Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Volksheld oder Verbrecher: Der berühmteste Schuhwerfer steht in Bagdad vor Gericht

Zwei Beiträge (Jutta Lauterbach und Karin Leukefeld) und eine Glosse (Peter Strutynski)

Der Schuhwurf auf den damaligen US-Präsidenten George W. Bush, nicht nur in der arabischen Welt mit Sympathie und Beifall bedacht, findet nun, gut zwei Monate danach, ein juristisches Nachspiel. Der Schuhwerfer, der Journalist Muntazer al-Zaidi, muss mit einer empfindlichen Bestrafung rechnen. Im Folgenden dokumentieren wir:

Hier geht es zum historischen Schuhwurf (Videoclip; externer Link)



Schuhwerfer von Bagdad muss vor Gericht

Volksheld oder Verbrecher: An diesem Donnerstag beginnt der Prozess gegen den Schuhwerfer von Bagdad *

«Angriff auf ein ausländisches Staatsoberhaupt« wird dem irakischen Fernsehreporter in seiner Heimat vorgeworfen. Dabei konnte sich Ex-US-Präsident George W. Bush rechtzeitig wegducken.

Die Bilder von der turbulenten Pressekonferenz im Dezember in der irakischen Hauptstadt aber gingen um die Welt. Bald flogen auch in Großbritannien, Frankreich und Schweden Schuhe. Im britischen Cambridge muss sich deswegen sogar ein deutscher Student vor Gericht verantworten.

Paris, Washington, London, Stockholm: ob Israels Vorgehen gegen die Palästinenser, Chinas Menschenrechtspolitik oder die Finanzmisere - vielerorts folgten Demonstranten dem Beispiel des «Schuhwerfers von Bagdad«. Schuhe flogen auf die Wiese des Weißen Hauses, Schuhe flogen in der Downing Street Nr. 10 in London und beim Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos. Als der chinesische Regierungschef Wen Jiabao in der Universität von Cambridge eine Rede hielt, landete ein Schuh vor ihm auf der Bühne. Am 10. März muss der Deutsche zu einer weiteren Voranhörung vor Gericht erscheinen. Kein Geringerer als Wen bat um Gnade für ihn.

Der Kasseler Friedensforscher Peter Strutynski geht dennoch nicht davon aus, dass sich das Werfen von Schuhen als «allgemein akzeptiertes Aktionsmittel« in Deutschland durchsetzt. In unseren Breitengraden und Klimazonen sei es wenig ratsam, sich bei Demonstrationen seiner Schuhe zu entledigen, sagte er. «Normale Mitteleuropäer sind es nicht mehr gewohnt, ihre Demonstrationsroute oder den anschließenden Weg nach Hause barfuß oder auf Socken zurückzulegen.« Allerdings gebe es genügend Anlässe, «dass es einem buchstäblich die Schuhe auszieht - und schon ist es passiert«, räumt Strutynski ein.

Kritik, aber keine Schuhe

Auch bei den Globalisierungskritikern von Attac beschäftigt man sich mit dem Phänomen Schuhe werfen. Zwar seien ihr derartige Aktionen aus den eigenen Reihen bisher nicht bekannt, sagt Attac-Sprecherin Frauke Distelrath. «Uns geht es in erster Linie darum, ein bestimmtes Wirtschaftssystem, den Finanzmarktkapitalismus, zu kritisieren.«

Der spanische Außenminister Miguel Angel Moratinos meinte unmittelbar nach der Schuh-Attacke in Bagdad, mit solchen Aktionen drücke sich ein Gefühl aus: die Wut vieler Araber und Muslime auf die USA. Mit Schuhen beworfen zu werden, wird in arabischen Ländern als schwere Beleidigung angesehen.

Dabei ist der Protest mit dem Schuh nicht neu. Schon 1960 schlug der damalige sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow während einer UN-Debatte aus Wut über einen philippinischen Delegierten mit einem Schuh auf den Tisch. Es ging um Kolonialismus und die Rolle Moskaus in Osteuropa.

