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Wie Volksaufstände entstehen und enden

Von der Amerikanischen Revolution bis zum Irak

Amerika hat den Krieg im Irak verloren, sagt der einstige US-Sicherheitsberater William R. Polk. Die Geschichte zeige, eine fremde Macht könne gegen einen Volksaufstand nicht gewinnen. Jetzt müssten die Besatzungstruppen so schnell wie möglich abziehen.
Polk studierte in Kairo und Oxford. Ab 1961 gehörte er zum Planungsausschuss des US-Außenministeriums und war zuständig für den Nahen Osten, Nordafrika und Zentralasien. 1965 übernahm er eine Professur in Chicago. Zuletzt veröffentlichte er Violent Politics: A History of Insurgency. Terrorism and Guerilla War from the American Revolution to Iraq (Harper Collins, 2007). Die vollständige Fassung des vorliegenden Textes findet sich in der aktuellen Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" (Bezugshinweise am Ende dieser Seite).
Wir dokumentieren die gekürzte Fassung, wie sie auch in der Wochenzeitung "Freitag" vom 4. Januar 2008 unter der Rubrik "Dokument der Woche" zu lesen ist.



Von William R. Polk

George W. Bush hat die Geschichte des Vietnamkriegs umgeschrieben. Wenn wir im Irak nicht Kurs hielten, müssten wir die Schrecken der Killing Fields nochmals erleben, meint er. Lassen wir die verblüffende Tatsache beiseite, dass Bush offenbar nicht weiß, dass die Killing Fields in Kambodscha lagen und konzentrieren wir uns auf seine Argumente.

Er erklärt, wir hätten in Vietnam besser "Kurs halten" sollen. Genau das haben wir dort 16 Jahre lang vergeblich getan. Sogar noch vier Jahre nach der Tet-Offensive von 1968, die definitiv zeigte, dass wir den Krieg nicht gewinnen konnten. Zwischen 1968 und 1972 verloren wir weitere 21.000 junge Soldaten. Zudem verweist Bush auf die gewaltigen militärischen Anstrengungen in Vietnam, auch als dort eine halbe Million US-Soldaten standen, konnten wir die soziale Revolution nicht verhindern. Und doch hat der Präsident Recht: Vietnam erteilt Lektionen - man kann an diesem Beispiel lernen, wie Volkserhebungen verlaufen.

Guerillakriegführung umfasst drei Komponenten: Politik, Verwaltung, bewaffneter Kampf. Die Guerilla muss den Anspruch durchsetzen, sie spreche für ihr Volk. Im Allgemeinen haben die Aufrührer dies getan, indem sie sich als die einzig wahren Vertreter der nationalen Sache empfahlen. So müssen die Kämpfer zunächst die Institutionen der bestehenden Regierung zerstören und einen "Gegenstaat" schaffen. Schließlich muss die Guerilla zeigen, dass sie die Regierung von der Bevölkerung trennen und zur Kapitulation zwingen kann.

Präsident Ho Chi Minh verkörperte bereits gegen Ende des Zweiten Weltkrieges den vietnamesischen Nationalismus. Er hatte lange Zeit gegen den französischen Kolonialismus Widerstand geleistet, und Präsident Eisenhower glaubte, Ho Chi Minh wäre bei jeder Präsidentenwahl für einen 80-Prozent-Erdrutschsieg gut gewesen.

Schon 1960 hatte die südvietnamesische Regierung faktisch aufgehört zu funktionieren. Jenseits des Stadtkerns von Saigon konnte sie nicht einmal mehr die Postzustellung garantieren, während die Guerilla-Einheiten der Vietminh im Süden eine eigene Verwaltung schufen. Diese Aufstandsphase verbürgte schon einmal 15 Prozent des Sieges von 1975, so dass der Kampf bereits zu 85 Prozent verloren war, als die Amerikaner Anfang der sechziger Jahre in Südvietnam aktiv wurden. Die Vorstellung, einen Krieg zu verlieren, in dem uns Leute entgegen traten, die wir schlicht als Hooligans betrachteten, galt seinerzeit als pure Ketzerei. Also stürzten wir uns Hals über Kopf in militärische Aktivitäten und stellten unsere ganze Ökonomie auf Kriegführung um. Viele der Sprüche, die wir heute zu hören bekommen, wurden damals erfunden: "Wir brauchen mehr Zeit." - "Wir stehen kurz vor dem Erfolg." - "Die Umstände verbessern sich." - "Wenn wir das Land verlassen, stürzt Vietnam ins Chaos."

