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"Unzeitgemäßes" oder ein "Segen"?

Kommentare zur Wahl eines Interimspräsidenten im Irak - Porträt des Kurdenführers Talabani

Nach wochenlangem Tauziehen um die Besetzung des höchsten Staatsamtes wählte das Parlament in Bagdad am 6. April mit großer Mehrheit den Vorsitzenden der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), Dschalal Talabani, zum neuen Staatschef. Der Irak hat damit erstmals in seiner Geschichte einen kurdischen Präsidenten. Talabanis Stellvertreter im dreiköpfigen Präsidialrat wurden der bisherige Übergangspräsident, der Sunnit Ghasi el Jawar, sowie der bisherige Finanzminister, der Schiit Adel Abdel Mahdi. Alle drei Kandidaten erhielten bei der Abstimmung jeweils 228 Stimmen. Von den 275 Abgeordneten waren 257 anwesend; 29 Stimmzettel waren ungültig.

Nach Angaben von Parlamentspräsident Hassani sollen die Mitglieder des Präsidialrates bereits am 7. April ihren Amtseid ablegen. Laut Talabani will der Präsidialrat am selben Tag den Schiiten Ibrahim Dschaafari zum Ministerpräsidenten ernennen. Das Kabinett werde voraussichtlich kommende Woche feststehen. Alle Ämter gelten bis zu der für Dezember geplanten Parlamentswahl.

Talabani sagte nach seiner Wahl vor den Abgeordneten, er werde sich am Aufbau eines demokratischen Staates beteiligen, "der die Freiheit für alle garantiert und der dem Terrorismus, der Korruption und dem rassistischen Gedankengut ihre Wurzeln entzieht". Der frühere kurdische Rebellenführer sprach sich für einen Dialog mit den Aufständischen aus: "Die Iraker, die Waffen tragen, um gegen ausländische Kräfte zu kämpfen, sind unsere Brüder und wir können mit ihnen reden", sagte er. Für El-Kaida-Anhänger um den jordanischen Extremisten Abu Mussab el Sarkawi gelte dies nicht. "Es gibt eine Trennlinie zwischen den mit dem Ausland verbundenen Terroristen und den Irakern, die denken, dass ihre bewaffneten Aktionen im Interesse des Irak sind", sagte Talabani.

Im Folgenden dokumentieren wir eine Reihe von Stellungnahmen aus der Tagespresse, die die Regierungsbildung im Irak kommentieren. Wir beginnen mit zwei Beiträgen von Karl Grobe: einem Kommentar zur bevorstehenden Wahl (er erschein bereits am 6. April) sowie einem Porträt von Talabani (erschienen in der FR am 7. April).



Unzeitgemäßes in Irak

VON KARL GROBE

Die Souveränität hat Irak im vergangenen Jahr erhalten, darauf eine verfassunggebende Versammlung gewählt, die sich ein Präsidium gab und am heutigen Mittwoch wohl einen Staatspräsidenten und seine zwei Stellvertreter bestimmen wird. Die Akte "Demokratisierung" wird umfangreicher. Sie enthält formale Voraussetzungen. Das Konvolut, in dem Inhalte gesammelt werden sollen, trägt weiterhin den Stempel "Ungelöst".

Industrieminister Hajem al-Hassani, der neue Sprecher der Nationalversammlung, ist Sunnit. Seine Wahl und die der beiden Vize-Sprecher, eines Schiiten und eines Kurden, folgt der Vorgabe, die Spitzenämter nach ethno-religiösem Proporz zu vergeben. Man kann dies als Symbol nationaler Versöhnung ansehen. Die sunnitische Minderheit hatten ja viele unter den Generalverdacht gestellt, sie habe das Regime des Diktators Saddam Hussein getragen. Doch in der politischen Wirklichkeit verhielt es sich anders. Saddam Hussein hatte seine Vertrauensleute und Diktaturgehilfen aus Clanverbänden rekrutiert, die mit seinem eigenen Clan mehr oder weniger eng verbandelt waren; es war eine Minderheit in der Minderheit, deren überwiegender Teil jedoch ebenso Opfer der Diktatur war wie die anderen Gruppen.

