Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Verschleiern von Verbrechen

Wie viele Menschenleben haben die Besatzer im Irak auf dem Gewissen? Eine neue Studie der Weltgesundheitsorganisation rechnet die Zahl der Opfer klein

Von Joachim Guilliard *

Das irakische Gesundheitsministerium hat mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation WHO eine repräsentative Haushaltsumfrage im Irak durchgeführt, die »Iraq Family Health Survey« (IFHS). In deren Rahmen wurde u. a. auch nach der Zahl der in den letzten Jahren gestorbenen Familienmitglieder sowie nach den Todesursachen gefragt. Das New England Journal of Medicine veröffentlichte im Januar eine darauf basierende Studie über gewaltsame Todesfälle im Land.[Siehe: Neue Studie ...] Demnach starben von März 2003 bis Juni 2006 ungefähr 151000 Irakerinnen und Iraker eines gewaltsamen Todes.[1]

Drei Studien konkurrieren

Der Untersuchungszeitraum war so gewählt worden, daß die Ergebnisse direkt mit einer ähnlichen Studie der Johns Hopkins University vergleichbar sind, die im Oktober 2006 in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht worden war. Diese Studie ergab, daß in besagter Zeit über 650000 Menschen an den Folgen von Krieg und Besatzung starben, 601000 davon durch Gewalt. Deren Ermittlungen zufolge hatte sich die Zahl der Gewaltopfer jedes Jahr fast verdoppelt, von 90000 über 180000 auf 330000.[2] Die Studie stieß, wie schon die erste, 2004 ebenfalls in The Lancet veröffentlichte Untersuchung, im Westen auf heftige Ablehnung. Entgegengehalten wurden ihr von Politik und Medien vor allem die Zahlen des Iraq Body Count (iraqbodycount.org), der für denselben Zeitraum 47000 getötete Zivilisten registriert hatte. Dabei waren anfänglich auch diese Zahlen, obwohl sie nur die Fälle enthalten, über die in renommierten englischsprachigen Medien berichtet wurde, als völlig überzogen abgekanzelt worden. Doch als die erste Lancet-Studie sehr überzeugend eine weit höhere Zahl von Opfern nahelegte, wurde die Arbeit der Forschungsgruppe Iraq Body Count plötzlich zur unanfechtbaren Autorität erklärt.

Das deutet schon an, welche politische Brisanz in diesen Statistiken steckt. Auch wenn die von Iraq Body Count ausgewiesenen Zahlen an sich schon erschreckend hoch sind, so scheinen sie für die meisten Medien im Rahmen eines Krieges noch tolerabel und auch gut mit dem Bild einer überbordenden religiös motivierten Gewalt verträglich. Die Ergebnisse der Lancet-Studien hingegen spiegeln die Dimension eines Völkermords wieder – ein eindeutiges Verbrechen, das auch mit dem besten Willen nicht mehr mit »Befreiung« oder »Demokratisierung« gerechtfertigt werden kann.

Die Führung der US-Armee hat gleich zu Beginn der Invasion im März 2003 betont, sie würden keine Opfer auf irakischer Seite zählen. »We don’t do body counts«, so der Kommandeur der Invasionstruppen, General Tommy Franks. Als Reaktion darauf begannen britische Wissenschaftler das Projekt Iraq Body Count (IBC). Es wurde zur bekanntesten Unternehmung, die Zahl der Opfer im Irak abzuschätzen; auf zahllosen kriegskritischen Webseiten findet man den IBC-Zähler. So verdienstvoll das Projekt ist, die hier angegebenen Minimum- und Maximumwerte gaukeln eine Genauigkeit vor, die es nicht bieten kann. Das Projekt erfaßt in seiner Datenbank nur getötete Zivilisten, über die in renommierten englischsprachigen Medien berichtet wurde, ergänzt um Daten irakischer Leichenschauhäuser. Das kann, wie auch Iraq Body Count auf seiner Homepage angibt, nur ein Bruchteil der tatsächlichen Opfer sein. Tatsächlich werden in Kriegsphasen meist weniger als zehn Prozent der Opfer durch sogenannte passive Ermittlungen erfaßt.

