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Importierte Not

Kriege und UN-Sanktionen prägen seit 1980 den Irak. Natur und Bevölkerung haben darunter schwer zu leiden

Von Karin Leukefeld *

Das Gebiet des Irak umfaßt etwa 434393 Quadratkilometer, grenzt an die Türkei, Syrien, Jordanien, Saudi-Arabien und Kuwait. Die längste Grenze hat der Irak mit dem Iran im Osten. Aktuelle Daten über die Bevölkerungszahl sind nicht bekannt; man geht von etwa 28 Millionen Irakern aus, von denen mehr als 75 Prozent in Städten leben. Die Sommer sind mit mehr als 50 Grad Celsius sehr heiß und trocken, die Winter können sehr kalt werden. Südlich der nordirakischen Städte Mossul oder Suleymania ist Schnee allerdings sehr selten. Die Berge im kurdischen Norden steigen bis auf über 3500 Meter an; 57 Prozent im Nordwesten sind mit einem Wüstenplateau bedeckt, das an der Grenze zu Syrien bis zu 1000 Meter ansteigt. Steppen dienen den Kamelherden der Nomaden im Süden des Landes als Futterplatz, die fruchtbaren Ebenen und Sümpfe zwischen Euphrat und Tigris mit den Städten Amara, Nasiriya und Basra bilden das klassische Zweistromland oder auch »Mesopotamien«, aus dem der Zusammenfluß von Euphrat und Tigris, der Schatt al-Arab, in den Persisch-Arabischen Golf fließt.

Über Jahrtausende galt der Irak wegen seiner vegetativen Vielfalt und seines Wasserreichtums als außergewöhnlich ertragreich. Er war Teil des »fruchtbaren Halbmonds«, der sich vom Persisch-Arabischen Golf bis hoch in die Osttürkei und über die Levante am Mittelmeer bis hinunter ins südliche Ägypten zog. Vor mehr als 10000 Jahren entstand in Mesopotamien die erste bekannte Hochkultur, in der nicht nur Land- und Viehwirtschaft entwickelt wurden, sondern auch soziales, kulturelles, politisches und wissenschaftliches Leben entstand. Die große Erfahrung in Land- und Viehwirtschaft eines heißen, aber wasserreichen Gebietes bescherte dem Irak eine reiche Artenvielfalt, die allerdings nicht systematisch erfaßt wurde. Mehrfach mahnte das UN-Umweltprogramm (UNEP), der Irak verfüge über keine Naturschutzgesetze, tue nichts zum Erhalt seines Ökosystems und habe sich nicht dem Schutz der Feuchtgebiete von internationaler Bedeutung angeschlossen. Der Irak hat weder die Konvention zum Schutz der Biodiversität (1992) noch die Konvention zur Erhaltung der wandernden wild lebenden Tierarten (1979) unterzeichnet.

Kriege und UN-Sanktionen

Um die Umweltsituation im Irak heute zu verstehen, bedarf es eines Blicks zurück. In der Zeit, in der andere Staaten sich mit dem Erhalt von Umwelt und Natur befassen konnten und Konventionen beschlossen, herrschte im Irak Krieg: 1980--1988 zwischen Iran und Irak, mit Zustimmung und Unterstützung des Westens; 1990/91 folgte der Einmarsch in Kuwait, von wo der Irak von einer internationalen Staatenallianz unter US-Führung verjagt wurde. Ein striktes Sanktionsregime der Vereinten Nationen strangulierte das Land 13 Jahre lang (1990--2003), was aber nicht verhinderte, daß der Irak mehrmals von US- und britischen Kriegsschiffen und der Luftwaffe beider Aggressoren angegriffen wurde. Fast täglich wurde zudem in den einseitig von den USA, Frankreich und Großbritannien erklärten »Flugverbotszonen« im Norden und Süden Iraks -- angeblich eingerichtet zum Schutz verfolgter Kurden und Schiiten -- bei Dutzenden von Angriffen nicht nur die völkerrechtlich dem Irak zustehenden Verteidigungsanlagen, sondern auch Viehhirten, Herden und Bauern bei der Ernte getroffen.

