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Strom, Wasser und Jobs

Acht Jahre nach Beginn der US-Invasion im Irak: Anhaltende Proteste gegen desolate Lage. Konferenz im belgischen Gent beklagt Zerstörung des Bildungssystems

Von Karin Leukefeld *

Weil es für diesen Freitag keinen Antrag auf eine Demonstration in der irakischen Hauptstadt gegeben habe, verhängte die Polizeibehörde nach eigenen Angaben in Bagdad weder eine Ausgangssperre noch ein Fahrverbot. Protestiert haben die Iraker dennoch. An einer Umfrage der Sadr-Bewegung über die Forderungen der Bevölkerung an die Regierung hätten sich drei Millionen Menschen beteiligt, wie ein Sprecher am Freitag bekanntgab. Alle unterstützten dabei die Ziele der Demonstranten, die in den vergangenen Wochen jeweils am Freitag nach dem Mittagsgebet auf die Straße gegangen waren und für eine bessere Versorgung mit Strom und Wasser sowie Arbeitsplätzen protestiert hatten. Der Führer der Bewegung, der Geistliche Muqtada Al-Sadr kündigte nun an, seine Anhänger würden auf die Straßen gehen, sollte die Regierung nicht innerhalb eines halben Jahres ihre Forderungen erfüllt haben. In Falludscha, westlich von Bagdad, forderten am Freitag Hunderte Iraker die Freilassung aller Gefangenen, die ohne Anklage noch immer in den Haftanstalten festgehalten würden.

Acht Jahre nach Beginn der völkerrechtswidrigen Invasion im Irak werden grundlegende Menschenrechte im Zweistromland systematisch verletzt, doch internationale Organisationen wie der UN-Sicherheitsrat, die Europäische Union oder die Arabische Liga schweigen. Die irakische Regierung reagiert mit Denunziation ihrer Kritiker, mit Parteiverboten und der Festnahme von Oppositionellen. Die Ankündigung von Parlamentssprecher Osama Al-Nujaifi vom Donnerstag, aus »Solidarität mit dem Aufstand in Bahrain« die parlamentarische Arbeit bis Ende April auszusetzen, wirkte vor diesem Hintergrund geradezu zynisch.

Die Proteste der Jugend im Irak gegen das Versagen der dortigen Regierung sei »ein großer Fortschritt« und gebe Anlaß zu Hoffnung, sagte Mundher Al-Adhami vom Irakischen Nationalen Gründungskongreß gegenüber junge Welt . Wichtig wäre, daß die Proteste noch mehr von Akademikern, Schülern und Studierenden unterstützt würden. Deren Lage im Irak sei besonders desolat nach acht Jahren Besatzung, so Al-Adhami. Das Recht auf unabhängige Bildung müsse verteidigt werden.

Nur die Iraker könnten den Irak wieder aufbauen, die Besatzung des Landes müsse enden, war die Forderung von gut drei Dutzend irakischen Wissenschaftlern und Akademikern. Sie waren dieser Tage im belgischen Gent zu einer Konferenz zur Verteidigung der Bildung im Irak gekommen. Al-Adhami, der am Londoner Kings College lehrt, lebt schon seit vielen Jahren im Exil, andere, wie Ahmad Kamal von der An-Nahrain Universität in Bagdad, berichteten aus erster Hand über Bedrohung und Verfolgung und die konfessionelle Trennung im Bildungswesen, die es im Irak vor 2003 nie gab. 580 Akademiker wurden seit 2003 ermordet, darunter auch der Geologe Professor Issam Al-Rawi von der Bagdad-Universität, der ein Register über die Opfer anlegte, bis er am 30.Oktober 2006 selbst getötet wurde. Das Register wird heute vom Antikriegsbündnis BRussels Tribunal fortgeführt.

Die gezielte und systematische Zerstörung eines nationalen Bildungssystems sei Teil einer neokolonialen Aufstandsbekämpfungsstrategie, die man nicht nur im Irak, sondern auch in Afghanistan und Palästina beobachten könne, konstatiert der Geograph Derek Gregory von der British Columbia University in Vancouver. Im Irak sei die Zerstörung besonders auffällig, weil das dortige Bildungssystem noch in den 1980iger Jahren als vorbildlich galt und als das beste in der arabischen Welt. Wissenschaftler, besonders Geographen und Anthropologen, aber auch Journalisten lieferten dabei zunehmend Stichworte und Grundlagen für neue Aufstandsbekämpfungsprogramme.

www.brusselstribunal.org

* Aus: junge Welt, 19. März 2011


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