Angriffskrieg als Ordnungsprinzip
oder: Hinter der US-Militärpolitik steht die US-Wirtschaftspolitik
Von Clemens Ronnefeldt*
Am 2. Juni 2002 verlangte Präsident Georg W. Bush in einer
programmatischen Rede vor Absolventen der US-Militärakademie West Point,
"jeder Zeit bereit zu sein, um ohne Zeitverlust in jeder
dunklen Ecke der Welt zuschlagen zu können. Unsere Sicherheit verlangt von
allen Amerikanern, resolut nach vorn zu schauen und bereit für präventive
Schläge zu sein, wann immer das notwendig ist, um unsere Freiheit und unser
Leben zu verteidigen". "Der Krieg gegen den Terror wird nicht in der Defensive
gewonnen", so der US-Präsident, "wir müssen die Schlacht auf dem Boden der
Feinde führen,ihre Pläne vereiteln und den schlimmsten Bedrohungen begegnen,
bevor sie auftauchen".
Diesen Worten lassen derzeit verschiedene grundlegende US-Militärstrategien
Taten folgen.
Am 17.7.2002 veröffentlichte die Los Angeles Times Auszüge aus den neuesten
Richtlinien zur Verteidigungsplanung (Defense Plannig Guidance) für die
Jahre 2004-2009. Bisher gingen die US-Militär-Planungen davon aus, zwei
große Kriege an unterschiedlichen Orten gleichzeitig führen zu können,
mit dem neuen Dokument wird erstmals betont, an jedem Ort der Welt
"die Initiative zu ergreifen" und mit "nicht erwarteten Angriffen" Gegner
künftig zu überraschen.
Die Geschwindigkeit, mit der die US-Führung künftige Angriffskriege als neue
Art der Ordnungspolitik umsetzt, scheint derzeit Freunde (falls - von Tony
Blair einmal abgesehen - überhaupt noch vorhanden) wie Feinde gleichermaßen
zu überraschen und zu lähmen.
Die neue Aufteilung der Welt unter US-Kommandos
Am 1. Oktober 2002 bereits wird die Welt neu aufgeteilt. Es wird zum ersten Mal
in der Geschichte keinen Winkel der Erde mehr geben, der nicht unter einem
der nationalen Militäroberkommandos der USA steht.
Für die Verteidigung Nordamerikas wird ein militärisches Oberkommando
(NORTHCOM) völlig neu eingerichtet.
Die Zuständigkeit des Oberkommandos Europa (EUCOM), dem bereits jetzt der größte
Teil Afrikas untersteht, wird künftig erstmals auch den ehemaligen Konkurrenten
Russland umfassen, zum Pazifischen Oberkommando (PACOM) kommt die Antarktis hinzu.
Unverändert bleiben die Zuständigkeiten für Mittel- und Südamerika (SOUTHCOM)
sowie für Nordostafrika, Persischer Golf, Zentralasien und Pakistan (CENTCOM).
Wie Otfried Nassauer in der FR-Dokumentation am 15.7.02 ausführlich dargelegt hat,
entsteht am 1.10.02 ein neues militärisches US-Machtzentrum, "ein Oberkommando,
dem Frühwarnsysteme und Satelliten, Raketenabwehrsysteme und strategische Angriffs-
raketen, strategische Mittel für konventionelle und nukleare Angriffsoptionen
unterstellt werden. Washington plant eine integrierte Kommandozentrale für -
auch präventive - strategische Angriffe, strategische Vergeltungsangriffe und
strategische Verteidigung".
Bereits Ende Juni 2002 fällte die US-Regierung die weit reichende Entscheidung,
die beiden eh schon je für sich sehr mächtigen Oberkommandos für den Weltraum
(SPACECOM) und das der Strategischen Streitkräfte (STRATCOM) in einer einzigen
Behörde auf der Offut Air Force Base in Nebraska zusammenzuführen.
"Mit dem neuen strategischen Oberkommando wird einer der entscheidenden und
umstrittenenen Grundgedanken der jüngsten Überprüfung der Nuklerarstrategie und
-streitkräfte der USA, des Nuclear Posture Review, erstmals umgesetzt. Defensive
und offensive Elemente werden ebenso integriert wie konventionelle und nukleare Angriffsoptionen. ... Vereinfacht: Washington will zuschlagen können, bevor es
getroffen wurde. ... Besondere Besorgnis ruft auch die Tatsache hervor,
dass präemptive, nukleare Angriffe nicht ausgeschlossen werden. Das Argument:
Viele potenzielle Ziele, äußerst tief unter der Erde oder in Gebirgen gelegene
Bunker zum Beispiel, könnten mit konventionellen Waffen nicht gesichert zerstört
werden" (O. Nassauer, FR, 15.7.02).