Witzbolde im Internet gaben Bush den Spitznamen George «Doubleshoe« – in Anlehnung an die englische Aussprache von «W«.

Schlagwörter wie «Schuh-Intifada« (Schuh-Aufstand) machen im Netz die Runde. In der irakischen Stadt Tikrit wurde eine drei Meter hohe Schuhskulptur zu Ehren des «Schuhwerfers von Bagdad« aufgestellt, auf Anordnung der Behörden allerdings schnell wieder entfernt.

Bombengeschäft

Immerhin: Dem türkischen Hersteller der Bagdader Schuhe bescherte die Attacke einen unerwarteten Auftragsboom. Binnen kürzester Zeit wurden vom Modell 271 – einem braunen Schnürschuh aus Rindsleder - 300 000 Paar geordert, sogar aus Amerika, wie der Fabrikbesitzer sagt.

Anders in Deutschland: Die Schuhhandelskette Deichmann etwa beobachtet bis jetzt keine «Sonderkonjunktur«, wie es aus der Firmenzentrale in Essen hieß. «Wir freuen uns natürlich über jeden Kunden, der – warum auch immer – Schuhe kauft«, teilte Sprecher Ulrich Effing mit. «Er sollte sie aber bitte friedlich einsetzen und niemanden damit verletzen.« dpa

Jutta Lauterbach (dpa)

* Veröffentlicht in den Nürnberger Nachrichten (online) vom 17. Februar 2009


Abschiedskuss per Schuhsohle

Ab heute steht in Bagdad der berühmteste Schuhwerfer vor Gericht

Von Karin Leukefeld **


Von der irakischen Justiz wird er angeklagt, für das Volk aber ist er schon jetzt ein Held – der »Schuhwerfer von Bagdad«. Heute beginnt der Prozess gegen ihn.

»Dies ist der Abschiedskuss der Iraker, du Hund!« Mit diesem wenig schmeichelhaften Gruß warf der irakische Journalist Muntazer al-Zaidi (30) am 14. Dezember beherzt seinen ersten Schuh auf US-Präsident George W. Bush, dem es in einer raschen Reaktion gelang, sich hinter dem Rednerpult wegzuducken. »Und dies ist für die Witwen und Waisen und alle, die in Irak ermordet wurden«, rief der aufgebrachte Journalist weiter und warf seinen zweiten Schuh gleich hinterher. Der Präsident blieb unversehrt, doch seine Abschiedspressekonferenz in Bagdad hatte sich Bush wohl anders vorgestellt.

Als »Hund« bezeichnet und auch von Schuhsohlen attackiert zu werden, gilt in der arabischen Kultur als schwerste Beleidigung. Zaidi wurde von einem Kollegen zu Boden gerissen, Sicherheitskräfte warfen sich über den Mann und schleppten ihn unter Schlägen und Tritten aus dem Saal.

Dana Perino, Sprecherin des Weißen Hauses, trug ein blaues Auge davon, als im Handgemenge ein Mikrofonständer in ihr Gesicht schlug. Zaidi, ein zumindest im Westen zuvor völlig Unbekannter, erreichte in wenigen Minuten Weltruhm. Die Bilder der auf Bush fliegenden Schuhe gingen um die Welt und wurden so oft im Fernsehen und Internet gezeigt, dass die USA-Botschaft in Kairo sich an den ägyptischen Informationsminister wandte und die Schließung des Senders »Al Baghdadia« forderte, für den Zaidi seit September 2005 mit großem Engagement aus Irak berichtete. Andere wiederum regte es an, über die USA und ihren zumindest rein körperlich reaktionsschnellen Präsidenten ganz neu nachzudenken. Witzbolde gaben ihm im Internet den Spitznamen George »Doubleshoe« – in Anlehnung an die englische Aussprache von »W«. Andere richten eine Webseite namens »sockandawe« ein; Bush hatte die Bombardierung Iraks zu Kriegsbeginn 2003 als Strategie des »shock and awe« (Furcht und Schrecken) bezeichnet.

