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Irak: Der Krieg nach dem Krieg

Friedensforscher Johan Galtung: "Missverständnisse und Fehleinschätzungen"

Die Situation im Irak hat sich in den ersten zwei Aprilwochen 2004 ungemein zugespitzt. Die Besatzungsmächte finden sich von einer zunehmenden Welle des Widerstands konfrontiert und scheinen nicht aus noch ein zu wissen.
Im Folgenden dokumentieren wir
  • Auszüge aus einem Bericht, den das kritische ARD-Magazin "Monitor" am 15. April ausstrahlte, sowie
  • Auszüge aus einem Interview, das der Nestor der internationalen Friedensforschung, Johan Galtung, wenige Tage später der "Deutschen Welle" gab.


Monitor, ARD, 15. April 2004
Irak - Der Krieg nach dem Krieg
Bericht: Katja Kreutzer, Georg Restle

Sonia Mikich: "Nein, den Krieg um die 'hearts and minds', um die Herzen und Köpfe der Iraker, haben die Amerikaner verloren.
Wie ihn denn auch mit Bomben und Kampfhubschraubern gewinnen? Der Widerstand ist bestens motiviert und bestens gerüstet, er weitet sich national aus. Und unter den Kämpfern sind hemmungslose Entführer und Mörder.
Gibt es einen Ausweg? Sind ein Rückzug der US-Truppen und eine internationale Mission - etwa mit arabischen Blauhelmen - denkbar? Krieg nach dem Krieg - die Lage im Irak ist gekippt. Ein Fazit von Georg Restle, Matthias Werth und Katja Kreutzer."


Letzte Ehre für einen gefallenen US-Soldaten auf dem Heldenfriedhof von Washington, einer von mittlerweile rund 700 toten US-Soldaten.
Die toten Iraker von Falludscha erhalten kein Staatsbegräbnis. Seit Tagen toben hier in der sunnitischen Stadt Kämpfe. Vor allem Zivilisten sterben. Doch von Krieg will die US-Regierung ein Jahr nach offiziellem Kriegsende, nicht reden. Trotz solcher Bilder.

Georg W. Bush: "Dies ist kein Bürgerkrieg und kein Volksaufstand. Der weitaus größte Teil des Irak ist stabil. Die allermeisten Iraker lehnen Gewalt und Gewaltherrschaft ab."
Kein Volksaufstand? Alles unter Kontrolle? Die täglichen Bilder aus dem Irak zeigen, dass das Land ein Jahr nach Kriegsende weiter vom Frieden entfernt ist denn je zuvor.

Markus Lüders, Nahost-Experte: "Mein Eindruck ist, dass der amerikanische Präsident die Verhältnisse im Irak sehr beschönigt wahrnimmt. Es sind nicht einzelne Banditen oder einzelne Verbrecher, die nun hier zu den Waffen greifen würden. Sondern es ist ein Flächenbrand entstanden, der weite Teile der Bevölkerung umfasst. Immer weniger Iraker sind davon überzeugt, dass die amerikanische Besatzung ihnen gut tut. Und das ist ein ganz, ganz gefährliches Zeichen. Denn es bedeutet, dass sich die Amerikaner auf einen lang anhaltenden Widerstand einstellen müssen."

Freitagsgebet in Bagdad, Sadr City, eine Hochburg der Schiiten. Hier hassen sie die Besatzungsmacht. Längst haben radikale Schiiten sich mit aufständischen Sunniten zusammengetan, um gemeinsam gegen die Besatzer zu kämpfen. Dieser Mann gilt als Amerikas neuer Staatsfeind Nummer 1. Der radikale Schiitenführer al-Sadr spricht mit uns über die neue Einigkeit zwischen Schiiten und Sunniten im Irak.

Muktada al-Sadr, Irakischer Schiitenführer: "Überall wo es Besatzung gibt, gibt es viele Probleme. Die Besatzung und das irakische Volk können nicht zusammen leben. Sunniten und Schiiten sind Brüder und sind sich vor allem in einer Sache einig: Sie wollen, was alle Moslems wollen, dass ihre Taten Gott gefallen. Im Norden des Iraks, in der Mitte, und jetzt sogar im Süden beten Schiiten und Sunniten gemeinsam ihre Freitagsgebete. Und sie arbeiten zusammen."

Sollte es radikalen Führern wie al-Sadr gelingen, Schiiten und Sunniten gemeinsam in einen landesweiten Guerillakrieg zu führen, dann wird es im Irak nach Meinung von Experten zu einem endlosen Blutvergießen kommen.