Als einer der ersten wies Herbert Kremp am 27.2.02 in der "Welt" darauf hin:
"Die Bush-Doktrin wird sich in ihrer Entwicklung nicht auf die Beseitigung der terroristischen Untergrundmächte und ihrer Helfer beschränken. Ihre konsequente
Verfolgung impliziert die Ausweitung in drei Richtungen:
-
Kontrolle der vorder- und zentralasiatischen Transferstaaten vom Kaukasus bis
zum Hindukusch;
- Verhinderung der islamistischen Machtergreifung in Saudi-Arabien;
- Konzentration des Interesses auf den Iran, Indien und China, wo neue Macht-
Agglomerationen entstehen."
Kremp bescheinigte der Bush-Doktrin: "Sie diktiert einen Verhaltenskodex am
Rande der Unterwerfung".
Hinter der US-Militärpolitik steht die US-Wirtschaftspolitik
"Wenn der irakische Diktator Saddam Hussein wissen will, wie lange er
voraussichtlich noch an der Macht sein wird, dann muss er dreierlei im Auge
behalten:
-
amerikanische Meinungsumfragen, die Kurse an der Wall Street und den
Sitzungskalender von Senat und Repräsentantenhaus: Denn US-Präsident George Bush
wird seinen immer wieder angekündigten Angriff auf Bagdad letztlich von
innenpolitischen und wirtschaftspolitischen Faktoren abhängig machen", begann
Wolfgang Koydl seinen Artikel "Bereit fürs Abenteuer in Bagdad"(Süddeutsche
Zeitung, 19.7.2002).
-
Nach Enron- und Worldcom-Konkursen stehen Vizepräsident Cheney als ehemaliger
Chef des weltweit größten Ölindustriezulieferers "Hulliburton" wie auch Georg
W. Bush als ehemaliger Top-Manager des Öldienstleistungsunternehmens "Harken Öl"
wegen Bilanzfälschungen und ihrer Verwicklung in Insidergeschäfte in der
öffentlichen Kritik - und vor den Kongress-Zwischenwahlen im November 2002
unter enormen Druck.
-
Im Auge behalten sollte die irakische Führung auch die Wirtschaftsseite
der FAZ. Ein "unter der Rubrik `Finanzmärkte´ sehr versteckter Artikel weist
am 16. Juli darauf hin, dass an den Terminbörsen in London und New York ein
atypischer Preisanstieg bei kurzzeitig fälligen Ölkontrakten zu verzeichnen
sei. Börsianer fragen sich, ob da Kräfte am Werk sein könnten, die mit
baldigen Versorgungsschwierigkeiten rechnen. Der Irak ist ein bedeutender
Ölexporteur: In Falle eines Krieges würde er die Ausfuhren vermutlich
einstellen", schrieb Michael Jäger in der Wochenzeitung "Freitag"
("Krieg im Herbst?", 26.7.02).
Bereits am 22.4.02 berichtete die Frankfurter Rundschau, dass die
US-Rüstungsindustrie "einen Boom wie seit 20 Jahren nicht mehr" erlebt und
führte aus:
"Sollten die Pläne für eine Militäroffensive gegen Irak wahr werden, kann
die US-Rüstungsindustrie auf weitere Wachstumsimpulse hoffen. Rüstungsaktien
sind nach Einschätzung von Experten in jedem Fall auf längere Sicht eine
sichere Anlage. Allein bei den vier Branchenriesen Lockheed Martin, Northrop
Grumman, Raytheon und General Dynamics stiegen die Aktienwerte seit den
Anschlägen vom 11. September zusammen um 44 Prozent. Nicht nur, dass der
Krieg kurzzeitig die Produktion ankurbelt, indem Nachschub an Bomben,
Ersatzteilen und sonstigen Rüstungsgütern geliefert werden muss. Vor allem
ist es die Hoffnung auf eine längerfristige Serie lukrativer Aufträge, die
die Aktienkurse `dramatisch´ in die Höhe schießen lassen, sagt Paul Nisbet
von JSA Research, einem Forschungsinstitut der Luftfahrtbranche. Der
Afghanistankrieg hat die Waffenarsenale an mancher Stelle weitgehend geleert,
so dass jetzt erst einmal nachgefüllt werden muss. So weitete Boeing in St.
