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"Was wir in drei Jahren im Irak erreicht haben" - "Verheerende Irak-Bilanz"

Zwei Ansichten - eine Wahrheit: Donald H. Rumsfeld gegen Joachim Hippler

Der dritte Jahrestag des Beginns des Krieges gegen Irak war auch ein Tag der Bilanz: Was hat der Krieg gebracht? Was hatte er versprochen? Wie geht es weiter?
Während die Aggressoren die Erfolge des Krieges schön färben - was sollte man auch anderes von ihnen erwarten - überwiegt in der öffentlichen Meinung und in der Friedens- und Konfliktforschung der skeptische Blick auf das Geschehen im Irak. Die Verhältnisse sind desaströser, als es die Gegner des Krieges je vorhergesagt haben.
Im Folgenden kontrastieren wir zwei Sichtweisen: die beschönigend-optimistische des US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld und die des kritischen Wissenschaftlers Joachim Hippler. Der Namensartikel von Donald H. Rumsfeld erschien in der Washington Post vom 19. März 2006, der Beitrag von Joachim Hippler erschien als Gastkolumne im "Neuen Deutschland" vom 18. März 2006.



Was wir in drei Jahren im Irak erreicht haben

von Donald H. Rumsfeld

Einige beschreiben die Situation im Irak als Schlinge, die sich zuzieht und stellen fest, "die Zeit ist nicht auf unserer Seite" und "die Stimmung ist schlecht". Andere beschreiben eine "sehr gefährliche" Wendung und sind "außerordentlich besorgt".

Wer sind diejenigen, die diese Bedenken äußern? Tatsächlich handelt es sich hierbei um die exakten Worte von Terroristen, die über den Irak sprechen - Abu Mussab al Sarkawi und seine Gefolgsleute - und damit ihre eigene Situation beschreiben; die Fortschritte, die der Irak in den letzten drei Jahren gemacht hat, müssen ihnen Angst machen.

Die Terroristen scheinen zu erkennen, dass sie im Irak verlieren. Ich bin überzeugt, die Geschichte wird zeigen, dass das der Fall ist.

Glücklicherweise besteht die Geschichte nicht aus den täglichen Schlagzeilen, Blogs auf Websites oder den jüngsten sensationellen Angriffen. Geschichte ist das umfassendere Bild, und es erfordert Zeit und einen klaren Blick, um es akkurat zu erfassen.

Führen Sie sich vor Augen, dass der Irak es in drei Jahren von einer brutalen Diktatur zur Wahl einer Übergangsregierung, der Ratifizierung einer neuen, von Iraker erarbeiteten Verfassung bis zur Wahl einer dauerhaften Regierung im vergangenen Dezember geschafft hat. Bei jeder dieser Wahlen hat die Wahlbeteiligung maßgeblich zugenommen - von 8,5 Millionen bei den Wahlen im Januar 2005 bis zu fast 12 Millionen bei den Wahlen im Dezember - trotz der Drohungen und Anschläge der Terroristen.

Eine der bedeutendsten Entwicklungen des vergangenen Jahres ist die zunehmende Beteiligung der sunnitischen Gemeinde Iraks am politischen Prozess. In der unbeständigen Provinz Anbar, wo Sunniten die überwältigende Mehrheit stellen, nahm die Wahlbeteiligung von zwei Prozent im Januar auf 86 Prozent im Dezember zu. Sunnitische Scheichs und religiöse Führer, die zuvor mit den Aufständischen sympathisiert hatten, treffen sich heute mit Vertretern der Koalition, fordern Iraker auf, den Sicherheitskräften beizutreten und führen das, was gewalttätige Extremisten wie Abu al Sarkawi als einen "groß angelegten Krieg" gegen sie erkennen.

Die Terroristen sind entschlossen, sektiererische Spannungen zu schüren und versuchen, einen Bürgerkrieg auszulösen. Aber trotz der vielen Gewalttaten und Provokationen hat die Mehrheit der Iraker gezeigt, dass sie ein Land möchten, dass geeint und frei von ethnischen Konflikten bleibt. Wir haben dies vorigen Monat nach dem Anschlag auf den Schrein der Schiiten in Samarra gesehen, als Führer verschiedener politischer Parteien und Religionsgruppen im Irak Gewalt verurteilten und zu Ruhe aufriefen.

Die Größe, Fähigkeit und die Verantwortung der irakischen Sicherheitskräfte stellt einen weiteren bedeutsamen Wandel dar. Dies ist von entscheidender Bedeutung, denn es sind letztendlich die Iraker, die ihre eigene Nation aufbauen und sichern müssen.

Heute befinden sich etwa 100 irakische Armeebataillone mit je 100 Soldaten im Kampf, und 49 kontrollieren ihr eigenes Kampfumfeld. An etwa 75 Prozent aller Militäreinsätze im Land sind irakische Sicherheitskräfte beteiligt, und fast die Hälfte hiervon wird selbständig von Irakern geplant, durchgeführt und geleitet. Die irakischen Sicherheitskräfte sind weitaus besser als die Koalitionstruppen fähig, den ausländischen Akzent eines Terroristen zu erkennen und Gewalt anzuwenden, ohne das Gefühl der Besatzung zu verstärken. Es waren diese irakischen Sicherheitskräfte - nicht US- oder Koalitionstruppen - die Ausgangssperren verhängten und die Gewaltausbrüche nach dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samarra eindämmten. Sicherlich verzögern verschiedene Arten der Gewalt weiterhin die Fortschritte im Irak. Aber die Koalition tut alles in ihrer Macht Stehende für den Erfolg der Fortschrittsbestrebungen und nimmt, wo erforderlich, Anpassungen vor.

