Iraks kulturelles Gedächtnis schwer geschädigt: "Weißer Ascheteppich in der Bibliothek"
Erkundungen in der Bagdad-Universität, im Nationalmuseum und der Nationalbibliothek
Folgenden Text der Irak- und Kurdistan-Expertin Karin Leukefeld haben wir dem "Neuen Deutschland" entnommen.
Von Karin Leukefeld, Bagdad
Hadi Salih, der junge Germanistikstudent aus dem Bagdader Stadtteil
Khadimia, rutscht unruhig auf dem Beifahrersitz hin und her. Seine
Hände haben sich fest um die Plastiktüte geschlossen, die auf seinem
Schoß liegt. In der Tüte befindet sich ein nagelneues Wahrig-Wörter-
buch, das hatte er sich bei unserer letzten Begegnung wenige Tage vor
dem Krieg dringend gewünscht. Außerdem sind darin Fotos von ihm und
seinen Kommilitonen. Stolz stehen vier junge Männer vor den vollen
Regalen der kleinen Bibliothek der deutschen Fakultät an der Bagdad-
Universität. Hinter ihnen 12 Bände Deutsche Geschichte, 14 Bände
Kindlers Literatur Lexikon, drei Ausgaben von Langenscheidts Deutsch
als Fremdsprache...
»Seit dem Krieg bin ich nicht wieder hier gewesen«, sagt Hadi
stockend und schaut irritiert aus dem Autofenster. Der früher so
lebhafte Platz vor dem Haupteingang der Geisteswissenschaftlichen
Fakultät der Bagdad-Universität liegt wie ausgestorben, ein warmer
Windstoß wirbelt Staub und Plastikreste durch die Luft. Niemand
ist zu sehen, keine Studenten, die mit ihren Büchern unter dem Arm
auf den Gehwegen dem schweren Eisentor zueilen. Verschwunden sind
auch die Straßenhändler, die hier sonst Bücher, Zeitungen oder
Obst anbieten.
Überall Gerüchte, Augenzeugen sind rar
Das eiserne Tor öffnet sich, ein paar junge Männer sitzen müde im
Schatten des Torbogens, einer rückt die Kalaschnikow auf seinen
Knien hin und her, schaut neugierig ins Wageninnere und winkt den
Fahrer dann freundlich durch. Anders als früher wird der Ausweis
nicht kontrolliert, niemand fragt nach einem Genehmigungsschreiben.
Wo früher ein großes Bild von Saddam Hussein die Ankömmlinge, ist
jetzt ein verbrannter Fleck. Es ist still auf dem Campus. Die Luft
flimmert vor Hitze, nur das scharrende Geräusch der eigenen Schuh-
sohlen ist zu hören. Verbeulte und zerbrochene Einrichtungsgegen-
stände liegen herum: Stühle, Metallschränke, Tischbeine. Brandgeruch
erfüllt die Luft.
Der Campus wurde nicht von US-amerikanischen Bomben zerstört, sondern
von Plünderern und Brandstiftern. Sie kamen zwischen dem 7. und 9.
April, als die US-Soldaten in Bagdad einmarschierten, berichtet Hadi.
Der Anblick des Spracheninstituts verschlägt ihm die Sprache. Obwohl
offenbar schon einige der Reinigungsfrauen das Gröbste beseitigt
haben, bietet sich ein Bild der Verwüstung: die geräumige Cafeteria,
die früher wie ein Bienenstock summte, ist ein Trümmerhaufen, die
Wände verkohlt.
Im Gang zur deutschen Bibliothek steht eine Gruppe Männer ins
Gespräch vertieft. Ihre Stimmen hallen durch den leeren Korridor.
Die Professoren Dr. Fuad und Dr. Ghazi Sherif berichten ihrem
deutschen Kollegen Professor Walter Sommerfeld, Altorientalist
und Keilschriftexperte von der Universität Marburg, von ihren
Beobachtungen. Erst seien Leute gekommen, die gestohlen hätten,
was sie kriegen konnten: Tische, Regale, Computer, Telefone,
empört sich Dr. Ghazi. Sogar die Telefonleitungen hätten sie aus
der Wand gerissen und die Steckdosen mitgenommen.