Charles/Missouri den Schichtdient aus, um die Produktion von JDAM-
Präzisionssystemen für die `smart bombs´ anzukurbeln. Derzeit sind die
Vorräte so erschöpft, dass nach Meinung mancher Experten ein Angriff
auf Irak gar nicht möglich wäre".
Im Herbst 2002 werden voraussichtlich die Mindestmunitionsmengen für
einen Irak-Krieg wieder erreicht sein.
"Offensichtlich sei, dass die Kriegshandlungen die Investitionen in die
US-Rüstungsindustrie erhöhten und der Wirtschaft mehr Dynamik gäben, um aus
der bereits vor dem 11. September drohenden Rezession herauszukommen",
schrieben die katholischen Bischöfe Brasiliens Ende 2001 in ihrer
Monatsanalyse (zit. nach FR, 8.12.01).
Die neuen geplanten US-Präventivkriege werden vielleicht noch einige Jahre
den Niedergang der US-Wirtschaft hinauszögern können und etliche tausende
unschuldiger Opfer nach sich ziehen; ohne eine grundlegende Reform der US-
wie auch der gesamten Weltwirtschaft wird der wirtschaftliche Niedergang der
einzigen Weltmacht wohl kaum noch aufzuhalten sein.
Die USA sind ein wirtschaftlicher Koloss auf tönernen Füßen
Der Spiegel erschien am 8.7.02 mit dem Aufmacher "Der neue
Raubtierkapitalismus - Mit Gier und Größenwahn in die Pleite", in dem
Parallelen zwischen 1929 und 2002 hergestellt wurden.
Der Titel beschreibt m.E. zutreffend die derzeitige Verfassung der
US-Wirtschaft.
Einer der führenden US-Ökonomen, Paul Krugmann, erklärte Anfang 2002,
dass sich die Enron-Pleite einmal rückblickend als bedeutsamerer
Wendepunkt für die US-Gesellschaft erweisen würde als der Einsturz des
World Trade Centers.
Wilfried Wolf wird nicht müde, immer wieder auf die Grunddaten der
US-Wirtschaft hinzuweisen, so z.B. in seinem Beitrag "Terror der Ökonomie",
junge Welt, 27./28.7.02:
Obwohl die USA weltweit rund die Hälfte aller Auslandsdirektinvestitionen
tätigen, sieht es in der Gesamtschau derzeit sehr düster aus:
-
Nach fünf Jahren Haushaltsplus wird das am 30.9.02 endende US-Wirtschaftsjahr
mit einem Minus von 165 Milliarden US-Dollar schließen.
- Die per Gesetz auf 5590 Milliarden Dollar festgelegte Obergrenze für die
öffentliche Verschuldung musste im Juni 2002 - mit Verweis auf höhere Gewalt -
angehoben werden.
- Die Schulden der privaten Haushalte liegen aktuell bei 108 Prozent des
Bruttoinlandproduktes, was einen Spitzenwert innerhalb der OECD-Staaten
darstellt.
- Das Nettovermögen der privaten Haushalte, bereinigt um die Inflation, sank
von einem Spitzenwert im ersten Quartal 2000 bis zu seinem vorläufigen
Tiefpunkt im 3. Quartal 2001 um 12,3 Prozent oder umgerechnet ca. 400
Milliarden Dollar, was 40 Prozent des Bruttoinlandproduktes entspricht.
- Wegen der weltweiten Konjunkturschwäche und der Abwertung des Dollars
vergrößerte sich das US-Leistungsbilanzdefizit im ersten Quartal 2002 auf
ein Rekordminus von 112 Milliarden Dollar. Schon seit vielen Jahren krankt
die US-Wirtschaft daran, dass sie unverhältnismäßig mehr Waren importiert
als exportiert.
- Japanische Anleger halten rund ein Drittel aller US-Staatsanleihen. Hält die
Krise in Japan weiter an und wird dieses Kapital in Zukunft entweder an der
asiatischen Heimatfront oder im zunehmend lukrativeren Euroland angelegt,
gerät die US-Wirtschaft noch tiefer ins Trudeln.
Während der US-Verteidigungshaushalt bis 2007 auf die astronomische Summe von
451 Milliarden US-Dollar angehoben werden soll, erwägen 17 US-amerikanische
Bundesstaaten, die Schulwoche auf vier Tage zu reduzieren, weil sie die
Lehrkräfte nicht mehr bezahlen können.
Wo bleibt der Widerstand der europäischen Politik?