Durch die Beschränkung auf Zivilisten kommt zudem ein sehr subjektives Moment hinzu. Wie können Journalisten z. B. feststellen, ob ein Getöteter tatsächlich ein Kämpfer war, wie von der US-Armee – die Hauptquelle westlicher Agenturen – in der Regel behauptet wird. Und selbst wenn er bewaffnet war, so ist doch auch er ein Opfer des von den USA begonnenen Krieges. Grundsätzlich unerkannt bleibt schließlich die große Zahl der Todesfälle, die nur indirekt auf den Krieg oder die Besatzung zurückzuführen sind.

Wer die humanitären Kosten des Krieges genauer abschätzen will, der muß vor Ort die Familien nach der Zahl der Toten befragen, die sie zu beklagen haben. Das wurde sowohl im Rahmen der Lancet-Studie als auch der IFHS-Studie getan. Basis der Lancet-Studie, die von einem amerikanisch-irakischen Team unter Leitung renommierter Wissenschaftler der Bloomberg School of Public Health an der Johns Hopkins University durchgeführt wurde, war die Befragung einer repräsentativen Auswahl von 1850 Haushalten im gesamten Land. Insgesamt waren knapp 13000 Personen in die Studie einbezogen. Erfaßt wurden die Todesfälle sowohl in den 15 Monaten vor als auch in den 40 Monaten nach Beginn des Krieges. Für 90 Prozent der Todesfälle lagen Todesscheine vor.

Die Sterblichkeit wuchs demnach von 5,5 Toten pro tausend Einwohner im Jahr vor Kriegsbeginn auf 13,3 in der Zeit danach. Die Differenz ergibt die Zahl der Menschen pro Tausend, die ohne Krieg und Besatzung noch leben würden. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung von etwa 26 Millionen und einen Zeitraum von knapp 40 Monaten sind dies 655 000. Dies ist zwar nur ein Schätzwert, die Genauigkeit läßt sich aber statistisch exakt bestimmen. Die tatsächliche Zahl der Opfer liegt demnach mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 390000 und 940000, dem sogenannten »95-Prozent-Konfidenzintervall«. Eine Zahl um 655000 ist dabei am wahrscheinlichsten, d.h., höhere oder tiefere Zahlen werden mit dem Abstand zu diesem Wert rasch unwahrscheinlicher. Die Wahrscheinlichkeit, daß die tatsächliche Zahl der Opfer unter 600000 liegt, beträgt weniger als 20 Prozent, daß sie unter 390000 liegt, nur noch 2,5 Prozent. Die Zahl der gewaltsamen Todesfälle wurde auf dieselbe Weise auf 601000 geschätzt, mit einem Konfidenzintervall von 426000 bis 794000.

Methodische Grundlagen

Opferzahlen von solchen Dimensionen könnten, wenn sie in die breite Öffentlichkeit gelangen, massive Empörungen über das US-geführte Irak-Unternehmen der westlichen Staaten schüren. Die Mainstreammedien bemühten sich daher rasch um Schadensbegrenzung. Konsequent wurden die Lancet-Studien mißachtet oder durch die Charakterisierung »methodisch umstritten« diskreditiert. Tatsächlich gibt es nur wenige Wissenschaftler, die die Studie grundsätzlich in Frage stellen. In den Medien wird diesen jedoch viel Raum eingeräumt und ihre Kritik immer wieder aufgewärmt, letztes Jahr beispielsweise, kurz vor dem vierten Jahrestag des Krieges, in einer von der Londoner Times ausgehenden Medienkampagne, die auch vom Spiegel aufgegriffen wurde. Die Antworten der Autoren auf die Vorwürfe hingegen findet man, von wenigen Ausnahmen wie BBC und The Independent abgesehen, nur in alternativen Medien. Besonders verdient hat sich in diesem Zusammenhang die britische medienkritische Organisation MediaLens (medialens.org) gemacht.

