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Der Blutzoll Iraks steigt weiter ohne Unterlass

Im Schnitt 36 Tote am Tag – Notstand ist ein Dauerphänomen

Von Karin Leukefeld *

Irak sollte ein Meilenstein im Anti-Terror-Krieg der USA werden. Die Bilanz ist verheerend – Korruption ist Alltag, die Infrastruktur desolat und die Zahl der Opfer steigt weiter.

Die Nachrichtenagentur Reuters zählte vor wenigen Tagen die Toten in Irak seit Beginn der dort von der US-Armee geführten Invasion im März 2003: 2649 US-Soldaten, 117 britische Soldaten, 115 Soldaten anderer Nationen gehören zu den Opfern. Die Zahl der Toten beim irakischen Militär ist mindestens doppelt so hoch, sie wird mit 6370 während und nach dem Krieg angegeben – offizielle Opferzahlen aus dem Krieg 2003 existieren nicht. Den höchsten Blutzoll trägt die irakische Zivilbevölkerung – für die US-Armee aber zählt sie offenbar nicht: »We don't do body count« (Wir zählen keine Leichen), hatte sich dereinst General Tommy Franks, Chef des US-Zentralkommandos bis Juli 2003, geäußert.

Die britische Nichtregierungsorganisation »Iraq Body Count« aber zählt die Toten. Akribisch werten ihre Mitarbeiter nach wissenschaftlichen Kriterien mehr als 30 internationale Medien aus und haben kürzlich eine erschütternde Bilanz gezogen. Starben im ersten Jahr nach der Invasion (März 2003 - März 2004) noch durchschnittlich 20 Menschen pro Tag, ist die Zahl im dritten Jahr (März 2005 - März 2006) auf täglich 36 Tote angestiegen. Auf der Webseite der Organisation (www.iraqbodycount.net) wird die Tragödie präsentiert. Toter für Toter, Tag für Tag: ein Toter im Fluss bei Tikrit gefunden, ein Toter, gefesselt und geknebelt im Fluss bei Mahmoudiya gefunden, ein Toter, enthauptet, bei Beiji gefunden, zwei Tote durch Straßenbombe in Falluja, fünf Tote einer Familie durch US-Angriff in Mossul, ein Polizist erschossen im Zentrum von Bakuba. Die Gesamtzahl der in Irak seit März 2003 getöteten Zivilisten schwankt zwischen 41 639 und 46 307.

Hilflos angesichts der ausufernden Gewalt schweigt die UN-Mission in Irak in den meisten Fällen. Nur kürzlich verurteilte der UN-Sonderbeauftragte Aschraf Ghazi den »vorsätzlichen Mord« an 14 Pilgern, die auf dem Weg nach Kerbala, eine der vier heiligen Stätten der Schiiten in Irak, unterwegs waren. Unter den Toten waren fünf Frauen. Die irakischen Behörden, so Ghazi weiter, müssten die »Täter dieses Verbrechens energisch verfolgen und zur Rechenschaft ziehen.« Doch die irakischen Behörden sind selber machtlos und beugen sich, freiwillig oder nicht, den tonangebenden Milizen einzelner Parteien und Fraktionen. Wo nicht die Milizen das Sagen haben, meist aber auch dort, herrscht Korruption. Wer Angehörige sucht, geht nie zur Polizei, die im Verdacht steht, an Entführungen und Erpressung beteiligt zu sein. Fast nie werden Gewalttaten aufgeklärt. Millionen von Hilfsgeldern ausländischer Geldgeber konnten bisher weder die Wasser-, noch die Stromversorgung im Land ausreichend für alle Menschen wieder herstellen.

Aufbauprojekte sind weitgehend zum Stillstand gekommen, dafür vorgesehene Gelder werden bis zu 50 Prozent von Sicherheitsfirmen verschlungen. Im Land mit den zweitgrößten Ölvorkommen weltweit übernachten Autofahrer vor den Tankstellen, um überhaupt ein paar Liter Benzin zu bekommen. Kürzlich explodierte eine Pipeline in der südirakischen Provinz von Diwaniya, mindestens 34 Menschen kamen dabei offiziell ums Leben. Felder und Häuser verschwanden in einem Flammenmeer. Die Menschen hatten ihren Anteil vom Ölreichtum direkt abzweigen wollen, die Ursache der Explosion ist bis heute ungeklärt.

Gibt es keine gute Meldung aus Irak? Doch. Am 15. August wurde das Gefängnis in Abu Ghoreib von den US-Truppen der irakischen Regierung übergeben. Der stellvertretende Justizminister Yuscho Ibrahim fand das Gefängnis völlig leer vor. Die letzten 3000 Gefangenen aus Abu Ghoreib wurden allerdings nicht freigelassen, sondern in andere US-Militärgefängnisse verlegt. Mit 161 zu 19 Stimmen haben die Abgeordneten des irakischen Parlaments derweil den Notstand, der seit November 2005 ununterbrochen in Kraft ist, um einen weiteren Monat verlängert.

* Aus: Neues Deutschland, 11. September 2006


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