Der Irak war ein geächtetes Land, dämonisiert, international isoliert und per UN-Sicherheitsratsresolution 705 (15.8.1991) dazu verurteilt, mit 30 Prozent seines jährlichen Erdöleinkommens Kuwait, Konzerne und Geschäftsleute zu entschädigen, die Verluste bei der Invasion 1990 geltend machten. Während dessen trockneten die Seen, Flüsse und Sümpfe in Irak weiter aus, verrotteten das Kanalisationssystem und die Elektrizitätswerke, versalzten weite Flächen im Schatt-al-Arab-Delta, fehlten in Krankenhäusern lebenserhaltende Beatmungsgeräte und Medikamente, mangelte es an gesunder Nahrung und vielem mehr. Im Juli 1995 erklärte eine Delegation des Ernährungsprogramms der Vereinten Nationen (FAO) nach einem Besuch im Irak, daß die Kindersterblichkeit pro Jahr bei 567000 toten Kindern unter fünf Jahren läge - als Folge des UN-Embargos.

Umweltschutz ist teuer. Ein Land, das im Kriegszustand und international geächtet ist, kann die Umwelt nicht schützen, und internationale Hilfestellung gab es nicht. Soviel zum Zustand von Mensch und Natur im Irak, als die USA 2003 erneut angriffen und das Land in ein bis heute anhaltendes Chaos stürzten.

Nur wenige Tage nach dem »Ende« des Krieges, am 25. April 2003, meldete sich UNEP erneut zu Wort und erklärte, »daß sich durch die kriegsbedingten Schäden im Abwasser- und Elektrizitätssystem gepaart mit der zunehmenden Verschmutzung die Umweltsituation im Irak verschlechtert« hätte. Auch die Gesundheit der Bevölkerung sei »in Mitleidenschaft gezogen«. Daher empfehle man »dringend«, das Wassersystem und das Kanalisationsnetz wiederherzustellen, »stark verschmutzte Regionen« müßten gesäubert, Müllberge und medizinischer Abfall entfernt werden. Nur so könne man das Risiko einer Epidemie reduzieren. UNEP machte außerdem den Vorschlag, »Risikoerhebungen in jenen Gebieten durchzuführen, die von DU-Munition (DU, abgereichertes Uran) betroffen wurden«. Die irakische Bevölkerung solle informiert werden, wie ein Kontakt mit abgereichertem Uran verhindert werden könne. Ein zynischer Vorschlag, denn die Folgen der DU-Munition, die während 13 Jahren UN-Sanktionen im Westen meist als »Propaganda« abgetan worden waren, hatten die Menschen längst erreicht. Für den Leiter einer eigens eingerichteten UNEP-Untersuchungsgruppe, Pekka Haavisto, waren 2003 die »Umweltprobleme im Irak so alarmierend, daß (...) ein Säuberungsplan dringend notwendig« erschien. Nur wenn die Umwelt in alle Wiederaufbaupläne komplett integriert würde, könne sich laut Haavisto das Land wieder nachhaltig erholen.

»Was für die Umwelt beim Wiederaufbau getan wird?« Ungläubig wiederholt Rafid H., ein Freund aus Bagdad, am Telefon die ihm gestellte Frage. »Du meinst frische Luft, frisches Wasser und so weiter? Vergiß es.« Er könne aber eine andere Geschichte erzählen, die zeige, was Irak zu bieten habe. Eine Firma habe eine der größeren Straßen in seiner Nachbarschaft aufgerissen. Das Wasserministerium hatte einen Auftrag für neue Kanalisation erteilt, alle warteten gespannt und freuten sich auf die neuen Wasserleitungen. Das sei zwei Jahre her, seitdem sei die Straße eine Baustelle, nichts passiere, nicht ein Arbeiter tauche dort mehr auf. »Die Firma steckte sich das Geld ein und verschwand, so läuft das hier. Ein Auftrag im Wert von 10000 US-Dollar wird mit 100000 US-Dollar gehandelt, weil alle möglichen Leute daran verdienen wollen. Und die Arbeit wird trotzdem nicht gemacht.« Dabei gäbe es eine Menge zu tun.

Verwüstung und Versalzung

1948 bedeckten Laubbäume mehr als vier Prozent des Landes, 1990 war der Bestand auf nur noch 0,2 Prozent zurückgegangen. Die drastische Reduzierung ist zwar auch auf Klimawandel und mangelnden Niederschlag zurückzuführen, doch die Kriege haben erheblich dazu beigetragen. Während im Norden der Laubwald zerstört wurde, litten im Süden vor allem die Dattelpalmenwälder. Luftangriffe wurden mit und ohne Giftgas geflogen, die Front verlagerte ständig den Verlauf, und es wurde sogar der Befehl erteilt, Dattelpalmen zu fällen, um für den Kampf freies Blick- und Schußfeld zu haben. Weite Flächen verbrannter Palmstümpfe stehen bis heute wie ein Mahnmal entlang des Schatt al-Arab.