Die Zerlegung der irakischen Gesellschaft in die drei Gruppen ist künstlich. Vor Saddam, und noch in der ersten Hälfte seiner Alleinherrschaft, hatte Irak die kommunalistische Spaltung hinter sich gelassen. Zumal in den Städten war eine zivile Gesellschaft herangewachsen, in der Religiöses keine bestimmende Rolle mehr spielte. Der Staat war unter der alten Verfassung laizistisch. Daran anzuknüpfen und im übrigen Religionsfreiheit allgemein zu garantieren, wäre der zeitgemäßere Ausweg aus der Krise. Das Übergewicht der Schiiten, ihre politische Mobilisierung durch die geistigen Führer in Nadschaf, heimgekehrte Exilpolitiker und radikale Bewegungen haben den Weg ebenso versperrt wie die Besatzungspolitik, die auf dieser Spaltung aufbaute.

Das ist die erste Last, welche der neue Staat zu tragen hat. Der angesehene und über Konfessionsgrenzen hinaus respektierte Ayatollah Ali Sistani strebt, seiner eigenen Lehre strikt folgend, wohl einen von Nicht-Geistlichen regierten Staat an; doch ebenso strikt fordert er ein, den Islam schiitischer Prägung zur Rechtsquelle und zum entscheidenden Teil der gesellschaftlichen Verfassung zu machen.

Die Auseinandersetzungen über das bis Ende August zu schreibende Grundgesetz dürften von dieser Problematik bestimmt werden. Da der kommende Regierungschef Schiit sein soll, wie es die akzeptierten Vorgaben verlangen, sind viele Voraussetzungen zur Erfüllung dieses Willens gegeben. Der Regierungschef hat die eigentliche Machtposition. Die Ämter des (sunnitischen) Parlamentssprechers und des (kurdischen) Staatspräsidenten haben zeremonielle Bedeutung, nicht viel mehr. Sie stiften das äußere Bild der Einheit, das Arrangement selbst aber festigt die Spaltung.

Wenn die Ämter, einschließlich der leitenden Funktionen in den Ministerien, aber nach diesem Proporz statt nach politischem Programm und - wünschenswerter - gründlichem Sachverstand zugeteilt werden, muss das zu Klientelwirtschaft und der Festigung einander bekämpfender Seilschaften führen. Keine Frage: Schon die dringende Aufgabe, sichere Verhältnisse ("Ordnung") zu schaffen, wird dadurch erschwert. Dem fortdauernden Widerstand und erst recht den terroristischen Trittbrettfahrern der Krise wird so die Grundlage ganz und gar nicht entzogen. Die Entführung des Generals der am besten für diese Arbeit gerüsteten Truppe durch zunächst unbekannte Täter am Dienstag weist auf diese Dimension hin.

Es stehen weitere Machtproben bevor. Unzufrieden mit der Verzögerung bis zur Wahl des Parlamentssprechers hat Sistani mit dem Aufmarsch einer Million seiner Anhänger gedroht. Dahinter steht nicht nur der berechtigte Wunsch nach Beschleunigung. Es geht offensichtlich auch darum, den kurdischen Parteien, die sich einig sind wie selten, die Instrumente zu zeigen. Das Stichwort heißt Kirkuk. Diese Stadt fordern die kurdischen Parteien zurück - und die Verfügungsgewalt über das Erdöl der Region. Der Konflikt gefährdet das schiitisch-kurdische Einverständnis, wieder unter kommunalistischen, also vor-demokratischen Vorzeichen. Er destabilisiert.

Von demokratischen, friedlichen Verhältnissen und von ruhigem Wiederaufbau bleibt Irak noch weit entfernt. Ein Modell für die weitere Region wird es noch lange nicht. Und das fällt auch auf die Irak-Politik Washingtons zurück.

Aus: Frankfurter Rundschau, 6. April 2005


PORTRÄT

Widerständig

VON K. GROBE (FRANKFURT A. M.)

Die irakische Nationalversammlung hat am Mittwoch drei wichtige Personalentscheidungen getroffen: Sie wählte den Kurden Dschalal Talabani zum Staatspräsidenten und bestimmte den Schiiten Adel Abdul Mahdi (bisher Finanzminister) sowie den Sunniten Ghazi al Jawer (bisher Interimspräsident) zu Vizes. Zugleich trat ein neuer US-Botschafter in Bagdad an. Zalmay Khalilzad, gebürtiger Afghane, hatte sich in Kabul bei der Einsetzung des dortigen Staatschefs Hamid Karsai bewährt und gilt als "troubleshooter" für George W. Bush.

