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Wenn die AC-130 kommt

Falludscha: Ganze Straßenblocks in Schutt und Asche

Der folgende Bericht - wir haben in der kritischen Wochenzeitung "Freitag" entnommen - schildert die heftigen Angriffe der US-Truppen auf Falludscha im Frühjahr 2004. Die neuerliche Offensive Anfang November, die immer noch nicht zu Ende gekommen ist, dürfte in ihrer Wucht und was ihre zerstörerischen Wirkung auf die Zivilbevölkerung betrifft die Ereignisse vom April weit in den Schatten stellen. Die Vorgehensweisen der Truppen gleichen sich - die Genfer Konvention wird systematisch verletzt.


Von Rahul Mahajan*

Wenn eine Stadt zum Schlachtfeld wird, kann man sich vorstellen, was das bedeutet. Während der Belagerung Falludschas im April war ich dort, in diesem Zentrum des Widerstands, in dem sich schon Mitte der neunziger Jahre, als Saddam Hussein verlangte, dass sein Name im Ruf zum Gebet genannt wird, die Imame verweigerten.

Im Frühjahr bombardierte die US-Luftwaffe zuerst das Kraftwerk der Stadt. Für einige Wochen gab es keinen Strom. Nur an einigen Stellen, etwa in Krankenhäusern und Moscheen, standen Generatoren zur Verfügung. Während der anschließenden Belagerung kamen Nahrungsmittel, Medikamente und andere lebenswichtige Dinge nur dann in die Stadt, wenn die Bewohner nicht einzeln, sondern in großen Gruppen sich den Straßenblockaden widersetzten. Es herrschte ständige Angst vor den Bomben. Zivilpersonen und Familien mit Kindern oder mit kranken und älteren Menschen verließen die Stadt in Scharen. Die US-Soldaten wollten das zwar verhindern, aber schließlich ließen sie den Exodus zu. Nur "wehrfähige Männer" im Alter zwischen 15 und 60 durften nicht passieren und blieben in Falludscha.

Das größte Krankenhaus liegt jenseits des Zentrums auf der anderen Seite des Euphrat. Die Brücke dorthin wurde ebenfalls gleich zu Beginn von den Amerikanern blockiert. Die Ärzte mussten notgedrungen das Krankenhaus verlassen, um Patienten versorgen zu können. Über die ganze Stadt verteilt entstanden medizinische Stützpunkte, in einer Autowerkstatt oder in anderen Räumen, die gerade verfügbar waren. Zum Teil wurde das Blut, das man für Operationen brauchte, in Getränkeautomaten gekühlt.

Im Hintergrund waren die Geräusche der Artillerie und das Gegenfeuer der Mudschaheddin ständig zu hören. Hinzu kamen die mörderischen AC-130 Flugzeuge, die mit ihren Bordkanonen einen ganzen Straßenblock in einer Minute in Schutt und Achse legen können. Scharfschützen der Marines durchkämmten die Stadt und schossen auf alles, was sich bewegte. Wochenlang waren die Bewohner wie in einem Labyrinth eingeschlossen. An jeder Straßenecke konnte man in eine Schusslinie geraten. In einer der schnell errichteten "Notkliniken" bin ich selbst einige Stunden gewesen. Während dieser Zeit wurden etwa 20 Patienten aufgenommen, nur fünf waren "wehrfähige Männer". Ein Kind hatte einen Kopfdurchschuss erlitten. In Bagdad, sagten die Ärzte, hätte es vielleicht eine Chance gehabt.

Sogar Krankenwagen und Menschen, die Verletzten helfen wollten, wurden gezielt unter Feuer genommen. Als ich nach der Belagerung von Falludscha darüber berichtete, wollte mir niemand glauben. Vielleicht, so wurde vermutet, haben die Mudschaheddin selbst auf die Krankenwagen geschossen, um dann den Amerikanern diese Abscheulichkeiten anhängen zu können? Später allerdings musste das irakische Gesundheitsministerium eingestehen, dass die US-Streitkräfte ganz bewusst auch Notarztwagen treffen wollten.

Nach offiziellen Schätzungen sind im April etwa 1.000 Menschen in Falludscha durch die US-Angriffe getötet worden. Die tatsächliche Zahl der Opfer ist vermutlich weit höher. In westlichen Zeitungen ist immer wieder zu lesen, dass nur die Verstecke von Zarqawi und anderer Terroristen zerstört wurden. Nur muss man sich vor Augen führen, was es bedeutet, wenn von Präzisionsschlägen geredet wird. Meistens treffen die ferngelenkten Bomben tatsächlich sehr genau. Aber mit ihrer Sprengkraft vernichten sie auch die Nachbarhäuser, die großen 2000-Pfund-Bomben sogar ganze Stadtquartiere. Trotz der Feuerkraft der Amerikaner war der Angriff auf Falludscha im Frühjahr ein Fehlschlag. Nicht zuletzt deshalb zieht die US-Militärführung jetzt alle Register des Schreckens.

* Rahul Mahajan ist Physiker und Publizist. Letzte Buchveröffentlichung: Full Spectrum Dominance: U.S. Power in Iraq and Beyond, Seven Stories Press 2003



Dokumentation

Mit der Übergangsregierung haben sich die Konflikte verschärft

Die Wochenzeitung "Freitag" dokumentierte in ihrer Ausgabe vom 12. November 2004 jüngste Daten des Institute for Policy Studies (Washington, D.C.) und der Johns Hopkins University (Baltimore) über die Opfer, die der Irak-Krieg vom Beginn der Kampfhandlungen am 20. März 2003 bis zum Stichtag 22. September 2004 forderte.

Irakische Kriegsopfer
Soldaten und Zivilisten: Mindestens 25.000, wahrscheinlich über 100.000 Tote, die Zahl der Verwundeten wurde bisher nicht ermittelt.

Amerikanische Kriegsopfer
Gefallene US-Soldaten: 1.040
Verwundete US-Soldaten: 7.413

Gefallene beziehungsweise Verwundete (Monatsdurchschnitt) in der Zeit der:
  • Invasion (20. 3. - 9. 4. 2003) 482
  • US-Zivilverwaltung (10. 4. 2003 - 27. 6. 2004) 415
  • Übergangsregierung (seit 28. 6. 2004) 747
Tödlich verletzte Angestellte von Subunternehmen des US-Militärs (Monatsdurchschnitt) in der Zeit der:
  • Invasion 0
  • US-Zivilverwaltung 8
  • Übergangsregierung 18
Angriffe auf US-Truppen und irakische Sicherheitskräfte
Im Monatsdurchschnitt in der Zeit der:
  • US-Zivilverwaltung 126
  • Übergangsregierung 717



Aus: Freitag 47, 12.11.2004


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