Für das arabische Publikum des Senders war der junge Journalist und Chronist menschlichen Leids kein Unbekannter. Im britischen »Guardian« schrieb der im Exil lebende Iraker Sami Ramadani über Zaidi: »Er folgte nicht nur der tödlichen und zerstörerischen Spur der US-Apache-Hubschrauber, er gehörte auch zu den ersten, die über religiöse Grausamkeiten und Anschläge auf Marktplätzen berichteten. Er ließ zuerst die Opfer sprechen.«

Zweimal war Zaidi in US-amerikanischer Militärgefangenschaft, und seine Wohnung in der historischen Raschid-Straße im Zentrum Bagdads wurde vom US-Militär durchsucht, wobei die Soldaten außer arabischen und englischen Büchern über Religion und Politik und einem Bild des kubanischen Revolutionsführers Che Guevara kein »belastendes Material« fanden. Im November 2007 war Zaidi von Unbekannten entführt worden, als er auf dem Weg zur Arbeit war. Seine Freilassung drei Tage später sei »wie ein Wunder« gewesen, sagte der Journalist: »Ich konnte nicht glauben, dass ich noch am Leben war.«

Zaidi stammt aus der Medina al-Sadr (Sadr-City), einem der ärmsten Viertel Bagdads, in dem vor allem die Nachfahren zugewanderter Schiiten aus Südirak leben. Zu Zeiten Saddam Husseins wurde seine Familie verfolgt. »Wie jeder in unserer Familie hasste er die Besatzung«, sagte sein jüngerer Bruder Durgham (32). »Seiner Meinung nach war Bush für die Zerstörung Iraks und die vielen Toten verantwortlich.«

Während Regierungsvertreter sich bei Bush entschuldigten und den Schuhwurf als »Schande« bezeichneten, wurde Zaidi bei Schiiten und Sunniten gleichermaßen zur »Ikone des Widerstandes gegen die Besatzung«. In Tikrit wurde eine drei Meter hohe Schuhskulptur zu Ehren des »Schuhwerfers von Bagdad« aufgestellt, die auf Anordnung der Behörden allerdings schnell wieder entfernt wurde. Der Schuhwurf als Protestform hat sich seither internationalisiert. Ob bei Demonstrationen gegen den Gazakrieg, bei der Rede des israelischen Botschafters in Schweden oder des chinesischen Regierungschefs Wen Jiabao in London – Schuhe flogen überall in der Welt.

Am heutigen Donnerstag (19. Feb.) wird Zaidi nun in der »Grünen Zone« von Bagdad vor dem Zentralen Gerichtshof für terroristische Straftaten der Prozess gemacht. Bis zu 15 Jahre Haft drohen dem Journalisten, weil er laut Anklage »ein ausländisches Staatsoberhaupt angegriffen« hat. Ob die Schläge und Verletzungen, die man ihm in den ersten Tagen seiner Haft zufügte, auch zur Sprache kommen werden, bleibt abzuwarten. Sein Verteidigerteam plädiert auf Freispruch, sagte der Anwalt Dhiya al-Saadi. »Er hat nur gegen die Besatzung protestiert«, und Schuhe seien »keine tödliche Waffe«. Ein irakischer Kollege, der nicht genannt werden wollte, meint, Zaidi dürfte gar nicht vor Gericht kommen.

** Aus: Neues Deutschland, 19. Februar 2009


Wenn es einem die Schuhe auszieht

In den letzten Wochen bin ich - als vermeintlicher "Experte" in Demonstrationsangelegenheiten - des öfteren gefragt worden, ob denn der Aufsehen erregende Schuhwurf von Bagdad evtl. Schule machen und Nachahmer finden könnte. Und ob Schuhe denn nicht ein sympathischer Ersatz für andere Gegenstände (z.B. Steine), gefunden wäre, da von ihnen keine Menschen zu Schaden kämen.

Nun finde ich zum einen, dass die dabei unterstellte Alternative "Schuhe statt Steine" der Vielfalt und Kreativität von politischen und sozialen Protesten nicht gerecht wird. Für die Friedensbewegung beispielsweise gehörten Steine nie ins Repertoire ihrer Demonstrationsmittel.