Markus Lüders, Nahost-Experte: "In meinen Augen hat die amerikanische Zivilverwaltung mehrer Fehler begangen. Angefangen damit, dass man rund 400.000 sunnitische Soldaten entlassen hat, in die Arbeitslosigkeit getrieben hat. Leute, die also keine Zukunft haben, aber bewaffnet sind und wissen wie man Krieg führt, wie man Widerstand leistet. Das war der eine große Fehler. Und ein anderer Fehler war, dass man die religiösen und die Stammesführer im Irak, seien sie nun Sunniten oder Schiiten, nicht genügend einbezogen hat in den Wiederaufbauprozess. Mit dem Ergebnis, dass die Stimmung immer antiamerikanischer wurde. Auch deswegen, weil die amerikanische Zivilverwaltung sich sehr stark auf Exil-Iraker verlassen hat in ihrer Beratung, die allerdings im Irak selber keinen Rückhalt haben."

Vor einem Jahr ließ sich George W. Bush auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln als Sieger im Irak-Krieg feiern. Ein politisches Konzept, eine friedensfähige Nachkriegsordnung gar, hat die US-Regierung offenbar nie gehabt. Mission erfüllt hieß es auf dem Banner, das in alle Welt gesendet wurde. Heute zeigen diese Bilder von US-amerikanischen Angriffen auf Falludscha eine andere Wirklichkeit. Und trotzdem glaubt die US-amerikanische Regierung nach wie vor daran, die Macht im Irak am 30. Juni an eine Übergangsregierung abgeben zu können. Andere sind da skeptischer. Der ehemalige Generalsekretär der UNO Boutros Ghali erklärt die Politik der US-Regierung im Irak für gescheitert.
Boutros Ghali, ehemaliger UNO-Generalsekretär: "Ich glaube, dass die Amerikaner nicht die Fähigkeit haben, Weltpolizist zu spielen. Die amerikanische Öffentlichkeit will das auch gar nicht. Früher oder später werden wir wieder auf eine multilaterale Lösung kommen müssen. Das würde auch die Demokratisierung internationaler Beziehungen bedeuten."

Also doch wieder die UNO? (...)
Markus Lüders, Nahost-Experte: "Der politisch pragmatische Weg aus der Krise im Irak wäre in der Tat, wenn die Regierung in Washington begreifen würde, dass sie den Irak alleine nicht in den Griff bekommt. Dass es sinnvoll wäre, ein internationales Mandat über die Vereinten Nationen für den Wiederaufbau im Irak zu erlangen. Aber diese vernünftige Lösung wird keine Chance haben auf Durchsetzung, weil die Regierung in Washington entschlossen ist, ihr Modell eines neu gestalteten Iraks durchzusetzen. Ein Modell, das allerdings in der irakischen Bevölkerung keinen Rückhalt findet, und insofern rasen hier zwei Züge aufeinander zu: Der Wunsch und die Sehnsucht, der Iraker nach Selbstbestimmung und die Entschlossenheit der Amerikaner, den Irak um jeden Preis zu demokratisieren."

'Wir dürfen nicht schwanken, wir werden siegen', erklärte US-Präsident Bush der amerikanischen Öffentlichkeit vor zwei Tagen. Es klang mehr nach Durchhalteparole als nach Frieden.
(...)

Friedensforscher Johan Galtung* im Interview

Johan Galtung, Träger des alternativen Friedensnobelpreises und norwegischer Friedensforscher, hält die Irak-Politik der USA für gescheitert. In einem Interview mit der Deutschen Welle (DW-WORLD) fordert er den Westen auf, mit Bin Laden zu verhandeln.

Im Folgenden dokumentieren wir das Gespräch, das am 20. April 2003 gesendet wurde.*


DW-WORLD: Herr Galtung, Sie gelten als einer der schärfsten Gegner der amerikanischen Intervention im Irak. Trotz der angespannten Lage im Land ist die US-Regierung überzeugt, sie habe richtig gehandelt. Nach dem Sturz von Saddam Hussein und den Taliban in Afghanistan sei die Welt sicherer geworden. Wie ist Ihre Einschätzung?

Johan Galtung: Die amerikanische Regierung hat sich eine virtuelle Realität aus Missverständnissen und falschen Einschätzungen geschaffen. Jetzt ist sie Opfer der eigenen falschen Informationen und Lügen.

Können Sie dem Sturz Saddam Husseins nichts Positives abgewinnen?

Das war für die USA nicht so wichtig. Hauptziele waren die Ölkontrolle, die Sicherheit für Israel und die Sicherung geopolitisch wichtiger Militärbasen. Doch die grausamste Epoche von Saddam Hussein lag in den 1980er-Jahren. Damals war er Bündnispartner der USA, und da hätte es durchaus gute Gründe für eine Intervention gegeben. Er ging damals grausam gegen die von den USA inszenierten Aufstände der Kurden und Schiiten vor.

Die aktuelle Lage im Irak ist von heftiger Gewalt gekennzeichnet. Fürchten Sie, dass die Situation weiter eskalieren könnte?