In Fachkreisen sind die Lancet-Studien keineswegs umstritten. Die sehr orthodox durchgeführten Studien wurden stets von nahezu allen befragten Experten als valide und methodisch korrekt bezeichnet. Die Ergebnisse beider Stu­dien stimmen zudem gut überein und werden auch durch eine jüngere Umfrage des britischen Instituts Open Research Business bestätigt. Dieses schätzte auf Basis von 2414 befragten Haushalten, daß die Zahl der Opfer bis September 2007 auf zirka eine Millionen angestiegen war, eine Zahl die auch durch Extrapolation der Lancet-Zahlen zu erwarten war.[3]

Nach derselben Methode wie die Lancet-Studien waren auch die Opferzahlen im Kongo oder in Darfur geschätzt worden, zum Teil sogar von denselben Wissenschaftlern. Während die für Darfur ermittelte Zahl von 200000 Opfern sich in Resolutionen des Sicherheitsrates wiederfindet und Grundlage einer breiten Kampagne gegen den Sudan ist, wurden die Zahlen zum Irak als »spekulativ« verworfen.

Die neue, von der WHO betreute Erhebung basiert zwar ebenfalls auf einer repräsentativen Umfrage, weicht jedoch methodisch recht stark von den Lancet-Studien ab. Die IFHS-Studie basiert auf einer Umfrage bei 9345 Haushalten mit 61636 Personen. Elf Prozent der ausgewählten Haushalte konnten aus Sicherheitsgründen nicht besucht werden. Da die Wissenschaftler aufgrund von Vergleichszahlen vermuten mußten, daß sie nur 65 Prozent aller Todesfälle ermittelt konnten, wurden die gefundenen Zahlen entsprechend nach oben korrigiert. Weitere Anpassungen sollten u. a. Ungenauigkeiten durch die starken Flüchtlingsbewegungen kompensieren. Die Zahlen für die Gebiete, in denen keine Umfragen stattfinden konnten, wurden mit Hilfe von Daten des Iraq Body Count aus anderen Gebieten hochgerechnet.

Die im New England Journal of Medicine veröffentlichten Statistiken beschränken sich auf die Zahl der gewaltsamen Todesfälle und schätzen ihre Zahl schließlich auf 151000 Tote. Das 95-Prozent-Konfidenzintervall wird mit 104000 bis 223000 angegeben.

Mängel der IFHS-Studie

In den Berichten über die neue Studie wird vor allem die viel größere Zahl der befragten Familien hervorgehoben. Für die meisten ist dies gleichbedeutend mit größerer Genauigkeit und somit Glaubwürdigkeit. Tatsächlich ist das von ihr ausgewiesene Konfidenzintervall deutlich enger, als das der Lancet-Studie von 2006. Während diese Studie das Intervall auf klassischer Weise, d.h. direkt aus den ermittelten Daten berechnete, wurden bei von den Wissenschaftlern der WHO Verfahren angewandt, mit deren Hilfe vor allem die Unsicherheiten der diversen Anpassungsfaktoren abgeschätzt werden sollten. Pierre Sprey, Statistikexperte des US-Magazins Counterpunch, der die neue Studie insgesamt als »schludrig« einstuft, hält diese Methode für »reine Spekulation«.

Die Zahl der Befragten ist ohnehin nur ein Kriterium für die Genauigkeit, weit wichtiger ist die Qualität der Arbeit. Die Zahl, der für die Lancet-Studie Befragten, genügt an sich durchaus, um mit ausreichender Sicherheit Aussagen über die Sterblichkeit im Irak treffen zu können. Mit unterschiedlicher Genauigkeit sind die Unterschiede zwischen den Studien nicht zu erklären.