Der General erzählt mit großem Tamtam, "Counterinsurgency" sei die Lösung

Begonnen werden Aufstände fast immer von winzigen Gruppierungen: den Vietminh (Vietnams Unabhängigkeitsbewegung) gründeten 34 Leute - Fidel Castro begann mit etwa einem Dutzend Gefährten. Folglich kann ein Aufstand zunächst kein Guerillakrieg sein. Die Rebellen gebrauchen die Waffe der Schwachen - den Terrorismus. Haben ihre Anschläge Erfolg, versucht die herrschende Macht, die Terroristen zu unterdrücken, und trifft dabei Unbeteiligte. In Spanien hängten Napoleons Soldaten nicht nur Rebellen, sondern ebenso deren vermeintliche Helfer; in Jugoslawien griffen die Deutschen ab 1941 zu drakonischer Vergeltung: Für jeden von Partisanen getöteten Soldaten exekutierten sie Hunderte von Geiseln. Angehörige und Freunde der Toten suchten ihrerseits Vergeltung und stießen zum Widerstand.

Fidel Castros Schar wuchs binnen eines Jahres von einem Dutzend auf 1.500 Kämpfer an, die Vietminh in noch kürzerer Zeit auf 5.000. Dennoch bleiben Aufständische von ihrer Zahl her stets unterlegen, also versucht die herrschende Macht, sie zu zerstören. In Vietnam ließ uns das einen Völkermord verüben. Dabei zeigt die Geschichte, dass gleiche Mittel stets zu gleichen Ergebnissen führen: Sie alle scheitern erbärmlich. In der Konsequenz heißt das - Gewalt, selbst massiver Gewalteinsatz bringt nichts. Und zwar nie.

General David Petraeus, der Oberkommandierende im Irak, räumt nun das Scheitern der bisherigen Strategie ein und schlägt eine andere Methode vor: Counterinsurgency, obwohl bekannt ist, genau dies war schon in Vietnam ein Irrweg. Dort sperrten wir sieben von zehn Landbewohnern hinter Stacheldraht in "Strategische Dörfer", verhafteten oder ermordeten Zehntausende "Verdächtige" und vernichteten ganze Regionen durch Bomben und Entlaubungsmittel. Und jetzt erzählt uns Petraeus mit großem Tamtam, Counterinsurgency sei die Lösung im Irak, konzediert aber: "Die zentrale Frage bei Aufständen und Aufstandsbekämpfung ist die politische Macht. Beide Seiten haben das Ziel, die Bevölkerung zu bewegen, ihre Regierungsführung oder Machtstellung als legitim anzuerkennen."

Wenn das der Wahrheit entspricht - kann das ein für Ausländer erreichbares Ziel sein? Nein. In unserem Zeitalter politisch bewusster Völker wird es überall abgelehnt, von außen regiert zu werden. Schon während der amerikanischen Revolution waren die Siedler überzeugt, die Präsenz britischer Truppen in Boston heize den Aufstand nur an. Die Iraker von 2007 haben heute das gleiche Gefühl wie die Amerikaner von 1775.

Können wir nicht einfach die irakische Armee, die wir zum Preis von 20 Milliarden Dollar geschaffen haben, dazu bringen, die Sache zu erledigen? Auch das wurde in Vietnam probiert, im Vergleich zum heutigen Irak gab es dort eine Weltklassearmee - von uns ausgerüstet, ausgebildet und sogar geführt. Und wenn wir ihnen neue und bessere Waffen geben? Auch hier sollte uns Vietnam warnen: Die Aufständischen werden sie erbeuten oder einfach kaufen. In Vietnam waren es erst Franzosen und dann Amerikaner, denen die Guerilla ihre Ausrüstung verdankte. Im Irak schlug General Petraeus den gleichen Weg ein. 190.000 Sturmgewehre sind schlichtweg verschwunden. Petraeus sagt, er wisse nicht, wohin - die Iraker wissen es. Hier zeigt sich: Die ausländische Besatzungsmacht ist per definitionem fremd.

Monate werden zu Jahren, und aus Jahren werden Generationen

Nationalismus schlägt selbst die idealistischsten Ziele aus dem Feld. Die Spanier kämpften gegen Napoleon, obwohl die Franzosen die spanische Gesellschaft offener und gerechter machen wollten; doch gemessen an den Normen des Nationalismus, hielten die Spanier diese Ziele für belanglos. Was veranlasst uns zu der Erwartung, Iraker, Afghanen oder Somalis würden sich anders verhalten?

Was geschieht nun, wenn die herrschende Macht nicht siegen kann? Wenn sie das Land nicht verlässt, geht der Kampf weiter. Monate werden zu Jahren, und aus Jahren werden Generationen. Die Iren haben sich den Briten Jahrhunderte widersetzt, die Algerier kämpften länger als ein Jahrhundert gegen die Franzosen. Und wenn die ausländische Macht abzieht - geht der Kampf auch dann weiter?

