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Bushs kranke Krieger

Unter den USA-Besatzern in Afghanistan und Irak nehmen Suizid und Depression zu

Von Reiner Oschmann *

Erstmals in der langen Geschichte US-amerikanischer Kriegführung nimmt ein beachtlicher und wachsender Teil der Kampftruppen regelmäßig Antidepressiva, um Nerven und schlechtes Gewissen auf den Kriegsschauplätzen vor allem in Irak und Afghanistan zu beruhigen. So das Ergebnis einer Untersuchung, die das Nachrichtenmagazin »Time« unlängst präsentierte.

Nach Angaben einer im vorigen Herbst anonym durchgeführten Umfrage eines Beirats für seelische Gesundheit der USA-Armee unter Kampfeinheiten haben »rund zwölf Prozent der (amerikanischen) Kampfeinheiten in Irak und 17 Prozent in Afghanistan regelmäßig verschreibungspflichtige Mittel gegen Depression sowie Schlaftabletten konsumiert, um mit dem Stress fertig zu werden«. Das »Time-Magazin« macht darauf aufmerksam, dass im Verteidigungsministerium (Pentagon), »wo ansonsten über so gut wie alles Statistiken geführt werden, zu diesem Bereich kein zentrales Material existiert«. Wegen »der üblichen Stigmatisierung, die für Soldaten besteht, die psychiatrische Hilfe aufsuchen«, liege das tatsächliche Ausmaß depressiv erkrankter Armeeangehöriger zudem wahrscheinlich wesentlich höher, als es die Umfrage des Beirats vermuten lasse. Zwar hätten Soldaten zu vielen Zeiten Aufputschmittel »in der Etappe« genommen. Doch kämpfenden Einheiten, betont »Time«, sei die Einnahme solcher Drogen verboten gewesen. Das Magazin erinnert jedoch an den Konsum von Amphetaminen wie Speed durch USA-Truppen während des Vietnam-Krieges.

Die Einnahme von Antidepressiva habe inzwischen so zugenommen und sei »so üblich« geworden, dass das Pentagon dazu übergehen könne, die Kriterien für die Auszeichnung mit der Verwundetenmedaille »Purple Heart« um Depressionen wie posttraumatischen Stress zu erweitern. Bislang wird »Purple Heart« nur für körperliche Verletzungen auf dem Schlachtfeld verliehen. Die wiederholte Stationierung von Soldaten im Kriegsgebiet, so ein weiteres Untersuchungsresultat, erhöhe die Gefahr psychiatrischer Erkrankungen. »Fast 30 Prozent der Soldaten, die das dritte Mal an der Front waren«, schreibt »Time«, »leiden an ernsthaften depressiven Erkrankungen, wie ein führender Psychiater im März vor dem amerikanischen Kongress mitteilte«.

Als sicher gilt, dass der Kriegsstress – über den Stress für die Bevölkerung in den heimgesuchten Ländern liegen keine Angaben vor – Einfluss auf die gleichfalls wachsende Zahl von Selbsttötungen und Suizid-Versuchen in den USA-Streitkräfte hat. Seit Beginn der Invasionen in Afghanistan (2001) und in Irak (2003) gab es in beiden Ländern bis 2007 insgesamt 164 amtlich aufgelistete Selbstmorde amerikanischer Soldaten. Die jährliche Quote hat sich in beiden Ländern verdoppelt. Allein im Vorjahr nahmen sich 115 Militärangehörige das Leben, so viele wie seit 1990 nicht mehr, wie der Fernsehsender CNN mitteilte. In zwei von fünf Fällen hätten Soldaten Selbstmord begangen, die gerade von einem Kriegseinsatz nach Hause in die USA zurückgekehrt seien. Fast 1000 Soldaten haben im vorigen Jahr zudem einen Selbsttötungsversuch unternommen.

Truppen-Untersuchungen des Pentagon in Irak hatten bereits 2007 gezeigt, dass bis zu 20 Prozent des Armeepersonals Zeichen und Symptome posttraumatischen Stresses an den Tag legen. Mehr als jeder Dritte aller Soldaten nehme ein Jahr nach Rückkehr in die USA irgendeine Form der psychischen Betreuung in Anspruch. Eine Analyse der »New York Times« hatte unlängst unter Betonung der vermutlich großen Dunkelziffer 121 Fälle herausgefunden, in denen heutige oder frühere Militärangehörige ein Tötungsdelikt in den USA begingen oder dessen beschuldigt sind. Dabei seien die Nachwirkungen der Kriegserfahrung »offenkundig« gewesen. In vielen der 121 Todesfälle spielten Kriegstraumata und -stress gemeinsam mit Alkoholmissbrauch, Familienzerrüttung und anderen Begleitproblemen eine Rolle. Ein Drittel der Opfer waren Ehefrauen, Freundinnen, Kinder oder andere Verwandte, schrieb die »Times« über diesen Preis der Kriege. Auch er erhöht sich täglich – für manchen unumkehrbar.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Juli 2008


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