Die südirakischen Sumpfgebiete (Arab Mar­shes) sind eines der größten Feuchtgebiete weltweit und waren über Jahrtausende ein einzigartiger Lebensraum für Menschen, Pflanzen und Tiere. Hier lebten die Ma'daner, Marschland­araber, deren aus Schilf geflochtene Häuser auf die Sumerer zurückgehen, die im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zwischen Euphrat und Tigris siedelten. Die Sümpfe dienen Zugvögeln aus Europa, Afrika und dem südlichen Asien als Ruheplatz. 1972 wiesen die Sümpfe nach offiziellen irakischen Angaben eine Wasseroberfläche von 8350 Quadratkilometern aus.

Satellitenbilder, die von UNEP veröffentlicht wurden zeigen, daß die Sumpf- und Seenlandschaften um den Schatt al-Arab in den vergangenen 30 Jahren um bis zu 90 Prozent geschrumpft sind. Als Verursacher für die Austrocknung wurde Saddam Hussein verantwortlich gemacht. Er habe die Region trockengelegt, um aufständischen Schiiten, die dort Schutz gesucht hätten, das Rückzugsgebiet zu entziehen, und habe Umsiedlungsmaßnahmen im großen Stil angeordnet. Tatsache ist, daß es seit den 1970er Jahren Umsiedlungen gegeben hat und daß der Bau von Bewässerungskanälen, Straßen und kleineren Dämmen die Wasser der Sumpfgebiete um- und abgeleitet haben. Gleichzeitig entstanden neue Siedlungen sowie landwirtschaftlich und wirtschaftlich nutzbare Flächen. Inwieweit diese Baumaßnahmen tatsächlich für die Austrocknung der Sümpfe verantwortlich sind, müßte wissenschaftlich untersucht werden.

Verantwortlich ist auf jeden Fall der mangelnde Niederschlag in der Region, was Euphrat und Tigris, die die Sümpfe mit Wasser versorgten, von Jahr zu Jahr mehr austrocknete. Das gigantische südostanatolische Staudammprojekt GAP -- für das im Südosten der Türkei, in den kurdischen Gebieten, seit mehr als 20 Jahren Staudämme und -seen gebaut bzw. angelegt worden sind -- hält viel Wasser für die Energiegewinnung oder Bewässerung riesiger Landwirtschafsprojekte zurück. Das schadet nicht nur dem Irak, sondern auch Syrien, das auf das Euphrat-Wasser für die eigene Landwirtschaft dringend angewiesen ist. Ebenso baute der Iran Dämme und lenkte Wasser des Flusses Karkhar um, der die Sümpfe von iranischer Seite her speiste.

Nach dem vom US-Präsidenten George W. Bush erklärten Kriegsende im April 2003 kam es nach Einschätzung irakischer Experten zu willkürlichen Dammzerstörungen, um die »von Hussein ausgetrockneten Sümpfe« wieder zu fluten. Finanziert wurden die medienwirksamen Maßnahmen zumindest teilweise mit zehn Millionen Dollar der staatlichen US-Entwicklungsorganisation USAID. Das Ministerium für Wasserressourcen verhinderte schließlich weitere Dammbrüche, die Regierung stellte Gelder zur Verfügung, es entstanden eine Fischfarm, ein Wasserbüffelprojekt, ein Forschungszentrum zum Reisanbau, und Beratungs- und Fortbildungsmaßnahmen für wasserwirtschaftliche Fachkräfte wurden organisiert. Das Umweltschutzministerium träumt inzwischen von einem Nationalpark, doch noch sind die Kriegsschäden nicht beseitigt. Die Wasserversorgung Iraks -- nicht nur im Süden -- ist weitgehend lahmgelegt. Der ständige Elektrizitätsmangel hatte ein weitverzweigtes und notwendiges Pumpensystem beschädigt, das nicht nur Abwasser entsorgen, Kläranlagen betreiben und frisches Wasser pumpen mußte, sondern auch Salzwasser von Bewässerungsfeldern im Süd­irak entfernen sollte. Als Ergebnis liegen heute weite Landflächen in und um Basra unter Wasser mit sehr hohem Salzgehalt.