Die Gründe für einen freien und demokratischen Irak sind heute ebenso zwingend wie sie es vor drei Jahren waren. Ein freier und stabiler Irak wird seine Nachbarn nicht angreifen, wird sich nicht mit Terroristen verschwören, wird Familien von Selbstmordattentätern keine Belohnung zahlen und wird nicht versuchen, Amerikaner zu töten.

Obwohl es jene gibt, die nie davon überzeugt sein werden, dass die Sache im Irak ihren Preis wert ist, kann jeder, der die Welt von heute - und die terroristische Bedrohungen, der wir uns gegenübersehen - realistisch betrachtet, nur zu einem Schluss kommen: Jetzt ist die Zeit für Entschlossenheit, nicht für Rückzug.

Wenn wir uns jetzt zurückziehen, ist es sehr gut möglich, dass die Saddamisten und Terroristen das Vakuum füllen werden - und die freie Welt ist womöglich nicht gewillt, sich ihnen noch einmal zu stellen. Wenn wir dem Nachkriegsirak heute den Rücken kehren, käme das einer Rückgabe von Nachkriegsdeutschland an die Nazis gleich. Es wäre eine ebenso große Schande als hätten wir die befreiten Nationen Osteuropas gebeten, zur Sowjetherrschaft zurückzukehren, weil es zu schwierig oder zu kompliziert war oder wir nicht die Geduld hatten, mit ihnen am Aufbau freier Länder zu arbeiten.

Wir müssen begreifen, dass sich die große Mehrheit aller Iraker den Erfolg der Koalition wünscht. Sie möchten eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien. Sie möchten nicht, dass die Extremisten gewinnen. Sie riskieren jeden Tag ihr Leben, um ihr Land zu sichern.

Das ist etwas, an das es sich an diesem Jahrestag der Operation Iraqi Freedom zu erinnern lohnt.

Aus: Washington Post vom 19. März 2006; Übersetzung: Amerika Dienst.

Originaltext: Byliner: Iraq Has Made Major Gains in Three Years, Rumsfeld Says; siehe: http://usinfo.state.gov



Verheerende Irak-Bilanz

Von Jochen Hippler*

Vor drei Jahren begannen die USA ihren Krieg gegen Irak. Damals standen drei Argumente im Vordergrund: Der Krieg sollte nach US-Angaben vor allem der Beseitigung von irakischen Massenvernichtungswaffen dienen, aber zugleich ein Teil des »Krieges gegen den Terrorismus« sein und außerdem der Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens dienen.

Sehr schnell wurde klar, dass es überhaupt keine irakischen Massenvernichtungswaffen gab und dass die Bush-Administration vor dem Krieg nur durch Unwahrheiten und Manipulationen den Eindruck deren Existenz hatte nahe legen wollen. Auch das Terrorismus-Argument erwies sich als vorgeschoben: Zwar war die Herrschaft Saddam Husseins eine skrupellose Diktatur, die selbst vor völkermörderischer Gewalt nicht zurückgeschreckt hatte – aber eine Zusammenarbeit mit Al Qaida oder anderen islamischen Terroristen bestand nicht, im Gegenteil. Das irakische Regime war schließlich im Westen lange als Bollwerk gegen religiösen Fundamentalismus betrachtet und auch deshalb im Krieg gegen den Iran (1980-88) unterstützt worden.

Die Frage einer geplanten Demokratisierung der Region durch den Krieg erwies sich als höchst diffizil: Prinzipiell war Washington daran sicher interessiert, schon aus propagandistischen Gründen. In der Realität ist die Bilanz sehr gemischt. Weiterhin werden im Nahen und Mittleren Osten repressive Regierungen von Washington unterstützt, wenn das nützlich erscheint und der Stabilität dient.

Und selbst in Irak war Demokratie immer ein Ziel, das dem der Stabilität – wenn auch sehr erfolglos – untergeordnet wurde. Die bereits angekündigten Kommunalwahlen wurden 2003 abgesagt, um US-kritische Kräfte am Wahlsieg zu hindern, selbst der frühe Wahltermin zum provisorischen Parlament wurde Washington von den islamistischen Schiitenparteien aufgezwungen. Und die verstärkte Ethnisierung der irakischen Politik durch Washington (mangels anderer Partner setzte man auf ethnisch und religiös orientierte Organisationen, was diese stärkte) war sicher kein Beitrag zur Demokratisierung.

Die Bilanz des Irak-Krieges ist insgesamt verheerend. Zwar wurde eine brutale Diktatur gestürzt, aber dies geschah unter Bruch des Völkerrechts und offener Missachtung der UNO, die beide international schwer geschädigt wurden. Die Diktatur wurde von einer Situation abgelöst, in der zwar Wahlprozesse organisiert werden konnten, eine erfolgreiche Staatsbildung und die Einheit des Landes aber weiter fraglich sind, die politische und kriminelle Gewalt eine extreme Höhe erreichen und die Lebensbedingungen der Bevölkerung bezüglich ihrer persönlichen Sicherheit und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation meist katastrophal sind.

Heute ist Irak – als Folge des Krieges und der Besatzung – tatsächlich zu einer Brutstätte terroristischer Gewalt geworden, die langfristig auch andere Länder der Region bedroht. Inzwischen spricht selbst der US-Präsident davon, dass Irak »am Rande eines Bürgerkrieges« stehe. Dazu hat seine Politik nicht wenig beigetragen.

* Der Politikwissenschaftler (Jahrgang 1955) lehrt an der Universität Duisburg-Essen.

Aus: Neues Deutschland, 18. März 2006


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