Zum anderen war der Schuhwurf von Bagdad eine sehr symbolträchtige und mutige, aber eben auch singuläre und von der konkreten Situation abhängige Art, Widerspruch gegen die Kriegs- und Besatzungspolitik der USA und zugleich Verachtung gegenüber dem politisch verantwortlichen Präsidenten zum Ausdruck zu bringen. Das wird sich schwerlich wiederholen lassen. - Die Flut von Schuhen, die in der Folge an das Weiße Haus geschickt wurden (dort aber natürlich nicht ankamen), ist ebenfalls nur diesem einzigartigen Ereignis geschuldet und sollte Solidarität mit dem Bagdader Journalisten bekunden.

Solidarität hat der Schuhwerfer, der Journalist Muntaser al-Saidi, der mit dieser Aktion zum Volkshelden in der ganzen arabischen Welt wurde, auch bitter nötig, denn nach allem, was aus politischen Kreisen im Irak bisher verlautete, droht ihm eine empfindliche Freiheitsstrafe. Die Richter in Bagdad sind dabei in einer politischen Zwickmühle: Fällt das Urteil hart aus (bis zu 15 Jahren Haft stehen auf das Delikt), drohen Unruhen und ein empfindlicher Vertrauensverlust in das Regime. Kommt der Schuwerfer mit einer geringen oder gar nur symbolischen Strafe davon, wäre dies ein politischer Affront gegenüber den USA. Die damalige First Lady hatte mit ihren Äußerungen durchaus die Richtung vorgegeben: "Das war ein Angriff, und so sollte auch damit umgegangen werden", sagte Laura Bush in einem Interview mit dem US-Fernsehsender Fox News. Zwar überlasse sie die Entscheidung, wie mit dem Schuhwerfer zu verfahren sei, den irakischen Behörden. "Aber", fügte sie unheildrohend hinzu, "ich weiß, dass er unter Saddam Hussein nicht freigelassen worden wäre. Wahrscheinlich wäre er hingerichtet worden." Das waren noch Zeiten!

Doch zurück zu den Demonstrationen. Ich bezweifle sehr, dass künftig Schuhe oder andere Gegenstände sich als allgemein akzeptierte Aktionsmittel in unseren Breitengraden durchsetzen werden. Und zwar aus vier Gründen:

Erstens ist das Objekt des Protestes normalerweise nie in Wurfweite; Schuhe würden also allenfalls Polizisten erreichen; die sind aber in der Regel nicht Ziel des politischen Protestes.

Zweitens ist es in unseren Breitengraden und Klimazonen wenig ratsam, bei allfälligen Demonstrationen sich seiner Schuhe zu entledigen; normale Mitteleuropäer sind es nicht mehr gewohnt, ihre Demonstrationsroute oder den anschließenden Weg nach Hause barfuß oder auf Socken zurückzulegen.

Drittens dürfte die Liebe der Demonstranten zur Schuhindustrie nicht so ausgeprägt sein, dass man durch massenhaftes "Entschuhen" ein branchenspezifisches Konjunkturprogramm auflegen möchte - zumal die Bundesregierung nur den Autoherstellern, nicht aber der Schuhindustrie eine Abwrackprämie versprochen hat.

Viertens schließlich kämen Schuhwurf-Demonstrationen den Demonstranten - eben aufgrund der fehlenden staatlichen Prämie - auf Dauer zu teuer. Ein mündiger und kritischer Staatsbürger geht pro Jahr mindestens zehn Mal "auf die Straße". So viele abgetragene Schuhe hat doch niemand; also müssen neue gekauft und geworfen werden.

Trotz dieser Einwände will ich nicht ganz ausschließen, dass nicht doch einmal Schuhe fliegen. Die herrschende Politik produziert weiß Gott genügend Anlässe (von den Auslandseinsätzen der Bundeswehr bis zu den skandalösen Rettungsschirmen für "notleidende Banken"), dass es einem buchstäblich "die Schuhe auszieht". Und schon ist es passiert.

Peter Strutynski, Kassel


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