»Auch wenn die Genauigkeit solcher Zahlen immer ein Problem ist«, schrieben 27 führende Experten auf dem Gebiet der Bevölkerungsstatistik in einem offenen Brief an die australische Tageszeitung The Age, mit dem sie sich hinter die Lancet-Studie stellten, »so können wir doch sicher sein, daß die Zahl von zusätzlichen Toten über 390000 liegt und tatsächlich sogar bis zu 940000 betragen könnte«. Laut IFHS-Studie müßte die Zahl der Opfer jedoch mit gleich hoher Sicherheit unter 223000 liegen. Die Autoren der neuen Studie behaupten daher schlicht, die Lancet-Studie würde die Zahl der Gewaltopfer »beträchtlich überschätzen« – Gründe dafür geben sie jedoch nicht an. Es gibt aber nur zwei Möglichkeiten: Entweder haben die Wissenschaftler der Lancet-Studie Tote erfunden oder die IFHS weist zu wenige aus.

Die Zahlen der IFHS-Studie legen eindeutig letzteres nahe. So blieb ihren Ergebnissen zufolge die Zahl der Opfer zwischen 2003 und 2006 nahezu konstant. Dies steht jedoch im krassen Widerspruch zu der ab Frühjahr 2005 zu beobachtenden Eskalation der Gewalt im Land, die sich in allen anderen Statistiken, vom Iraq Body Count bis zu denen irakischer Leichenschauhäuser widerspiegelt. Diese zeigen fast denselben prozentualen Anstieg von Gewaltopfern wie die Lancet-Studie auch.

Der relativ geringe Anteil von Gewaltopfern an der Gesamtzahl der Toten steht gleichfalls im völligen Widerspruch zu den registrierten Fällen. Die IFHS verzeichnet zwar durchaus eine massive Zunahme der Sterblichkeit, ihrer Schätzung nach ist diese nur zu einem Drittel auf einen Anstieg von Gewaltopfern zurückzuführen. Laut Lancet-Studie besteht die Zunahme jedoch fast ausschließlich aus gewaltsamen Todesfällen – ein Ergebnis, das durch die Daten von Kranken- und Leichenhäuser ebenfalls voll und ganz bestätigt wird.

Einen möglichen Grund für die geringere Zahl von Gewaltopfern geben die Autoren des Artikels im New England Journal of Medicine selbst an. Ausgerechnet die Gebiete Bagdads und der Provinzen Anbar und Ninive, die das höchste Gewaltniveau aufwiesen, mußten aus Sicherheitsgründen von der Befragung ausgenommen werden, immerhin elf Prozent der Stichprobe. Die IFHS-Statistiker behalfen sich, wie bereits erwähnt, in dem sie die erfaßten Zahlen mit Daten des Iraq Body Count für diese Gebiete hochrechneten. Doch gerade aus diesen stark umkämpften Gebieten gab es die wenigsten Berichte und dadurch finden sich auch nur relativ wenige Todesfälle von dort in der Datenbank des Projekts.

Der hauptsächliche Grund liegt jedoch in der prinzipiellen Anlage der Studie selbst. Interessanterweise weichen die IFHS- und die Lancet-Studie in bezug auf nicht gewaltsame Todesfällen gar nicht weit voneinander ab. IFHS schätzt die Zahl für die drei Jahre nach Kriegsbeginn auf 372 pro Tag, die Lancet-Studie auf 416. Auch die Zunahme der Gesamtzahl von Todesfällen liegt nicht weit auseinander. Hatte sich gemäß IFHS die jährliche Zahl der Toten nach der Invasion ungefähr verdoppelt, so stieg sie gemäß Lancet-Studie um das 2,4fache.

Auf diesen massiven Anstieg von Todesfällen allgemein, der sich aus ihren Daten ablesen läßt, gehen die Autoren des irakischen Gesundheitsministeriums und der WHO aber an keiner Stelle ein. Er kann nur auf den Krieg und die Besatzung zurückzuführen sein. Wie sonst soll z.B. die von IFHS verzeichnete Zunahme krankheitsbedingter Todesfälle um 65 Prozent zu erklären sein?