Uranverseuchte Regionen

Mindestens ebenso wichtig wie das fehlende Wasser ist die weitreichende Verseuchung des irakischen Erdreiches. Die Kriege haben Landminen, Blindgänger und abgereichertes Uran hinterlassen, das längst in den Nahrungskreislauf eingedrungen ist und zu einer steigenden Zahl von Krebserkrankungen sowie zu Mißbildungen bei Neugeborenen führte. Offiziell wird das Problem kaum thematisiert. Es ist weder bekannt, ob wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt werden, noch, ob die Kennzeichnung der betroffenen Gebiete und ihre Entgiftung vorbereitet werden. Zu klären wäre auch, wer die Kosten trägt und wie und durch wen die Betroffenen entschädigt werden.

Schon 1994/95 waren Medizinern an den Krankenhäusern von Basra die hohe Zahl an Mißbildungen bei Neugeborenen und eine steigende Krebsrate bei Babys aufgefallen. Untersuchungen ergaben, daß weite Teile der südirakischen Provinzen Basra, Muthanna, Maysan und Dhiqar verstrahlt waren. Mindestens 400 Tonnen DU-Munition waren bei den alliierten Bombenangriffen von britischen und US-Truppen im Februar 1991 gegen die sich zurückziehende irakische Armee eingesetzt worden. Untersuchungen an Wracks der Militärfahrzeuge und Bodenproben belegten die Strahlung. Wegen Geldmangel konnten die Iraker nicht, wie später die US-Armee, ihre kontaminierten Panzerwracks entsorgen. Teile davon landeten -- aus Unwissenheit, Geldmangel oder beidem -- auf örtlichen Märkten und in Werkstätten. In Basra schätzten Ärzte schon vor 2003 die Krebserkrankungsrate bei der Bevölkerung auf 45 Prozent. Ganze Familien litten darunter: junge Mädchen mit Brustkrebs, manche Patienten wiesen zwei verschiedene Arten von Krebs auf, Kinder litten an Leukämie, Knochenkrebs hatte enorm zugenommen. Ein unabhängiger Bericht der Weltgesundheitsbehörde (WHO) wurde bis heute nicht vom UN-Sicherheitsrat genehmigt. Eine inoffizielle Untersuchung der WHO-Mitarbeiter im Irak war offenbar so brisant, daß sie unter Verschluß genommen wurde.

Die Auswirkungen der DU-Verseuchung gehen weit über den Irak hinaus, denn starke Wüstenstürme werden das Gift in die südlichen Nachbarländer, Kuwait, Saudi-Arabien und die Emirate getragen haben. Und es gab Unfälle, wie in dem US-Militärcamp Doha in Kuwait 1991. Anfang 2008 wurden mit Druck des Emirats Kuwait von dort 6700 Tonnen DU-verseuchter Sand in Säcken verpackt in 306 Containern per Schiff in den Hafen von Longview am Columbia-Fluß (Washington State/USA) transportiert, wo er Ende April 2008 eintraf. Die strahlende Fracht wurde per Güterzug zu einer Deponie der Sondermüllfirma American Ecology transportiert, die seit 1952 für US-Regierung und -Industrie radioaktiven und giftigen Müll wegräumt. Fast 19 Prozent Gewinnanstieg brachte das dem Konzern gegenüber dem Vorjahresvergleich im 1. Quartal 2008. Der Sand war 17 Jahre vorher verstrahlt worden, als in der Militärbasis ein Feuer ausbrach, erklärten Armeesprecher gegenüber der Tageszeitung Daily News in Longview.

Die Verseuchung durch Landminen und Blindgänger aus den genannten Kriegen stellt ein weiteres Problem dar. Betroffen sind vor allem Zivilpersonen, Kinder, Menschen in Dörfern und Einzelgehöften, Bauern, Nomaden und Viehhirten. Vor 2003 wurden von internationalen Organisationen vor allem in den kurdischen Provinzen des Nordirak (Dohuk, Erbil und Suleymania) Minen geräumt. Nach 2003 entstand die Nationale Minenaktionsbehörde (NMAA) in Bagdad, die die Arbeit regionaler Zentren in Erbil (Nordirak) und Basra (Süden) koordinierte, ausgestattet mit einem Jahresetat (2007) von knapp 20 Millionen US-Dollar. Eine Untersuchung ergab, daß die am stärksten minenverseuchten Gebiete sich über Hunderte Kilometer entlang der iranisch-irakischen Grenze erstrecken, ein Erbe des Iran-Irak-Krieges, aber auch interner Streitigkeiten zwischen den kurdischen Fraktionen im Norden (1994/96), grenzübergreifender Angriffe der Türkei und des Iran (gegen die Arbeiterpartei Kurdistans PKK) und von Stammesfehden. Hinzu kommen Minen, Streubomben und Raketen entlang der irakisch-saudischen Grenze aus den Jahren 1990/91 und 2003. In dieser einsamen Region Südiraks, die fast ausschließlich von Nomaden mit ihren Kamelherden durchstreift wird, bedeutet nahezu jede explodierte Mine einen Toten. Jüngste Zahlen (2007) sprechen von 577 Opfern, zu denen Hunderte Minenopfer aus den früheren Jahren hinzugezählt werden müssen. Die Zahlen der durch Minen Verstümmelten liegt um ein Vielfaches höher. Die am meisten verseuchten Gebiete im Irak verteilen sich auf 13 der insgesamt 18 Provinzen des Landes, 4270 verseuchte Gebiete umfassen eine Fläche von mehr als 1700 Quadratkilometern, und 2117 Dorfgemeinschaften mit mehr als 2,7 Millionen Menschen sind davon betroffen. Das sind etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung.