Später dann seien andere Leute gekommen, die gezielt die Bibliotheken
und Arbeitsräume angezündet hätten. Ob er wisse, wer das gewesen sei?
Dr. Ghazi zuckt mit den Schultern. Niemand von ihnen sei dabeigewesen,
sagt er, doch die Leute erzählten sich, es seien Ausländer gewesen,
möglicherweise Kuwaitis. Vielleicht hätten sie das aus Rache getan,
wer weiß. Überall Gerüchte, Augenzeugen sind rar.
Ein Blick durch die Tür der deutschen Bibliothek bestätigt die
schlimmsten Befürchtungen. Ein weißer Ascheteppich liegt auf dem
Boden, die Regale sind leer und verbrannt, kein einziges Buch
ist mehr erhalten. »Die Bibliothek gibt es seit Gründung dieser
Fakultät vor 50 Jahren«, sagt Dr. Fuad und blickt ratlos auf den
Boden. »15.000 Bücher gab es hier, viele haben wir von deutschen
Freunden bekommen.«
»Es gibt einen Krisenstab im Außenministerium in Berlin«, macht
Professor Sommerfeld seinen Kollegen Mut. »Wollen wir hoffen«,
lächelt Dr. Fuad etwas gequält. »Es gibt hier viel zu tun.« Dann
zeigt er sein Arbeitszimmer, in dem er in den vergangenen Jahren
so manchen deutschen Journalisten begrüßte. »Wir haben schon auf-
geräumt«, sagt er in den leeren Raum mit ein paar zerbrochenen
Möbelstücken hinein. »Sie wissen ja selbst, wie es hier früher
aussah.«
»...jedenfalls nicht an unserer Kultur«
Dr. Ghazi ist weniger gelassen als sein Kollege: »Warum haben die
Amerikaner dieses Gelände nicht mit einem Panzer abgesperrt, als
sie einmarschierten«, fragt er vorwurfsvoll. Das Ölministerium
hätten sie ja sofort gefunden und gut abgesichert. »Das zeigt doch,
woran die Amerikaner hier interessiert sind, jedenfalls nicht an
unserer Kultur.«
Zwischen dem 7. und 9. April gab es offenbar auch heftige Kämpfe
in der Nähe des Irakischen Nationalmuseums, berichteten Augenzeugen
gegenüber Professor Sommerfeld, der Bagdad und Irak wie kaum ein
anderer kennt. In den letzten 20 Jahren hat er oft über Monate
hier gearbeitet, vieles, was im Nationalmuseum ausgestellt war, hat
der Altorientalist »selber mit ausgegraben«. Plünderer räumten das
Gebäude zwischen dem 10. und 12. April offenbar gezielt aus, während
USA-Soldaten zugeschaut hätten.
Lässt sich dieser Vorwurf belegen? Professor Sommerfelds Zeugen sind
Mitarbeiter des Museums, die mehrfach die Soldaten zum Einschreiten
gegen die Plünderer aufgefordert hätten - ohne Erfolg. »Das ist nicht
unser Auftrag«, lautete die lapidare Antwort. Inzwischen allerdings
sei das Museum wohl das »am besten gesicherte Museum der Welt«,
scherzt Sommerfeld mit Galgenhumor. Selbst die Angestellten kämen
nur nach scharfen Ausweis- und Taschenkontrollen auf das Gelände.
Die beißen die Zähne zusammen angesichts solcher Demütigung.
»Was sollen wir tun«, sagt eine pensionierte langjährige Mitar-
beiterin schulterzuckend mit Tränen in den Augen. Sie ist
gekommen, um beim Aufräumen zu helfen, doch genannt werden möchte
sie nicht. »Ich bin nicht befugt, Interviews zu geben«, sagt sie
leise. Der schneidige Leutnant Bogdanus von der US-Armee beantwortet
dafür umso ausdauernder die Fragen der Journalisten. Passt ihm
eine Frage nicht, hält er einfach das Mikrofon zu. Der mit einer
beeindruckenden öffentlichen Entschuldigung versehene Rücktritt
von drei Kunsthistorikern in Washington, die Präsident Bush vor dem
Krieg in Sachen »Schutz irakischer Kulturgüter« beraten hatten, gehe
ihn nichts an, macht er deutlich und springt nervös zwei Schritte
vom Mikrofon zurück.