Selbstverständlich. Wenn die USA Nadschaf angreifen und El Sadr töten, dann werden sie bestimmt die überwiegende Mehrheit der Schiiten gegen sich haben. Ich glaube, es gibt keine Dummheit, die die Amerikanische Regierung auslassen wird. Sie hört auf niemanden und glaubt, sie habe ein Mandat von Gott. Die größte Dummheit war der Krieg selber. Mein Gegenvorschlag: Man sollte eine Konferenz veranstalten ähnlich der Helsinki-Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1973 bis 1975. Da könnte man die Möglichkeit diskutieren, den Irak als Bundesstaat mit drei Teilen, für die Kurden, Schiiten und Sunniten zu etablieren. Das ist aber nicht kompatibel mit der erwähnten Zielsetzung der Amerikaner im Irak.

Ist ein Vergleich des Irak-Krieges mit dem Vietnam-Krieg zulässig?

Ja, in gewisser Weise schon. Die USA machen dieselben Fehler wie damals. Sie verstehen die dortige Lage nicht. Der Irak-Einsatz wird wohl auf ähnliche Weise enden wie der in Vietnam, nämlich mit Rückzug. Die so genannten alliierten Bündnispartner werden wohl dafür sorgen, dass dieser ohne allzu großen Gesichtsverlust für die USA möglich wird.

Der Sturz Saddam Husseins hat den Internationalen Terrorismus nicht eindämmen können, im Gegenteil: Auch Europa sieht sich im Visier des Terrors. Was ist jetzt nötig?

Es ist eine Versöhnung zwischen dem Westen und dem Islam nötig. Es gibt 1,3 Milliarden Muslime und auf denen hat man herumgetrampelt. Doch niemand hat sich dieser Sache wirklich angenommen. Es wird immer nur über Gegenschläge geredet. Man muss bereit sein, muslimische Stimmen deutlich zu hören und zu verstehen, dann hätte man nicht nur für den Frieden einen Beitrag geleistet, sondern auch für die Sicherheit Deutschlands.

Wie könnte man den Dialog zwischen den Religionen in der Praxis verbessern?

Ein Vorschlag: Jeden Freitag könnte ein Spitzenmuslim im deutschen Fernsehen auftreten als Einleitung eines Dialogs über die guten Seiten des Islams und des Christentums. Besonders gemäßigte Muslime sollten ihre Position darstellen, nicht die Fundamentalisten. Es gibt so viele wunderbare Sachen im Koran, die im Westen gänzlich unbekannt sind: zum Beispiel die Sure 8,61. 'Wenn dein Gegner eine Neigung zum Frieden hat, dann tu dasselbe.' Also Frieden schafft Frieden. Ich finde das schön. Mein Aufruf lautet: Moderate aller Länder vereinigt Euch, ihr habt nur die Fundamentalisten beider Seiten zu verlieren.

Wie weit sollte der Dialog denn gehen? Sollte man auch mit Bin Laden verhandeln und dessen jüngstes Angebot an den Westen auf einen Gewaltverzicht aufgreifen? Bin Laden hatte in einem Tonband erklärt, eine Waffenruhe werde beginnen, wenn die europäischen Soldaten die islamischen Länder verlassen habe.

Wir brauchen geheime Verhandlungen mit Bin Laden. Das habe ich bereits vor Monaten angeregt. Das Angebot, das jetzt Bin Laden unterbreitet hat, erinnert in frappierender Weise an die Lösung der Kuba-Krise 1962. Damals sagte die Sowjetunion den USA: Ihr zieht eure Raketen aus der Türkei ab - die Stationierung der Raketen in der Türkei war damals vielen übrigens nicht bekannt - und ich ziehe meine aus Kuba ab. Jetzt hat Bin Laden in gewisser Weise dasselbe gesagt.

Trauen sie einem Mann wie Bin Laden ernsthafte Verhandlungsbereitschaft zu?

Es ist natürlich nicht einfach, mit diesen Leuten zu reden. Sie fühlen sich vom Westen gedemütigt. Das Problem ist, dass sich beide Seiten gegenseitig satanisieren. Dabei spielen auch die Medien eine Rolle. Die Medien sind meistens grausam und leisten einen ekelhaften Beitrag zur Gewaltspirale. Wer nur über die Gewalt berichtet, erntet Gewalt. Bei den Gewalttätigen, wie beispielsweise dem Selbstmörder und seiner Familie, führt das zu Triumphgefühlen, wenn soviel auf den Titelseiten darüber geschrieben wird. Friedensjournalismus dagegen bedeutet, noch zusätzlich Fragen zu stellen. Erstens: Welcher Konflikt liegt zugrunde und welche Zielsetzungen verfolgen die Konfliktparteien? Und zweitens: Gibt es eine Möglichkeit zur Lösung? Nur zu berichten, dass gewalttätige Leute gewalttätig sind, das ist keine Analyse.

* Johan Galtung, Träger des alternativen Friedensnobelpreises und norwegischer Friedensforscher.
Das Interview führte Steffen Leidel; Deutsche Welle, 20. April 2004



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