Epidemien breiten sich aus

Im Juli 2008 veröffentlichte die Internationale Organisation für Migration (IOM), die seit 2003 im Irak und seinen Nachbarländern viel zu tun hat, eine knappe, aber krasse Darstellung der Lebensbedingungen, denen Iraker im 21. Jahrhundert ausgesetzt sind: Die Inlandsvertriebenen, schätzungsweise zwei Millionen Menschen, leben in »unzumutbaren Unterkünften, ohne ausreichenden Zugang zu Trinkwasser, Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung, Bildung und Strom«. 63 Prozent dieser Inlandsvertriebenen, die keine Unterstützung von Verwandten erhielten, seien mit unaufhaltsam steigenden Mieten konfrontiert und würden, weil sie diese nicht bezahlen könnten, in Lehmhütten wohnen oder in leerstehenden öffentlichen Gebäuden, in ständiger Angst, dort vertrieben zu werden. Durch den Krieg und das anschließende Chaos und die Gewalt ist die soziale Struktur völlig aus den Fugen geraten. Menschen flohen aus ihren Wohnungen, die von Wohnungslosen besetzt wurden und die heute nicht bereit sind, diese wieder zu räumen. Andere verloren Wohnungen oder Häuser durch Anschläge, Kriegshandlungen oder kriminelle Drohungen. Die während der UN-Sanktionen verteilten Lebensmittelkarten gibt es zwar auch weiterhin im Irak, doch von den Vertriebenen haben lediglich 29 Prozent Zugang zu Geschäften, in denen sie diese Karten bzw. dann auch die Lebensmittel erhalten. 41 Prozent der Vertriebenen sind auf Hilfe von religiösen und humanitären Organisationen angewiesen. Dieses Leben ist weit unter dem Lebensstandard, den die Menschen gewohnt waren und der für sie trotz UN-Sanktionen gesichert war. »Die lange Zeit der Vertreibung, finanzielle Schwierigkeiten, schlechte Ernährung, schlechte hygienische Verhältnisse wirken sich sehr negativ auf den Gesundheitszustand der Vertriebenen aus«, stellt IOM weiter fest. Hinzu kommen Angst und psychologische Traumen, die alle Iraker durch direkt oder indirekt erfahrene Gewalt, Folter und durch den Verlust von Angehörigen erlebt haben. Festgestellt wurden »Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Diabetes, Haut- und Darminfektionen, Anämie, Unterernährung«, worunter vor allem Kinder, Schwangere und alte Menschen leiden.

53 Prozent dieser Menschen holen ihr tägliches Wasser aus einem Fluß oder See in der Nähe, 52 Prozent zapfen das Wasser aus zerbrochenen Wasserleitungen ab. Die aktuellen Folgen davon sind inzwischen alljährlich bei Epidemien von Durchfallerkrankungen und Cholera zu besichtigen, die meist im Spätsommer ausbrechen und im Oktober/November ihren Höhepunkt erreichen. 2007 wurden 4000 Cholerafälle im kurdischen Nord­irak registriert, mehr als 100 Menschen starben. Die Weltgesundheitsbehörde (WHO), die nach fünf Jahren Abwesenheit von Irak -- aus Sicherheitsgründen -- erst in diesem Sommer wieder ein Büro in Bagdad eröffnete, registriert seit Wochen steigende Krankheitszahlen. Mehr als 500 Fälle gibt es inzwischen, acht Menschen sind bisher gestorben, sechs davon waren Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren.

* Aus: junge Welt, 22.10.2008


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