Bogdanus leitet die Untersuchungskommission der US-Army, die nach
den Plünderungen eingerichtet wurde. »Wir haben die fehlenden
Stücke aufgelistet und Fotos veröffentlicht«, erklärt Bogdanus.
Diese Fotos seien an Kunstmuseen und Sammler, an die Zollstellen
der Nachbarländer Iraks, an internationale Flughäfen in aller
Welt weitergeleitet worden. Hunderte von Tätern hätten ihre Beute
zurückgebracht, nachdem die US-Militärverwaltung eine Amnestie
ausgerufen hätte, so der Militärsprecher. »Ungefähr 500 Kisten
mit Manuskripten und Dokumenten« seien aufgefunden worden und die
»zwischen 600 und 700 sichergestellten« Kleinode können an diesem
Tag erstmals in einem Nebengebäude des Museums betrachtet werden.
Der Raum ist abgedunkelt, auf einem großen ovalen Tisch stehen
und liegen nebeneinander kleine Gottesfiguren aus Ton oder Stein,
Schmuckstücke, Rollsiegel. Im angrenzenden Nebenraum kampieren US-
Soldaten auf Feldbetten, einige Computer sind aufgestellt, Cola-
büchsen und sonstige Nahrungsmittel stapeln sich in einer Ecke.
Mit den Vorgängen während der Plünderungen sei man nicht befasst,
so Leutnant Bogdanus. »Unser Mandat ist nicht festzustellen, wer
Schuld an den Vorgängen hatte. Wir sind hier, um das Museum zu
schützen und weitere Plünderungen zu verhindern.«
Die Informationen über die Verluste seien zunächst sehr wider-
sprüchlich gewesen, sagt Professor Sommerfeld. Drei Mal war er im
Irakmuseum, um sich von den tatsächlichen Schäden so gut es geht
zu überzeugen. »Die Inventare sind im Wesentlichen noch vorhanden,
man kann den Bestand weitgehend rekonstruieren.« Zum Glück sei
nicht wie in der Bagdad-Universität alles verbrannt worden, sagt
er. Glück im Unglück also? Das kulturelle Gedächtnis Iraks sei
zwar nicht, wie zunächst befürchtet, vernichtet worden, doch habe
es »ungeheure Schäden erlitten«, seufzt Sommerfeld. Nicht alles
sei verschwunden, doch was eine Kulturnation ausmache - Biblio-
theken, Museen, Archive - sei »entweder vollständig zerstört oder
stark verwüstet und es wird noch sehr, sehr lange dauern, bis man
überhaupt etwas wieder davon aufbauen kann«.
Herr Kamil ist scheinbar ungerührt
Auch die Nationalbibliothek, Beit al Hikma, das Haus der Bücher,
wurde zwischen dem 7. und 9. April gewaltsam geöffnet, geplündert
und zerstört. Vieles soll auch verbrannt worden sein, hieß es in
Medienberichten, doch zu sehen ist das nicht. Das zentrale Gebäude
ist gesperrt, sagt Herr Kamil, der seit 20 Jahren über die Ordnung
in dem Gebäude wacht. Zivilisten hätten zunächst versucht, das
Gebäude und die Bücher zu schützen. Viele Angestellte seien, wie
er selber auch, während des Krieges nicht in Bagdad gewesen.
Kamil schätzt, dass 50 Prozent der zum Teil Tausende von Jahren
alten Dokumente und Bücher vernichtet worden seien. Zerstörungen
durch Krieg seien normal, meint er scheinbar ungerührt. Doch
warum verbrennen Leute eine Bibliothek? »Ich weiß nicht, wer das
getan hat, aber es waren auf jeden Fall Kriminelle«, meint Herr
Kamil. Seiner Meinung nach habe es eine Entscheidung gegeben, alles
Wertvolle in Irak zu zerstören. Und dann fügt er hinzu, was viele
Iraker in diesen Nachkriegstagen sagen: »Bisher haben wir Demokratie
und Freiheit noch nicht kennen gelernt, doch vielleicht werden wir
es ja eines Tages noch erleben...?«
Aus: Neues Deutschland, 31. Mai 2003
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