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Mord auf der Polizeiwache von Mansur

Iraks Bevölkerung fürchtet die "Sicherheitskräfte" kaum weniger als die Attentäter

Von Karin Leukefeld *

Das Koordinationskomitee von Nichtregierungsorganisationen in Irak (NCCI) hat erneut auf die katastrophale humanitäre Situation im Lande aufmerksam gemacht. Iraks Misere sei eine Mischung vieler Faktoren, betont NCCI. Mangel an Grundversorgung, Arbeitslosigkeit und steigende Inflation treiben die Menschen zur Verzweiflung. Hinzu kommen Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und fehlende Sicherheit. Eine Lösung für diese humanitäre Krise müsse mit Hilfe zum Leben verbunden werden, meint die Organisation.

Das erfordert jedoch, dass die Krise auch als eine solche eingestanden wird. Die irakische Regierung und internationale Organisationen agierten in der streng abgeriegelten »Grünen Zone«, von wo aus man die wirkliche Lebenssituation der Bevölkerung gar nicht erfassen kann. Der Kontakt zu den Menschen ist verloren gegangen.

Vor allem irakische Hilfsorganisationen stehen den Menschen im alltäglichen Überlebenskampf zur Seite, was sie ins Kreuzfeuer der Kämpfe rückt. Hilfsorganisationen müssten sich auf den Verhaltenskodex des Internationalen Roten Kreuzes beziehen und absolut neutral handeln, so NCCI. Nur so könnten sie sich glaubwürdig von privaten Organisationen, die im Auftrag der Besatzungsstreitkräfte tätig sind, unterscheiden.

Irakische Korrespondenten des UN-Informationsnetzwerks IRIN berichten, dass Iraker inzwischen oft mehr Angst vor »Sicherheitskräften« haben als vor Anschlägen. Das zeigt sich vor allem an Kontrollpunkte, wo US-amerikanische und irakische Soldaten, Polizisten oder Milizen agieren.

Der 39-jährige Samir Waleed schilderte gegenüber IRIN, wie man seinen Bruder an einem solchen Kontrollpunkt verschleppt hat. »Mein Bruder«, so Waleed, »war mit seiner Frau und den Kindern im Auto unterwegs, als sie von einem Polizisten an einem Kontrollpunkt in Mansur angehalten wurden. Sie nahmen ihn mit, und wir haben nie wieder von ihm gehört. Eine Woche später fanden wir ihn im Leichenhaus, mit drei Einschüssen im Kopf.« Man habe den Bruder beschuldigt, für die Aufständischen zu arbeiten, weil er einen langen Bart trug.

Offiziell erklärte die Polizei, der Bruder sei nach der Befragung wieder freigelassen worden, wahrscheinlich sei er von Aufständischen umgebracht worden. Doch Waleed ist sicher, dass sein Bruder auf der Polizeistation ermordet wurde, er kann es nur nicht beweisen. Drei Cousins und einen Onkel ereilte das gleiche Schicksal. Professor Bakr Muhammad von der Mustansariya- Universität bezeichnet diese Übergriffe als völlig inakzeptabel und fordert, dass die Regierung eingreift. Im Innenministerium ist man sich indes keiner Schuld bewusst. Polizisten und Soldaten nähmen ausschließlich Personen fest, bei denen sie überzeugt seien, dass sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellten, erklärte Oberst Ali Hassnawi.

Nach Angaben von Mukhaled al-Ani von der Irakischen Menschenrechtsorganisation (HRA) wurden seit Februar 2007 allein in Bagdad rund 100 Personen, die an Kontrollpunkten zum letzten Mal gesehen worden sind, als vermisst gemeldet. Weitere 25 Fälle wurden aus der Provinz Anbar gemeldet. Aus Angst gehen Angehörige nicht zur Polizei.

Im irakischen Menschenrechtsministerium sei man den Fällen nachgegangen, berichtet IRIN. Die Polizei habe für jeden Fall nachgewiesen, dass sie keine Schuld treffe. Die Unfähigkeit der Behörden, Morde und das Verschwinden von Menschen aufzuklären, hätte das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Armee, Polizei und Regierung erheblich gestärkt.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2007


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