Der 72-jährige Talabani hat eine bewegte politische Karriere hinter sich. In den fünfziger Jahren, als die kurdische Unabhängigkeitsbewegung noch ganz auf Mullah Mustafa Barzani ausgerichtet war, gründete er die Studentenunion dieser Bewegung. In der ausschlaggebenden Demokratischen Partei Kurdistans (DPK) rückte er in den engeren Führungskreis auf. Damals kämpfte die DPK gegen das Bagdader Regime Abdul Karim Kassems. Kassem wurde 1963 gestürzt. Mit der neuen Militärregierung unter Abdessalam Arif glaubte Talabani zusammenarbeiten zu können; die Barzani-Richtung glaubte das nicht - seitdem ist die Kurdenbewegung gespalten.

Mitte der Siebziger gründete Talabani die Patriotische Union Kurdistans (PUK), auch um den Kampf gegen das Bagdader Baath-Regime härter zu führen, was ihn nicht an gelegentlicher Zusammenarbeit mit der Zentralregierung hinderte. Die Macht der PUK konzentrierte sich auf den Süden des irakischen Kurdistan. Gegen die PUK-Hochburgen setzte Saddam 1988 in der Anfal-Offensive Giftgas ein.

Talabani entkam der Anfal-Offensive durch die zeitweilige Emigration nach Iran. Die Teheraner Ayatollahs setzten aber stärker auf Barzanis DPK. Aus der Rivalität der beiden Bewegungen entstand schließlich die Zweiteilung des von den USA nach 1991 garantierten kurdischen Autonomiegebiets.

Talabanis Zone nimmt den Süden der Autonomiezone mit der Stadt Süleymanije ein, die DPK beherrscht den Norden mit Erbil. 1992 richtete eine Koalition von PUK und DPK eine gemeinsame Verwaltung ein, doch kam es zwei Jahre später nochmals zu einem kurdischen Bruderkampf.

Talabani und Barzani wurden von den USA 2003 in den Übergangs-"Regierungsrat" berufen. Dem Schiiten Ali Sistani bringt Talabani hohen Respekt entgegen, weil er "keine Geistlichen auf Ministerposten" haben will. Im Gegensatz zu Sistani besteht Talabani aber auf einem weltlich geprägten Staat und kurdischer Autonomie.

Aus: Frankfurter Rundschau, 7. April 2005


Für Gudrun Harrer im Wiener "Standard" ist die Wahl von Talabani "ein Segen für den Irak". In ihrem Kommentar heißt es u.a.:

(...) Dennoch fällt es schwer, sich ungetrübtem Optimismus hinzugeben, wenn man den Prozess der vergangenen Wochen genau verfolgt hat. Die Geschichte der irakischen Regierungsbildung ist nicht nur eine des Erfolges, sondern auch eine des Scheiterns. Nicht ohne Grund weiß man nichts Inhaltliches über eine Regierungsvereinbarung der beiden Wahlsieger - Schiiten und Kurden -, die von der von den USA für die irakischen Verhältnisse maßgeschneiderten Interimsverfassung quasi in eine Koalition gezwungen wurden. Denn es gibt keine Einigung in jenen Punkten, die entscheidend für die Zukunft des Irak sein werden - vor allem der Status und die Grenzen Kurdistans -, und sorgfältige Beobachter fragen sich, woher die Einigung bis zum laut Interimsverfassung vorgeschriebenen Termin, an dem der ganze weitere "nation building"-Prozess hängt, kommen soll. Es ist weit und breit kein Konzept in Sicht, das die kurdischen föderalistischen Aspirationen und die schiitischen zentralistischen Staatsvorstellungen unter einen Hut bringen würde. Dazu müssen auch noch die Sunniten in den Prozess eingebunden werden, die ebenfalls, wie die Kurden auch, genügend Provinzen kontrollieren, um einen Verfassungsentwurf durch das in der Interimsverfassung vorgesehene Vetorecht zu Fall bringen zu können. Das Gerangel zuerst um den für die Sunniten reservierten Posten des Parlamentspräsidenten und dann um den des sunnitischen Vizepräsidenten lässt nichts Gutes bezüglich der Kooperationsfähigkeit der Sunniten, für die sie eine gewisse Einigkeit bräuchten, erwarten. Auch die Wiederherstellung der Sicherheit hängt stark an integrativen politischen Fortschritten. (...) Allein, wenn die neue Regierung es schafft, glaubwürdige Schritte zu "good governance" und "rule of law" zu setzen, wäre sie ein echter Segen für den Irak.