"Das politische Washington neigt immer mehr zu der Schlussfolgerung, dass
Europa weder politisch noch militärisch ein ernsthafter Partner bei der
Gestaltung von Weltordnung sein will, dass Europa sich der Übernahme
globaler Verantwortung entzieht. Die Passivität der europäischen Staaten
muss umso mehr erstaunen, da die Politik der Regierung Bush dem Prinzip
der europäischen Integration - der zunehmenden Verrechtlichung
internationaler Beziehungen - zuwiderläuft und die Grundinteressen
europäischer Außen- und Sicherheitspolitik, Multilateralismus und
Multipolarität, immer deutlicher negiert", bilanziert Otfried Nassauer
(FR, 15.7.02).
Noch deutlicher wird Egon Bahr: "Die erkennbare und beschlossene
amerikanische Rüstungspolitik stellt einen fundamentalen Angriff gegen
die erklärten europäischen Interessen dar". Dies "wird Europa nicht vor
der Entscheidung bewahren, ob es seine Streitkräfte als Schild Europas
oder als Schwert Amerikas auslegen will. Ob es sicherheitspolitisch
Protektorat bleiben oder selbstbestimmt werden will; ... Vasallen
erstreben das Lob der Protektoratsmacht, Partner respektieren und
berücksichtigen unterschiedliche Rollen", so Bahr (in: Wissenschaft
und Frieden, 3/02, S.15).
"Vor einem Irak-Feldzug dürfen die Europäer nicht nur murren, sie müssen
die USA unter Druck setzen", fordert Stefan Kornelius in der Süddeutschen
Zeitung (23.7.02) und führt aus:
"Die Europäer reagieren auf die Vorstellung von einem neuen Krieg am Golf
apathisch: Sie stellen resigniert fest, dass es sich nur noch um eine
Terminfrage handle. Im Grundsatz sei die Entscheidung über den Einsatz
gefallen. Diese Einstellung ist aber falsch, weil sie Europas Einfluss
mutwillig verkleinert und gleichzeitig immenses Konfliktpotenzial in
die Gesellschaften trägt".
Wer, wie die europäischen Regierungen dies derzeit tun, den Kopf in den
Sand steckt, wird bald mit den Zähnen knirschen.
Mögliche Schritte der Bundesregierung
Erste Schritte im Hinblick auf eine eigenständige Politik der
Bundesregierung, die dem Grundgesetz, dem Völkerrecht und der Humanität
verbunden wären, könnten im Hinblick auf den geplanten Irak-Krieg sein:
-
Die Aufkündigung der "bedingungslosen Solidarität" im so genannten
"Anti-Terror-Krieg".
- Der Rückzug der deutschen ABC-Spürpanzer aus Kuwait und der
Seefernaufklärer "Breguet Atlantic" vom Horn von Afrika.
- Die Verweigerung von Überflugrechten durch den deutschen Luftraum für
US-Angriffsflüge.
- Die Verweigerung jeglicher finanzieller Unterstützung für einen
US-Irak-Feldzug.
- Der Aufbau einer internationalen Allianz, die die europäischen Staaten
inklusive Russland sowie China und Indien umfasst, und unter dem Dach der
UN eine zivile Lösung der Irak-Frage durch die Wiederzulassung von
UN-Inspektoren bei gleichzeitiger Aufhebung des Embargos anstrebt.
Das zeitliche Zusammentreffen der NATO-Tagung im November 2002 in Prag mit
der dort zur Beschlussfassung stehenden US-Forderung nach Unterstützung
präventiver Kriege bei gleichzzeitig laufenden Drohungen gegen Irak im
Vorfeld der deutschen Bundestagswahl weckt Erinnerungen an den
bevorstehenden NATO-Gipfel1999 mit dem Beschluss zu Militärinterventionen
ohne UN-Mandat und dem zeitlich parallel laufenden Präzedenzfall "Kosovo"
im Vorfeld der Bundestagswahl 1998.
Wieder wird an einem möglichen Wendepunkt der deutschen Innenpolitik eine
alte wie möglicherweise neue Bundesregierung von den Washingtoner Strategen
in die sicherheitspolitische Zange genommen.
Den - wahrscheinlich nicht unerheblichen - Konflikt mit der US-Regierung
in der Irak-Frage zu riskieren, könnte den Beginn einer neuen Phase der
transatlantischen Beziehungen einläuten.
Dies wäre ein mehr als überfälliger Schritt - und ein Gebot der
politischen Vernunft.
* Clemens Ronnefeldt, Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes
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