der Verantwortung für die bisherige Destabilisierung nicht entziehen; sie trägt nun als Mitautor der Verfassung, wie immer es ausgeht, Verantwortung für die Zerlegung Iraks in ethnisch-religiöse Zonen. Das weltliche Volk ist dabei Zuschauer.

(Kommentar in der Frankfurter Rundschau vom 23. August 2005)




A Constitution That Means Nothing To Ordinary Iraqis

by Robert Fisk

Behind ramparts of concrete and barbed wire, the framers of Iraq’s new constitution wrestled yesterday to prevent - or bring about - the federalisation of Iraq while their compatriots in the hot and fetid streets outside showed no interest in their efforts.

Today is supposed to be "C" day, according to President Bush and all the others who illegally invaded this country in 2003. However, in " real" Baghdad - where the President and Prime Minister and the constitutional committee never set foot - they ask you about security, about electricity, about water, about when the occupation will end, when the murders will end, when the rapes will end.

They talk, quite easily, about the "failed" Jaafari government, so blithely elected by Shias and Kurds last January. "Failed" because it cannot protect its own people. "Failed" because it cannot rebuild its own capital city - visible to it between the Crusader-like machine-gun slits in the compound walls - and because it cannot understand, let alone meet, the demands of the "street".

In the Alice-in-Wonderland Iraq of Messrs Bush and Blair - inhabited, too, by the elected government of Iraq and its constitutional drafters and quite a few Western journalists - there are no such problems to cope with. The air-conditioners hiss away - there are generators to provide 24-hour power - and almost all senior officials have palatial homes in the heavily protected "Green Zone" which was once Saddam Hussein’s Republican Palace compound. No power cuts for them, no petrol queues, no kidnaps and murders.

As an Iraqi academic just returned from Paris and Brussels told me yesterday: "Europeans understand politics through the Green Zone level. They have no idea that the rest of Iraq - save for Kurdistan - is a place of anarchy and death. One asked me: ’Do you think federalism is really a danger to the Sunni?’ I answered him: ’Do you think the fear of constant death is not a danger to Sunnis, Shia and Kurds?’ His eyes glazed over. It was not what he wanted to talk about. But it is what we talk about."

Those few Iraqis who bother to read the government press in Baghdad - their low circulation mirrors the same phenomenon of disbelief that existed under Saddam’s regime - are told every nuance of the constitutional debate. The name of the state has been agreed (The Iraqi Republic), the distribution of financial resources according to demographic areas rather than provinces (bad news for the Kurds), and that Islam should be "one" of the sources of legislation (bad news for those who want an Islamic republic).

There is a "constitutional committee" and a "constitutional commission" (comprising 55 elected parliamentary deputies) with 15 unelected Sunnis (because the Sunni population largely boycotted last January’s election), each committee divided into five sub-committees, each one studying one chapter in the constitution. The actual writers of this massive document - they allegedly include at least two professors - remain anonymous for "security reasons". And all live in the heavily guarded Green Zone, safe - more or less - from the insurgents and, more importantly, safer from ordinary Iraqis who have to endure the violence of the American occupation, the oppression of the insurgents and the daily threat of mass, organised crime.

Everyone knows the real issue behind the constitution: will it allow Iraq’s three principle communities - the Shias, the Sunnis and the Kurds - to form their own federal states? And if so, will this mean the break up of Iraq? The Sunnis, the only one of the three whose homes do not sit on oil reserves, are naturally against such a division which would, incidentally, allow the Americans and the other Western nations, who still claim to have liberated Iraq for "democracy", to reach oil deals with two weakened entities rather than a potentially united Iraqi nation.

Add to all this Kurdistan’s demand that the future demography of Kirkuk - the Arab population injected by Saddam, the Kurdish population of the city exiled by Saddam and its minority Turkomans - be settled before the constitution is written, and you get a good idea why even the Americans are beginning to lose patience. The Kurds want oil-rich Kirkuk to be the capital of Kurdistan - a state which already exists although no Iraqi seems to be prepared to admit this - and thus further cut away at the frontier between " Arab" Iraq and "Kurdish" Iraq.

The problem is that all these issues are played out not in Iraq but in the Alice-in-Wonderland world already described. This is a unique place in which Saddam’s trial is always being predicted to start in two months’ time - on at least four occasions this has happened - in which Iraqi reconstruction is always about to restart and in which insurgent strength is always weakening. In fact, Iraqi guerrillas are now striking at the Americans 70 times a day and so fearful are senior American officers of an increase in attacks that this has become their principle reason for trying to prevent the release of 87 further photographs and videotapes of the Abu Ghraib prison torture and abuses.

In Real Iraq, it makes no difference. For the "street", Saddam is history, there is no reconstruction and the filth of Abu Ghraib causes no great surprise - because most Iraqis knew all about it months before the West opened its horrified eyes to the pictures.

As for the constitution, I asked an old Iraqi friend what he thought yesterday. "Sure, it’s important," he said. "But my family lives in fear of kidnapping, I’m too afraid to tell my father I work for journalists, and we only have one hour in six of electricity and we can’t even keep our food from going bad in the fridge. Federalism? You can’t eat federalism and you can’t use it to fuel your car and it doesn’t make my fridge work."

The Independent; August 15, 2005

Source: www.zmag.org


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