Aus: DER STANDARD, 8. April 2005


Postenwechsel in Bagdad

Von Rüdiger Göbel

Im besetzten Irak wird munter das Personalkarussell gedreht, zu sehen sind immer die alten Gesichter. Kein Wunder, die politischen Spitzenämter im US-kontrollierten Zweistromland werden alle von bisher bewährten Kollaborateuren Washingtons besetzt. Nach wochenlangem Postengeschacher wurde am Mittwoch der Clanchef und Begründer der »Patriotischen Union Kurdistans« (PUK), Dschalal Talabani, vom irakischen Parlament zum neuen Übergangspräsidenten gewählt. Der bisherige Interimspräsident Ghasi Al Jawar und der bisherige Finanzminister Adel Abdul Mahdi wurden zu Talabanis Stellvertretern bestimmt. Erst vor wenigen Tagen war der bisherige Industrieminister Hadschem Al Hassani auf den Posten des Parlamentspräsidenten gewechselt.

Talabani kündigte am Mittwoch an, sich für den Aufbau einer Demokratie – unter US-Okkupation – einzusetzen. Er rief zum Dialog mit den bewaffneten Besatzungsgegnern auf. »Die Iraker, die Waffen tragen, um gegen ausländische Kräfte zu kämpfen, sind unsere Brüder und wir können mit ihnen reden«, sagte er. Der 72jährige soll am heutigen Donnerstag in der von US-Soldaten bewachten »Grünen Zone« im Zentrum Bagdads seinen Amtseid ablegen.Danach muß der Kurde einen Ministerpräsidenten ernennen. Nach den bisherigen Absprachen soll dies der Schiite Ibrahim Al Dschafari werden. Auch die Kabinettsposten sind weitgehend verteilt. Einzig über die Benennung des Ölministers sind sich schiitische und kurdische Gruppen noch nicht einig geworden.

Das Parlament – hervorgegangen aus der von Washington Ende Januar veranstalteten Wahlfarce – soll bis Mitte August eine Verfassung erarbeiten, die den Weg für Neuwahlen im Dezember und eine dauerhafte Regierung ebnen soll. Die Präsenz der amerikanischen Besatzungstruppen bleibt davon unberührt.

Über der Bagdader Regierung steht künftig Zalmay Khalilzad. Der derzeitige US-Botschafter in Afghanistan soll amerikanischer Chefdiplomat in der irakischen Hauptstadt werden. Das kündigte Außenministerin Condoleezza Rice in Washington an. Khalilzad folgt den Machthabern John Negroponte und Paul Bremer.

Für Samstag mobilisiert der schiitische Geistliche Muqtada Al Sadr in Bagdad zu einer Großdemonstration gegen die US-Okkupation.

Aus: junge Welt, 7. April 2005


Amtsakrobatik

Von Frank Wehner

Teils unter Lebensgefahr wählten die Iraker. Und siehe da, es lohnte sich. Schon nach neun Wochen fand sich ein Sunnit, der Parlamentschef werden wollte. Zwar ist er bei seiner Bevölkerungsgruppe wenig angesehen, doch er beweist, dass nicht nur Amerikaner nebst ausgewählten Schiiten sowie Kurden herrschen. Mehr noch: Jetzt gibt es sogar einen Präsidenten, und eine Regierung wird bald folgen.

Mit der Demokratie geht es voran, so wie es Bush vorausgesehen hat. Gut Ding will eben Weile haben, und Pfründe zu verteilen, dauert. Nun aber wird die Amtsakrobatik der neuen Elite abgeschlossen.

Genugtuung empfinden zu Recht die Kurden, die, in der Vergangenheit grausam unterdrückt, erstmals den Staatschef stellen. Ein gutes Zeichen ist es aber nicht, dass sie dies nicht unter irakischer, sondern ihrer eigenen Fahne feiern. Eine Integrationsfigur, die Irak dringend nötig hat, wird Talabani kaum, und ob er auf Dauer mit den Schiiten harmoniert, die sich das Amt des Regierungschefs ausbaten, steht in den Sternen. Fehlgeschlagen ist die Einbindung der Sunniten, der dritten wichtigen Bevölkerungsfraktion, einige Feigenblätter ändern nichts daran.

Kurzum: Unter dieser Führung wird Irak nicht zum blühenden Landstrich. Was auch kein Wunder ist. Man hat’s ja in Georgien, der Ukraine und in Kirgisstan gesehen. Fragwürdige Wahlen führen schwerlich zu gelungenen Resultaten. Vergessen hat man nur, dass dies nicht nur für einstige Sowjetrepubliken gilt.

Aus: Neues Deutschland, 7. April 2005


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