Die Fokussierung auf Gewaltopfer ist offensichtlich keine wissenschaftliche, sondern eine rein politische Entscheidung – eine Form der Selbstzensur, durch die allein schon das wahre Ausmaß der humanitären Katastrophe und die Verantwortung der USA und ihrer Verbündeten dafür verschleiert wird. Eine Beschränkung auf gewaltsame Todesfälle ist zudem recht willkürlich. Stirbt eine Schwangere, die es wegen anhaltendem Bombardements nicht mehr ins Krankenhaus schafft, nicht genauso durch kriegerische Gewalt, wie die von den Bomben direkt Getroffenen?

Die von der Studie ausgewiesene Zunahme von Verkehrstoten um das 3,7fache deutet zudem darauf hin, daß die Unterscheidung von »gewaltsam« und »nicht gewaltsam« recht kreativ vorgenommen wurde. Dies nährt die ohnehin schon starken Zweifel an der Unabhängigkeit einer Untersuchung, die unter Federführung eines irakischen Ministeriums durchgeführt wurde. Schließlich sind die Ministerien von den engsten Verbündeten der USA besetzt und völlig abhängig von der Besatzungsmacht. Wie wenig dem Gesundheitsministerium an der Wahrheit über die Zahl der Besatzungsopfer gelegen ist, hat es letztes Jahr deutlich demonstriert: Auf Druck der USA untersagte es – ungeachtet heftiger Proteste der UNO – den Kranken- und Leichenhäusern des Landes, die Daten über die von ihnen registrierten Todesfälle herauszugeben. Die US-Regierung wollte auf diese Weise sicherstellen, daß ihre Meldungen über die Erfolge ihrer neuen Strategie nicht durch harte Zahlen widerlegt werden.

Die Tatsache, daß Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums die Interviews führten, ist vermutlich ein weiterer gravierender Grund für die viel zu geringe Zahl von erfaßten Gewaltopfern. Die meisten Iraker mißtrauen der Regierung, und viele dürften sich hüten, Regierungsangestellten den gewaltsamen Tod eines Familienmitglieds zu verraten und so womöglich die Aufmerksamkeit der Besatzer oder ihrer Verbündeten auf sich zu lenken. Gefährlich ist dies ja nicht nur dann, wenn der Mann oder der Sohn bei Auseinandersetzungen mit Besatzungstruppen oder Sicherheitskräften getötet wurde, sondern auch, wenn die Angehörigen Milizen oder Todesschwadronen zum Opfer fielen. Schließlich werden die Täter häufig in den Reihen von Milizen der Regierungsparteien und der von diesen stark durchsetzten Polizei vermutet.

Bei einer früheren Studie hielt dasselbe Team, das nun die IFHS durchführte, die Mortalitätsrate zunächst ebenfalls für zu niedrig. Als es die Familien noch einmal genauer nach gestorbenen Kindern fragte, verdoppelten sich seine Zahlen. Auch dies ist ein Indiz für das Mißtrauen der Interviewten oder für unprofessionelles Vorgehen der Interviewer.

Wer tötete?

Die Veröffentlichung im New England Journal of Medicine wirkt wie ein Versuch, Informationen über die humanitären Kosten des Krieges zu gewinnen, dem durch politische Vorgaben von vorneherein die Brisanz genommen wurde. Da die errechneten Opferzahlen wesentlich höher sind als die des Iraq Body Count, sind sie für Washington sicherlich nicht gerade bequem. Andererseits ist die neue, mit dem WHO-Label versehene Studie sehr gut geeignet, dem Stachel, den die Lancet-Studien nach wie vor bildet, endlich die Spitze zu brechen.