Sobald ein Aufstand das erreicht, was seine Anführer und ein hinreichend großer Teil der Öffentlichkeit für ein annehmbares Ergebnis halten, werden die Guerillakämpfer überflüssig, und die Führer des Aufstands verwandeln sich oft in Regierungschefs: Tito wurde zum Präsidenten Jugoslawiens, Ahmed Ben Bella zum algerischen und Fidel Castro zum kubanischen Staatschef.

Heute bleiben uns drei Optionen. Die erste heißt: Kurs halten. In Vietnam haben wir das fast 16 Jahre lang getan. Wir verloren 58.226 Soldaten und verantworten den Tod von etwa 1,5 Millionen Vietnamesen. Schließlich mussten wir auf demütigende Weise abziehen. Unsere Regierung verfügt bisher über keinerlei Strategie, ein vergleichbares Ende des Irak-Abenteuers zu vermeiden.

Option zwei meint, was der Präsident als "cut and run" bezeichnet: ein überstürzter Rückzug, der kein furchtbares Chaos heraufbeschwören würde, denn der Irak ist bereits chaotisiert. Ein solcher Rückzug würde den Irak freilich in diesem Chaos sitzen lassen. 160.000 Mann und unsere massive Militärmacht haben das tägliche Desaster nicht beenden können. Rund vier Millionen Iraker sind geflohen, die Gesellschaft liegt in Trümmern, jeder Tag, an dem die Besatzung fortdauert, erschwert eine Genesung des Landes. Ob die überhaupt möglich ist? Zur Zeit der amerikanischen Revolution mahnte James Otis, einer unserer ersten Staatsmänner, falls die Briten gingen, "wäre Amerika nur noch ein Chaos aus Blut und Verwirrung". Es kam anders. Die Einheimischen begannen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Nur sie konnten den Aufstand beenden.

Wir müssen die Iraker davon überzeugen, dass wir ihr Land tatsächlich verlassen

Die Option Nr. 3 besteht darin, sich nach einem festen Zeitplan geordnet aus dem Irak zurückzuziehen. Zunächst wäre unsere Streitmacht durch ein "multinationales Stabilisierungskorps" zu ersetzen, das die Iraker selbst anfordern sollten. Eine solche Truppe sollte nicht versuchen, die Aufständischen niederzukämpfen, sondern ein annehmbares Maß an Stabilität zu garantieren. Wenn die breite Bevölkerung den Eindruck gewinnt, dass ihre Ziele in ausreichendem Maße erreicht sind, wird sie aufhören, den Aufstand zu unterstützen. Die multinationale Streitmacht hätte die Lücke zu schließen, die zwischen dem Rückzug der Amerikaner und einer Einigung der Iraker unweigerlich entsteht.

Zudem muss eine einsatzfähige irakische Polizei vorhanden sein, ergänzt durch die traditionellen Heimatschutzgarden im Viertel, im Dorf und im Stammesgebiet. Wir sollten aufhören, die irakische Armee zu fördern, denn solange das Land seine zivilen Institutionen nicht reaktiviert hat, stellt ein Heer für alle Iraker eine Bedrohung dar. Wir sollten die Milliarden von Dollar, die wir für die Armee ausgeben, stattdessen für etwas verwenden, was für den Wiederaufbau so gebraucht wird wie unser Corps of Engineers. Nur wenn wieder eine Infrastruktur zu Verfügung steht, entstehen auch Jobs, um die massive Arbeitslosigkeit zu vermindern.

Weiter müssen wir die Iraker davon überzeugen, dass wir ihr Land tatsächlich verlassen, weshalb die US-Armee unverzüglich den Auf- und Ausbau von Militärbasen einstellen sollte. Wir müssen aufhören, Söldnerarmeen - augenblicklich die zweitgrößte Streitmacht im Land - zu benutzen und zu bezahlen, da sie völlig unkontrollierbar sind und Amerikas Interessen wie seinen guten Ruf gefährden. Wir sollten auch alles vermeiden, was den Eindruck erweckt, dass wir die einzige relevante nationale Wirtschaftsressource des Irak in der Hand behalten wollen - sein Öl.

Und wir müssen von Bürgereinrichtungen bis zu Berufsverbänden die Zivilgesellschaft unterstützen. Man kann das mit der Rehabilitation nach einem chirurgischen Eingriff vergleichen: Ohne diesen Prozess wird sich die irakische Gesellschaft niemals vom Trauma des Krieges und der Besatzung erholen.

Ich schließe mit einem Zitat unseres großen Staatsmanns Thomas Jefferson: "Beeilen wir uns umzukehren und wieder den Weg einzuschlagen, der als einziger zu Frieden, Freiheit und Sicherheit führt." Beenden wir schnellstens diesen Krieg und beginnen wir um unserer Kinder und Enkel willen keinen neuen.


* Der vollständige Text dieses Beitrags erschien in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2008; im Internet: Wie Volksaufstände entstehen und enden

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