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Tod in Sadr City

Leichen einer Massenentführung aus dem Jahr 2006 jetzt gefunden

Von Karin Leukefeld *

Sechs Jahre nach einer Massenentführung aus dem irakischen Bildungsministerium sind jetzt in Bagdad die sterblichen Überreste von 16 Verschleppten gefunden worden. Die Leichen waren in einem Massengrab am Rande des Bezirks Sadr City, berichtete die irakische Nachrichtenagentur Schafaq am 22. Oktober. Man untersuche Überreste der Toten, um ihre Identität feststellen und ihre Angehörigen informieren zu können, hieß es. Der Fundort der Leichen deutet nicht zwingend darauf hin, daß auch die Verantwortlichen von Entführung und Mord in dem Armenviertel zu finden sind. Sadr City beherbergt mehr als eine Million in unvorstellbarer Armut lebende Menschen am Ostrand der irakischen Hauptstadt. Wer immer ein Verbrechen vertuschen will, findet hier die geeignete Umgebung dafür.

Freiheit und Demokratie« sollte die US-geführte Invasion den Irakern 2003 bringen. Tatsächlich brach das Land auseinander, die Gesellschaft zerfiel, Korruption, Willkür und Gewalt herrschen bis heute. Auf zwei Etagen eines kleinen Krankenhauses in der jordanischen Hauptstadt Amman versorgen Ärzte, Krankenpersonal, Physio- und Psychotherapeuten seit neun Jahren Überlebende des Terrors, der seit dem von US-Präsident George W. Bush befohlenen Einmarsch 2003 im Irak zum Alltag gehört.

Die Patienten aller Altersstufen verloren bei Explosionen von Autobomben Arme, Beine, Augen, Gehör oder ihre Haut, weil sie zu brennenden Fackeln wurden. Manche der Menschen müssen bis zu einem Dutzend Mal operiert werden. In stundenlangen Eingriffen flickt ein kleines Team von unermüdlichen Ärzten und Spezialisten die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes wieder zusammen.

Was Chirurgen in mühsamer Kleinarbeit und mit viel Geduld physisch gelingt, ist für traumatisierte Menschen oft nicht möglich. Wer durch Entführungen Angehörige oder Freunde verloren hat, trägt tiefe Wunden sein Leben lang. Am 14. November 2006 stürmten bis zu 100 Paramilitärs in Bagdad das Bildungsministerium. Ohne weitere Erklärungen verschleppten die Männer, die Uniformen der nationalen Polizei trugen, 150 Mitarbeiter und Besucher. Die Menschen wurden in mit Tarnfarbe versehene Fahrzeuge verfrachtet, die normalerweise vom irakischen Innenministerium eingesetzt werden. Die Entführten wurden gefesselt und mit verbundenen Augen abtransportiert. Niemand griff ein, auch nicht die allgegenwärtige Verkehrspolizei. Die Fahrzeuge seien in Richtung Sadr City gefahren, ein riesiges Armenviertel am Rande von Bagdad, hieß es später. Beweise dafür gab es nicht. Razzien in dem Viertel blieben ohne Erfolg.

Die damalige Regierung Nuri Al-Malikis spielte den Fall herunter. Die Zahl der Entführten habe nur 39 Personen betragen, die meisten seien nach einer Reihe von Razzien befreit worden. Hochrangige Polizeioffiziere habe man zudem verhaftet. Im Laufe der nächsten Tage bestätigte das Bildungsministerium die Freilassung von 70 Verschleppten, einige wiesen Folterspuren auf. Man hatte ihnen Arme, Beine, Hände gebrochen, es hieß, einige seien getötet worden. Ein Mann erklärte später, man habe ihm den Arm gebrochen. Mit eigenen Augen habe er gesehen, wie drei Wächter des Ministeriums erstickt worden seien. Aus einem anderen Raum habe er einige Akademiker des Ministeriums furchtbar schreien hören. Plötzlich dann seien die Schreie abgebrochen.

Der damalige nationale Sicherheitsberater der irakischen Regierung, Mowaffak Rubiae, erklärte am 17. November 2006, alle »Festgenommenen« seien wieder frei. Einen Tag später betonte das Bildungsministerium, daß noch immer 66 Personen vermißt würden. Der damalige Minister für Höhere Bildung, Abdul Dhiab Al-Ajely, trat von seinem Regierungsamt aus Protest gegen die Flut von Entführungen zurück.

Eine Dokumentation über die Massenentführung in Bagdad 2006 ist auf der Webseite des »BRussels Tribunal« nachzulesen, ebenso Fakten zu einer Fülle von anderen Verbrechen, die seit der US-Invasion im Irak von Todesschwadronen verübt wurden. Die Gruppe macht die US-Besatzungsbehörde, die Regierung Maliki sowie die UN-Menschenrechtsorganisation verantwortlich dafür, daß diese Fälle schwerster Menschenrechtsverletzungen und des Terrors im Irak nie aufgeklärt wurden. Die US-Regierung bildete Spezialkräfte der Irakischen Nationalpolizei zu Todesschwadronen aus und war bestens über alle Vorgänge im damaligen Innenministerium informiert. Die Maliki-Regierung habe die »Strategie der Aufstandsbekämpfung« unterstützt, die Entführer geschützt und eine Untersuchung verhindert, heißt es weiter. Die UNO habe sich schuldig gemacht, weil sie die »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« im Irak unter US-Besatzung nie untersucht habe. Die damals Entführten oder Angehörige von Entführten wurden nie entschädigt. Bis heute wissen viele nicht, was aus ihren verschleppten Familienangehörigen geworden ist.

www.brusselstribunal.com

* Aus: junge Welt, Dienstag, 30. Oktober 2012


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