Letztlich versuchte man vor allem die wesentlichste Frage zu umgehen: Wie viele Menschenleben kostete bisher Bushs Krieg? Dazu wurden nicht nur willkürlich alle Fälle ausgeblendet, die nur indirekt Opfer des Krieges wurden, sondern auch die Frage, wer sie tötete – sicherlich die brisanteste Frage. Die Lancet-Studie hingegen ging auch diesem Aspekt nach und hat u. a. notiert, ob der Ermordete etwa durch eine Autobombe oder einen Luftangriff getötet wurde. War die Antwort zweifelhaft, wurde »unsicher/unbekannt« angekreuzt. Bei der Frage nach den Tätern wurde leider nur zwischen Ausländern und Irakern unterschieden. Trotz aller Ungenauigkeiten einer solchen Befragung, ließ sich aus den Antworten immerhin abschätzen, daß ungefähr ein Drittel aller Gewaltopfer direkt von den Besatzern getötet wurden. Da sie bei den 45 Prozent als »unsicher/unbekannt« eingestuften Fällen ebenfalls als Täter in Frage kommen, ist der tatsächliche Anteil noch weit höher. Ein Siebtel aller Toten kam bei Luftangriffen ums Leben.

Auf diese tödliche Gewalt der Besatzer findet sich in der IFHS-Studie kein Hinweis. In den, in der Regel sehr wohlwollenden, Berichten über die neue WHO-Studie konnte daher problemlos der Eindruck vermittelt werden, die enorme Zahl Ermordeter wäre allein auf religiösen Haß, das Wüten schiitischer Milizen und die Bomben sunnitischer »Aufständischer« zurückzuführen, die Iraker seien mithin selbst für den anhaltenden Massenmord verantwortlich.

Am selben Tag, an dem die WHO die neue Studie der Öffentlichkeit vorstellte, fanden Berichte über massive Bombenangriffe der US-Luftwaffe im Süden Bagdads ihren Weg in die westlichen Medien. B-1-Langstreckenbomber und F-16-Kampfflugzeuge hatten in zehn Angriffswellen Bomben im Gesamtgewicht von 18000 Kilogramm abgeworfen und dabei 40 Häuser zerstört. Über die Zahl der Opfer wurde nichts berichtet, die Anwohner befürchten, daß Dutzende Bewohner unter den Trümmern begraben wurden. Die genaue Zahl ist, selbst wenn man wollte, nur noch schwer zu ermitteln, da ein großer Teil der Bewohner, mehr als 300 Familien, das stark zerstörte Stadtviertel fluchtartig verließ.

Seit 2005 haben die USA ihre Luftangriffe ständig ausgeweitet. In der Lancet-Studie spiegelt sich dies in einer stark steigenden Zahl von Opfern solcher Angriffe wider. Die WHO-Studie verdeckt grundsätzlich die gesamte Eskalation der Gewalt. Auch wenn die Intention der WHO vielleicht eine andere war, letztlich dient die von ihr autorisierte Studie somit vor allem einem – der Verschleierung des gewaltigen Ausmaßes der US-Verbrechen im Irak.

Fußnoten
  1. Violence-Related Mortality in Iraq from 2002 to 2006, New England Journal of Medicine, Januar 2008 (content.nejm.org). (Siehe auch: Neue Studie ...)
  2. G. Burnham, R. Lafta, S. Doocy, L. Roberts, Mortality after the 2003 invasion of Iraq: a cross-sectional cluster ­sample survey, The Lancet, 13.10.2006 (thelancet.com). (Siehe auch: Bilanz des Schreckens ...)
  3. Iraqi Casualty Data, Opinion Research Business, Update January 2008, (opinion.co.uk)
* Joachim Guilliard ist Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema Irak und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher

Internationale Irak-Konferenz »Alternativen zu Krieg und Besatzung« vom 7. bis zum 9. März in der Humboldt Universität zu Berlin (irakkonferenz2008.de); zu den Referenten gehört auch Les Roberts, Koautor der Lancet-Studie

* Aus: junge Welt, 12. Februar 2008


Zur Irak-Seite

Zurück zur Homepage